Lucia Perrone Capano
Abstract
In ihrem vielschichtigen Werk „Die Schutzbefohlenen“ verbindet Elfriede Jelinek die Tragödien, die sich im Mittelmeer wiederholen, und öffentliche Proteste von Asylsuchenden in Österreich mit einigen Motiven aus Aischylos’ Tragödie „Die Schutzflehenden“ und schafft dabei ein intermediales Geflecht, das mehrmals mit Zusatztexten erweitert wird. Der Theatertext wird von Stimmen bevölkert, die nicht auf eine Person, auf einen präzisen Ort bezogen werden können. In dieser Konfiguration nehmen in der auf der Homepage der Autorin veröffentlichten Version Fotos und Bilder eine spezielle Rolle ein. Text und Bild komplettieren sich nicht etwa gegenseitig, und die Bilder illustrieren auch nicht einfach nur die Motive des Textes. Sie breiten uns in ihrer vollen Evidenz und heraufbeschwörenden und affizierenden Macht unterschiedliche Perspektiven auf die Flucht selbst aus, auf ihre Herkunft, auf ihre Destinationen und entwickeln eine eigene visuelle Ikonographie.
Der theatralischen Illusion, dem „schönen Schein“ setzt Elfriede Jelinek seit geraumer Zeit ein Theater der Sprache1 entgegen, welches eine Stimmenvielfalt, eine Heterophonie fließen und interagieren lässt, in dem Diskurse aus der Zeitgeschichte, aus Literatur und Mythos usw. aufgerufen und miteinander verflochten werden. Ein tiefgreifender Zusammenhang verbindet auf gegenseitige und nicht etwa zufällige Art und Weise sprachliche Anordnungen mit sozialen Strukturen, kommunikativen und kulturellen Prozessen. Zeigt sich das theatralische Schreiben gekennzeichnet durch ein fortwährendes sprachliches Experimentieren und eine Kontamination, die nicht vor dem Gebrauch auch noch so ungleicher Materialien Halt machen, ist das Sprachspiel niemals Selbstzweck, sondern enthält stets eine soziale Anklage und ist niemals definitiv. Jede Äußerung kann sich – in ironischer, tragischer, satirischer, verfremdender Weise – in ihr Gegenteil umkehren, oder sich in eine unvorhergesehene Richtung weiter entwickeln. Der Sinn besteht nicht darin, eine angenommen ursprüngliche oder wirklichere Wahrheit zu enthüllen, sondern den sprachlichen und sichtbaren Raum des dramatischen Textes unsicherer und instabiler zu machen, den der Leser/Zuschauer in andere Signifikanten-Ketten umorganisieren könnte oder müsste. Wie es sich auch in ihrem vielschichtigen Werk Die Schutzbefohlenen2 zeigt, das die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer und öffentliche Proteste von Asylsuchenden in Österreich mit Motiven Aischylos’ Tragödie Die Schutzflehenden verwebt, kann der Text erweitert oder geöffnet werden, ohne voraussehbaren Abschluss.
Im Sinne eines postdramatischen Theater3 lehnen die Texte Jelineks immer mehr eine Dramaturgie ab, welche auf Einheit von Körper und Stimme, auf der Entwicklung der dramatischen Aktion und auf dem Dialog basiert: „[…] ein Sprachspektrum, in dem man die Zwischentöne des Rollentausches, des Perspektivwechsels, der Positionsveränderungen feiner hörbar machen kann als in einer mir grob erscheinenden dialogischen Struktur, in der eine Person etwas vertritt, eine andere etwas dagegensetzt“4. In Bezug auf den Schauspieler, der eben nicht mehr eine Person verkörpern soll und dessen mimisch-gestisches Agieren von seinem Sprechen unabhängig ist, sagt die Autorin entschieden: „Ich möchte nicht sehen, wie sich in Schauspielergesichtern eine falsche Einheit spiegelt: die des Lebens. Ich will nicht das Kräftespiel dieses ‚gut gefetteten Muskels‘ (Roland Barthes) aus Sprache und Bewegung – den sogenannten ‚Ausdruck‘ eines gelernten Schauspielers sehen. Bewegung und Stimme möchte ich nicht zusammenpassen lassen“5.
