Bei der Wortprägung „Literaturstraße“ fühlt man sich selbstverständlich an die „Seidenstraße“ erinnert. Dieses Wort stammt von dem deutschen Geographen Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833-1905). Er unternahm als Europäer zum ersten Mal in den Jahren 1868-72 Forschungsreisen in China. Seine Chinareise wurde jedoch wegen der politischen Unruhen von Yi he tuan durch einen Aufenthalt in Japan 1870/71 unterbrochen. Die auf seinen Chinareisen basierende wegweisende Länderkunde China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründete Studien (5 Bde. und Atlas, 1877-1912) berücksichtigt neben der Geologie und Geomorphologie auch das Wirken des chinesischen Volkes – also keine reine physische Geographie. Betrieb er doch die Geographie vor allem als naturwissenschaftliche Disziplin vom Lebensraum des Menschen.
Der schwedische Forscherpionier Sven Hedin (1865-1952) formulierte diesen uralten Fernhandelsweg der Menschheit als „das bedeutendste Band, das es je auf Erden zwischen Völkern und Kontinenten gab“. Bruno Baumann, Autor des Buches Abenteuer Seidenstraße. Auf den Spuren alter Karawanenwege (F. A. Herbig, München 1997), schreibt in seinem Vorwort: „Im Vergleich zu ihrem Alter ist der Begriff ‚Seidenstraße’ sehr jung. Erst im letzten Jahrhundert hat ihn der Geograph Ferdinand von Richthofen in die Wissenschaft eingeführt – jener Richthofen, bei dem ein junger Schwede studierte, der bald darauf durch seine spektakulären Unternehmungen in Asiens Wüsten Furore machen sollte und erst das Interesse der Archäologen auf diese Region lenkte: Sven Hedin.“
Als Herr Professor Zhang Yushu an der Peking-Universität 1999 sein Chinesisch-deutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur mit geistig-materiellem Beistand der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ins Leben rief, hat er sich in der chinesischen Germanistik wohl in dreifacher Hinsicht verdient gemacht – vergleichbar etwa der Leistung von Sven Hedin.
Erstens hat Herr Zhang als erster Germanist rechtzeitig daran gedacht, überhaupt eine literaturwissenschaftliche Straße zwischen Deutschland und China anzubahnen. Dabei hat er hellsichtig nicht nur Sprache und Literatur, also traditionelle deutsche Philologie, sondern auch Kultur einbezogen, um die kulturwissenschaftliche Germanistik in Ostasien vorwegzunehmen. Zweitens hat Herr Zhang den manchmal mühsamen Weg der deutschen Germanistik mit verschiedenen Umwegen der methodologischen Auseinandersetzungen mit Stillschweigen übergehen gelehrt, indem er trotz allem das Übersetzen wie beispielsweise bei Schillers Werken zur Hauptaufgabe der Auslandsgermanisten machte. Denn die Übersetzung legt ihnen philologische, literaturgeschichtliche, interpretatorische und komparatistische Arbeit genug auf. Drittens hat Herr Zhang die deutsch-chinesische Literaturstraße bis nach Korea und Japan erweitert und Herrn Professor Kim Byong-Ock, Seoul, sowie mich zum wissenschaftlichen Beirat berufen. Ich bin ihm besonders dankbar dafür, daß er neben den Beiträgen chinesischer Kollegen mehrmals auch meine Aufsätze in sein Jahrbuch aufgenommen hat.
Nicht zu vergessen ist freilich, daß jede Nummer des Jahrbuchs mit finanzieller Unterstützung der Thyssen-Stifttung mit einem vorausgegangenen Symposium verknüpft war. Auch wenn es kostspielig ist, ist das eigentlich immer die beste Methode, Beiträge zu einem Sammelwerk zu sichern. Da das Symposium bisher meist in einer chinesischen Universitätsstadt stattgefunden hat, habe ich gerne daran teilgenommen. Wenn das Jahrbuch aber ab jetzt halbjährlich und elektronisch erscheinen soll, fürchte ich, daß hier beträchtliche Änderungen eintreten würden. Dafür könnte es allerdings weltweit verbreitet werden. Der vorhin genannte Bruno Baumann beschreibt die Chinesische Mauer: „Wie ein langer gezackter Drachenschweif windet sich die Große Mauer über die Gebirgslandschaft nordwestlich von Beijing.“ Wie ich sehe, ist es aber auf der Mauer immer schon über Berg und Tal gangbar gewesen. Nun könnte das von Herrn Zhang begonnene Jahrbuch anhand der neuen Medien auch nordöstlich von Beijing wirksam werden. Mit dieser Erwartung wünsche ich aufrichtig dem neuen Anfang der Literaturstraße alles Gute.