Der Theatertext wird von Stimmen bevölkert, die nicht auf eine Person, auf einen präzisen Ort bezogen werden können, er wird als „kontrapunktisches Sprachgeflecht“6 aufgebaut, in dem das „Rauschen der Sprache“7 ertönt und eine Polyphonie, die den Sinn nicht zerstört, aber unsicherer macht, und somit auch das Zuhören problematisiert. Trotzdem bleibt diese Wortkunst intrinsisch theatralisch, insofern, als sie als eine Kunst des Zeigens, des Inszenierens fortbesteht8. So komponiert Jelinek im Schreiben gegen das Theater und für ein anderes Theater Stücke, die die Materialität der Sprache spürbar machen und den Text als Klangkörper vibrieren lassen. Die inszenierte9 Präsenz nimmt den Platz der Aufführung ein, ist der performative Akt, der sich auf verschiedene Art und Weise realisieren kann. Der Sprachdynamik in Jelineks Werken mit ihrem steten Aufeinanderfolgen von Themen und Sprachformen reicht es nicht, sich als neue Form darzustellen – sie möchte in das Weltgeschehen eingreifen und es verändern.
In diesem Theater der Stimmen ist die Sprache „das dramatische Ereignis“10, das sich im präsenten Moment in seiner theatralischen Dimension11 realisiert und in der Konfiguration des Diskurses Formen annimmt. In Folge dessen wird der Diskurs selbst zum Körper. Das Sprechen entwickelt sich autonom auf der Bühne, wenn die Figuren zu „Sprachmaschinen“12, zu „Sprache, die spricht“13 werden. Das Theater gleicht somit einem akustischen Raum, in welchem, wie man auch in Die Schutzbefohlenen feststellen kann, die Stimmen zuweilen einen Chor aus Stimmen und Gegenstimmen14 zu formen scheinen, als Ausdruck der Flüchtlinge, aber auch der Angst vor den Flüchtlingen. Dabei wird all die Macht und Ohnmacht der Sprache aufgezeigt, insofern, als das „Wir“, das sich hier als Chor ausdrückt, keine autonome Instanz darstellt, die ihre Sprache behauptet, sondern die Spannung derjenigen Stimmen einfängt, die begreifen, dass ihre Geschichte, die sie erzählen wollen, letztendlich nicht zählt („nichts und niemand nimmt uns auf, das ist unerhört! Und unerhört bleiben auch wir“, S, 4). Das Theater Jelineks bietet sonach auch denjenigen, die keine Stimme haben, Raum, Körper und dramatische Stimme, aber gleichzeitig lässt es, indem es den Figuren eine individualisierbare und identifizierbare Dimension verweigert, das Kollektiv sprechen, in welchem auch die Stimme der Autorin auftaucht und teilnimmt, sich einmischt, sich inszeniert und sich hörbar machen will15.
„Hauptsache, wir leben. Und viel mehr ist es auch nicht als leben“
Die Schutzbefohlenen zwischen Europa-Österreich und dem Mittelmeer
In Die Schutzbefohlenen16 ertönen die unbestimmbaren Stimmen derjenigen, die, dem Schiffbruch auf dem Mittelmeer entkommen, in Europa-Österreich Schutz erbitten. Die Stimmen erheben sich folglich aus der brennendsten Aktualität und verbinden sich mit einer exemplarischen, mythischen Vergangenheit, die der Aischylos’ Schutzflehenden [Hikétides], indem sie Fragen stellen und Europa und Österreich ihre Anwesenheit aufzwingen. Gelten die in der Verfassung verankerten Gastrechte noch für die Flüchtlinge, die den Stürmen des Mittelmeers entkommen sind, einem Meer, das in den Texten Jelineks eine immense Masse alles durchdringenden Wassers darstellt, das verschlingt und tötet, das aber in den Worten der Ertrinkenden und in den Fotos des Textes, weiterhin als blaue Weite bezeichnet wird („das Meer tiefblau“; „Da war das Meer noch blau, und tief dagegen“)17? Diese Präsenzen ohne Namen, die das Mittelmeer überqueren und sich dort verlieren, verwandeln es in eine spektrale Spiegelung des modernen Europas, in seine irrationale Gegenseite, welche die Unordnung birgt, die Verletzung der Grenzen, mit einem verwirrenden Anklang an antike, glorreiche Mythen des „erfindungreiche[n] Odysseus“ (C, 89) oder des so beweinten Hektors (C, 93), oder wiederum an das sinnlos erbrachte Opfer – bei Jelinek grotesk verzerrt – neuer unschuldiger junger Menschen („Vielleicht ein kleines Opfer? Opfer gefällig? Wir wollen keine Opfer werden, aber vielleicht dieses Mädchen dort, das grade so eine schöne Zeichnung macht?“, C, 94).
Was ist passiert? Was passiert gerade zwischen dem Mittelmeerraum und Österreich, in Europa? Im Dezember 2012 besetzen einige Dutzend Flüchtlinge im Aufenthaltsgenehmigungsverfahren die Votivkirche von Wien, die eine der wichtigsten katholischen Kultstätten der Stadt darstellt, um auf ihre verzweifelte Situation aufmerksam zu machen. Die Mehrheit von ihnen riskiert ihr Leben, sollte sie in ihr Herkunftsland zurück geschickt werden. Viele von ihnen werden dennoch abgeschoben. Der politische Zusammenhang, aus dem heraus der Text Jelineks entsteht18, ist genau dieser Flüchtlingsprotest mit der Besetzung der Kirche (wie man auf einem in den Online-Text19 eingefügten Foto sehen kann) – mit der Kultstätte20 als Flüchtlings-Refugium par excellence –, wo die Flüchtlinge gegen die unmenschlichen Verhältnisse in einem österreichischen Auffanglager in Traiskirchen protestieren. Darauf folgt ein Hungerstreik, eine Zwangsräumung in das Servitenkloster in Wien Alsergrund, und dann Abschiebungen. Ein Szenario, das sich wiederholt, und, wie die aktuelle Nachrichtenlage zeigt, sich bereits an anderen Orten wiederholt hat. Der Text Jelineks wird dann 2013 (in Form einer Lesung) von der Gruppe Lampedusa in Hamburg21 als ‚Migranten-Text‘ inszeniert, der Flüchtlinge und deren Performance in die der professionellen Akteure integriert. Wie man genau weiß, werden kurz darauf Hunderte von weiteren Afrikanern bei ihrem tragischen Versuch, Europas Küsten zu erreichen vor Lampedusa ertrinken22. In Folge der Flüchtlingstragödie von Lampedusa überarbeitet Jelinek ihren Text ein weiteres Mal. Er wird danach, wie es inzwischen für die Autorin üblich ist, auf ihrer Internet-Plattform veröffentlicht, und zwar unter vier Daten, welche die Eingriffe chronologisieren: 14.6.2013 / 8.11.2013 / 14.11.2014 / 29.9.2015. Daraufhin werden dem Stück zwischen 2015 und 2016 andere Zusatztexte hinzugefügt: Appendix, Coda, Europas Wehr. Jetzt staut es sich aber sehr! (Epilog auf dem Boden), Philemon und Baucis. Jelinek verfasst Die Schutzbefohlenen somit als Reaktion auf das, was in Wien geschehen ist und weiterhin in Europa im Allgemeinen geschehen wird und richtet ihren polemischen Blick auf die Asylpolitik europäischer Länder wie Österreich, welche Verzweifelte sterben lassen und gleichzeitig im Blitzverfahren Aufenthaltsgenehmigungen an Persönlichkeiten aus dem Showgeschäft vergeben, da diese im Stande sind, dafür zu bezahlen. Sie verbindet darüber hinaus die Tragödien, die sich im Mittelmeer an den Grenzen der europäischen Union wiederholen mit einigen Motiven aus Aischylos‘ Tragödie Die Schutzflehenden23 und schafft so ein neues intermediales Geflecht mit offener und mehrschichtiger Perspektive. Am Ende des Stückes, das aus einem engen Gefüge von Intertexten geschaffen ist, werden vier Quellen zitiert:
„Aischylos: ‚Die Schutzflehenden‘
Bundesministerium für Inneres, Staatssekretariat für Integration: ‚Zusammenleben in Österreich‘24
Ovid: ‚Metamorphosen‘
Und eine Prise Heidegger, die muß sein, denn ich kann es nicht allein“ (S.60) 25
Die Schutzbefohlenen könnte man demnach auch als „Sekundärdrama“26 bezeichnen (ein dem „Parasitärdrama“27 ähnliches Konzept der Autorin), als eines, das dem klassischen Drama folgt und dieses aktualisiert, komplettiert oder ihm widerspricht bzw. es vereitelt. Es handelt sich, so könnte man sagen, um eine extreme Form der Intertextualität, die auch die Montage-Technik betrifft – schon immer von der Autorin praktiziert –, welche unterschiedliche Diskurse verbindet, indem sie sie gegenüberstellt, aber auch abändert. Die Flüchtlinge werden so, ohne es zu wollen, ebenso Stimmenträger von antiken Mythen, von uneigentlichen Diskursen und von den Mythen von heute, mit andersartig und oft feindlich anmutenden Sätzen. Diese Menschen, die von einem Meer kommen, das omnipräsent zu sein scheint, haben keinen festen Boden, auf den sie ihre Füße stellen könnten. Es bleibt nur der „kalte Kirchenboden“ der Votivkirche („Wir legen uns auf den kalten Kirchenboden“, S. 2) oder das „bodenlos[e]“(S, 50) Meer ohne Grund, aus dem sie gerettet wurden. Das Recht, den Boden „Heimatland“ zu nennen, das ihnen, da sie mittellos sind, verweigert wird, kann man allerdings erkaufen, wie es im Fall der in extremer Schnelligkeit gewährten Einbürgerung Anna Netrebkos geschieht, oder wie bei der Tochter Boris Jelzins, Tatjana Jumaschewa, auf die im Stück zahlreiche Anspielungen erfolgen: „eine Blitz-Eingebürgerte, die hatte es, die hatte die Zahlungen leisten können, die hat sich Zahlungen leisten können, und wenn nicht sie, dann jemand andrer für sie, es muβ immer gezahlt werden, um die Einzigartigkeit eines Menschen zu respektieren und anzuerkennen“(S, 20). Die beiden sind es, die im Stück den sarkastischen Konterpart zu den Töchtern Danaos’ bilden, welchen sofort Asyl gewährt wird.
Der Text eröffnet in medias res und stellt sich als gigantische Sprachfläche dar, welche aus verbalen Strömen moduliert wird, die gerade am Anfang an eine Flüchtlingsgruppe als Redeinstanz denken lassen: „Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen […]“ (S, 2)28. Während es in Aischylos der Zeus’sche Blick ist, der aufgerufen wird: „Schau gnädig herab auf unseren Zug“29, gibt es im Stück Jelineks keinen wohlmeinenden Blick von oben, sondern nur den von oben herab und eben jene Herablassung, welche die Flüchtlinge in dem Blick der anderen wahrnehmen. Die Zitate werden umgewandelt und so in einen Diskurs wiedereingewoben, der zwischen hohem und niedrigem Sprachregister30 changiert: Zwischen Aischylosʼ Register und der Sprache des Alltags, aber auch der skurrilen Sprache. Die Verflechtung des mythologischen Diskursʼ mit der der aktuellen Zeit erfolgt innerhalb der langen Ströme, die den Dialog auflösen, ohne dem Monolog Platz einzuräumen – so entsteht eine Pluralität von Stimmen, die jede Form der Zuschreibung zu Figuren unmöglich machen.
Im historischen Klima des V. Jahrhunderts nach Christus, in dem die Tragödie von Aischylos aufgeführt wurde, konnte die Geschichte der Flüchtenden aus Ägypten31 und Bittstellerinnen in der griechischen Stadt auch als Gründungs-Mythos der politischen Institution für aktive Inklusion von Fremden in das soziale Leben der Polis evoziert werden. Fremde, Gäste, aber eben auch Mitbürger: eine außergewöhnliche Satzung, die nach der Ratifizierung der demokratischen Wahl, am Ende des Dramas, zum offiziell anerkannten Status wird. Gastfreundschaft muss, um Sinn zu haben, Empfangsbereitschaft bedeuten und politischer Akt werden. In Aischylos hat die Flucht ein positives Ende, während Jelinek, indem sie daraus Elemente wieder aufnimmt, zur bitteren Erkenntnis gelangt: „Es wird nicht geschehen. Es ist nicht. Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da“ (S, 59).
Bilder der Flucht – Flüchtige Bilder
Die Menschenwürde der Individuen („im Staub Gezeichnete, vom Meerwasser und Treibstoff Verklebte, Zusammengeklebte“, S, 23) wird personifiziertes Hohn-Objekt in Jelinek, die dazu einlädt, die Würde sofort, ehe sie verschwindet, in einem Foto einzufangen: „Achtung, die Menschenwürde! Achtung, die Menschenwürde kommt jetzt auch, da kommt sie!, machen Sie ein Foto, schnell, bevor sie wieder weg ist!“ (S, 13). Die Fotos nehmen eine spezielle Rolle in der intermedialen Konfiguration der Schutzbefohlenen ein, wie schon hier in dieser ironischen Unterstreichung, welche den unsachgemäßen und skrupellosen Gebrauch des Mediums Foto kritisiert („[…] halten Sie Ihr Gerät bereit, die Würde, ja, die hier, gleich ein Foto machen!“, S, 13) und Fragen ethisch-politischer Wichtigkeit aufwirft. Mit Ausnahme des ersten Bildes – ein historischer Druck, Twenty-eight fugitives escaping from the Eastern Shore of Maryland32, der Menschen auf der Flucht zeigt und die Bildunterschrift enthält (die eine Art epigraphische Funktion hat) – scheinen die anderen Fotos mitten im Text fast wie aus diesem selbst heraus zu kommen. Der Text umgibt die Bilder mit Worten und wirkt selbst wie eine riesige unmögliche Bildunterschrift33. Auf den folgenden beiden Fotos, vor allem auf dem zweiten, welches innerhalb der Votivkirche geknipst wurde, stellen sich die Migranten wie reale Subjekte (aus Fleisch und Blut) zur Schau, sie zwängen sich unserem Blick auf und entziehen sich gleichzeitig den Darstellungen, die sie von außen in verzweifelten Situationen packen. Über die Fotos hinaus finden wir im Text auch einige zwischen Wörtern auftauchende Gemälde-Reproduktionen vor, z.B. dort, wie im Fall von Tizians Der Raub der Europa, wo das Bild des Gemäldes auf das ihm vorausgehende Foto anspielt, das einen Stier in einem Netz gefangen zeigt34. Und wie eine neuzeitliche Tochter Europas wird in diesem Zusammenhang die bereits erwähnte Tochter Jelzins als „russische Kuh“ (S, 46) definiert, die sofort die Staatsangehörigkeit erlangt („die Tochter, die Landsmännin, die Tochter der Kuh Europa, dazu muß mir noch was einfallen, da fällt aber leider nichts, da fällt der Cent nicht, Zeus, als Römer Jupiter, und Io sind das mindeste, was mir dazu einfallen sollte“, S, 41)35 in einer ironischen Neuvermengung der Figuren: „wie diese Europa oder Io, also wer jetzt von beiden?“ (S, 52) Die Theater-Texte Jelineks sind Landschaften in Bewegung, lösen eine lineare Wahrnehmung auf, und bieten gleichzeitig eine räumliche Verbindung mit multiplen Bezugspunkten an.
Das Bild besitzt kein besonderes Privileg in diesem Mechanismus, besetzt aber ein zusätzliches Register, welches sowohl erlaubt, die Reihenfolge des Diskurses zu flankieren, als auch diesen zu segmentieren, bzw. ihn zu zerschneiden, um weitere Auswege zu schaffen. Die Bilder bewirken eine Unterbrechung, verbieten eine lineare und ‚literarische‘ Lesart des Textes36 und dehnen gleichzeitig seine Räumlichkeit aus. Dasselbe Vorgehen benutzt Jelinek für die Anhänge. Im am 18. September 2015 online veröffentlichten Appendix verzeichnet die Autorin die enormen Flüchtlingsströme über den Landweg, die Absperrungen um die Grenzen, die unerträglichen sanitären Zustände in den Flüchtlingslägern, die blockierten Autobahnen und Züge. Es ist unmöglich, die Anzahl der Menschen festzulegen, zu begreifen: „Die wandern umher, diese Menschen, es sind so viele, niemand kann sie überblicken, es wird von ihnen gesprochen, niemand kann sie verstehen, die sind so, daß sie nicht kennen, wie man hier spricht“37. Dem Appendix wird eine Coda38 angefügt (mit zwei Zeitangaben: 29.9.2015 und 7.10.2015), in welchem die übervollen Flüchtlingsboote dominieren. Die Bilder breiten uns in ihrer vollen Evidenz und heraufbeschwörenden und affizierenden Macht39 eine fortdauernde Präsenz von Migranten auf der Flucht aus, die unterschiedliche Perspektiven auf die Flucht selbst, auf ihre Herkunft, auf ihre Destinationen herstellen oder verstellen. Die Bilder, die versuchen, die Wege, die Fluchtursachen, nachzuvollziehen, haben eine performative Fähigkeit, die den Betrachter beeinflussen, beherrschen, ihn überwältigen. Unsere Wahrnehmung bleibt aber eine partielle und durchaus bequeme Wahrnehmung, als zwischen Zeiten und Art der Wahrnehmung ausgewählt werden kann. Die Flüchtlinge, die Fluchtrouten, die Situation unterwegs und bei der Ankunft in Europa werden im Fernsehen, im Internet multimedial sichtbar: „Im Fernsehen geht es leichter, im Sozialmedium, das ein Sozialmarkt ist, noch leichter, da kann man sich die Besuchszeiten aussuchen“ (A, 62). Die Autorinstanz selbst wird einbezogen: „ich sitze auf einem Stuhl und schaue auf das Foto“ […] (A, 84). Auf diese zynische Art und Weise der Wahrnehmung wird das berühmte, um die Welt gegangene Foto des auf der Flucht ertrunkenen Kindes zitiert (aber im Text nicht gezeigt): „Das Foto ist gemacht, es wird der Welt gezeigt und aus. Grade nur einer, ein kleiner Bub. Was ist das schon“ (A, 78)40. Text und Bild komplettieren sich nicht etwa gegenseitig, und die Bilder illustrieren auch nicht einfach nur die Motive des Textes: Das Stück entwickelt in seiner Online-Version eine eigene visuelle Ikonographie. Wie bereits festgestellt, überlappen sich aktuelle Fotos und Zitate aus antiken Mythen. So auch in Coda, wo Worte und Fotos von Flüchtlingen einer Fresken-Reproduktion, die Ankunft im Land der Laistrygonen, welche eine Landschaft und eine Szene aus der Odyssee zeigt, gegenübergestellt werden. Und die Fotos, so möchte man sagen, sind wiederum Porträts, die dem klassischen Stil angelehnt sein könnten und den Raum mittels der menschlichen Körper, aufgestellt im ähnlichen Schema wie Pilgerfahrten über das Meer, Entführungen durch die Götter etc., bilden. Die Sakralität ist hier eine der Körper der Migranten, welche Schicksale, Schmerzen, Wunden und Tod zeigen und verbergen. Zwischen Text und Bild bildet sich eine Spannung, nämlich die zwischen zwei Zeiten heraus: zwischen der unmöglichen Gegenwart der Äußerungen des Textes und der Vergangenheit der Bilder, die das Geschehene dokumentieren und somit immer schon vergangen sein müssen. Die Fotos ersetzen keine Wirklichkeit in ihrer zeitlichen Dauer, sondern lassen sie erstarren, fixieren sie, sind „eine Art memento mori“41.
Das Mittelmeer als Wimmelbild, „ein südliches Meer“ (C, 83), ist der große Protagonist des Textes Coda. Das Meer mit den übervollen Booten mit alten Diesel-Motoren und zu wenig Diesel: „Da ist noch Luft nach oben, aber nicht mehr lang. Dann gehts nach unten, dann nehmen wir ein Bad“ (C, 82). Ein Bad in diesen Gewässern bedeutet den Tod. Mitten auf dem Meere blockiert, so zeigt sie das Foto in Coda – auch ein bekanntes von oben aufgenommenes Foto –, das ein Flüchtlingsboot mit seinen Farben ins Zentrum des Blau des Mittelmeers42 rückt und anscheinend in Vergrößerung43 lächelnde Gesichter von Flüchtlingen zeigt, kurz vor ihrer Rettung durch die Operation „Mare Nostrum“. Die Fotografie präsentiert uns die Realität in ihrer Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit, sie ersetzt uns das, was hier und da in einem bestimmten Moment erschienen ist und eröffnet uns eine bestimmte „Evidenz“44. Die komplexe Intermedialität45 Jelineks Werkes ist aber nicht alleine durch die Präsenz von Medien (Fotos, Gemälde) bedingt, sondern vielmehr durch den Versuch, in ein Medium (hier der dramatische Text) die Ausdrucksweise und Lesart eines anderen einzuflechten und somit allen Medien strenge Spezifität oder Authentizität abzusprechen. Trotz ihrer fotografischen Unmittelbarkeit wirken die Bilder nicht wahrer oder authentischer. Die Bilder selbst sind die Flüchtenden, sei es als Begleiter der Flucht, sei es, in dem sie sich, in ihrer Transformation von einem Medium zum anderen oder in den kommunikativen Prozessen der Politik, verwandeln und manipulieren lassen.
Was zeigen und erklären uns also diese Fotos, oder besser noch: Was zeigen und erklären uns diese Fotos nicht, auch wenn sie sich dem Betrachter, der sie ansieht, unvermittelt, ohne Filter, mit ihrem „vor die Augen führen“ aufdrängen46? Diese Bilder, die wir irgendwo schon mal gesehen haben, schauen uns mit ihrem außerordentlichen Affekt- und Affizierungspotential an, treten heraus aus einem Schwarm von versprengten, fragmentierten, anarchischen Elementen, welche die Sprachflächen dieses Stücks ausmachen. Die Sprachflächen werden ihrerseits umgekehrt, in dem sie ausdrücken und spüren lassen, was die flüchtigen Bilder zum Verschwinden bringen, zu einer Art Widerstand gegen eine Umwandlung der Welt in Bilder 47.
Und „was sagt Europa?“, fragt noch Jelineks Text: „Europa sagt nichts, es sagt uns nichts, wir haben es gegründet, doch wir haben über dieses Geschöpf leider keine Kontrolle mehr, einer muß dort über diese Verbrechen Gericht halten, doch es tut keiner“ (A, 78). Diese andauernde, den Text übergreifende Befragung stellt erneut und vehement das Thema Gewalt im zeitgenössischen Theater zur Debatte, im Text häufig ausgedrückt durch gewollt unheilvoll groteske Verdrehung: „[…] die Küche ist eröffnet, nur zu essen gibt es nichts, nein, zu trinken auch nicht, ist Ihnen das denn nicht genug Wasser hier, wollen Sie etwa noch mehr? aber das ist so salzig, es ist eindeutig versalzen, kann ich das zurückschicken?“ (C, 82). Jelinek drückt durch ihre kreisförmige Satz-Struktur genau diese Unmöglichkeit für die Flüchtlinge, irgendein Ufer zu erreichen, aus; sie sind blockiert an einem Ort, ohne jede Möglichkeit anzukommen, ein Ort, von dem aus es kein Vor- und kein Zurückkommen gibt: „[…]es ist doch keiner mehr da, es ist keiner mehr dort, nur ich bin hier und nicht dort, aber hier, angewiesen auf meine Erinnerungen, sind alle tot, sind woanders tot“ (S, 4). In Anbetracht dieses Meeres der Hoffnung und gleichzeitig des Todes, worauf das letzte Bild des Stückes mit dem kleinen Boot48 noch hinweist, ist die Herausforderung, vor der wir stehen, jene Öffnung Europas, die Jacques Derridas in Das andere Kap evoziert: „Öffnung, die das genaue Gegenteil des Ausschlusses ist“49. Derrida reflektiert hier über Europa im Szenario nach dem Fall der Berliner Mauer. Ausgehend von seiner Biographie – er wurde in Algerien mit französischer Staatsbürgerschaft geboren – beschreibt er Europa als eine Öffnung, als das andere Kap, das nie mit sich selbst identisch ist: „Wie, wenn Europa nichts anderes wäre als die Eröffnung, der Auftakt einer Geschichte, für die die Kursänderung, der Wechsel des Kaps, der Bezug zum anderen Kap oder zum anderen des Kaps sich als eine fortwährend bestehende Möglichkeit erweist?“50 […] „Aus solcher Sicht ist es eine Pflicht, […] Europa […] auf jenes hin zu öffnen, was nie europäisch gewesen ist und was nie europäisch sein wird.“51 . Dieser Pflicht stellt uns der Text Jelineks, indem er auffordert, sich nach dem „anderen Kap“, oder wie noch einmal Derrida sagt: „auf das andere des Kaps“ hin zu wenden, was stets auch ein Kommen, ein Ankommen des Anderen mit sich bringt.
1 „Ich will kein Theater, ich will ein anderes Theater, ich mache es sehr sprachzentriert. […] Es wird dem Theater immer wieder verlangt lebende Menschen, die einen Charakter haben und differenziert sind. Aber das interessiert mich nicht am Theater“, Elfriede Jelinek, Ich will kein Theater – Ich will ein anderes Theater, in „Theater heute“ 1989/8, S. 31.
2 Der Text Die Schutzbefohlenen wurde, wie zahlreiche Werke der Autorin, auf der Internetseite www.elfriedejelinek.com veröffentlicht, wo auch vier Zusatztexte hinzugefügt wurden. Die Zitate aus Die Schutzbefohlenen werden folgender Rowohlt-Ausgabe entnommen: Die Schutzbefohlenen, Samt Appendix, Coda, Europas Wehr. Jetzt staut es sich aber sehr! (Epilog auf dem Boden), Ende (4.3.2016) sowie Philemon und Baucis (05.04.2016), file:///C:/Users/utente/Downloads/2320-jelinek_die_schutzbefohlenen_gesamttext.pdf. Die Bilder, auf die in diesem Beitrag Bezug genommen wird, sind hingegen nur in der Online-Version auf der Internetplattform der Autorin (www.elfriedejelinek.com) enthalten.
3 Den theoretischen Bezugspunkt stellt der Text von Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999 dar. Zur Debatte über die Perspektiven eines postdramatischen Theaters und im speziellen über seine Konfiguration in den Werken Jelineks vgl. „Postdramatik”. Reflexion und Revision, hrsg. von Pia Janke, Teresa Kovacs, Wien 2015.
4 Elfriede Jelinek, Ich will kein Theater – Ich will ein anderes Theater, zit., S. 153.
5 Elfriede Jelinek, Ich möchte seicht sein, in Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek, hrsg. von Christa Gürtler, Frankfurt a. M. 1990, S. 157.
6 „Das in fremden Zungen reden, so wie der Heilige Geist als Zunge über den Köpfen der Gläubigen schwebt, das verwende ich im Theater eigentlich immer, um den Sprachduktus zu brechen in verschiedene Sprachmelodien und Sprachrhythmen, weil ich mit Sprache immer eher kompositorisch umgehe. Das ist wie bei einem Musikstück mit verschiedenen Stimmen, die enggeführt werden oder dann auch im Krebs oder in der Umkehrung vorkommen. Es ist im Grunde ein kontrapunktisches Sprachgeflecht, das ich versuche zu erzeugen“, Ich bin ständig tobsüchtig über die Verharmlosung. Ein Gespräch über Elfriede Jelinek (geführt von Stephanie Carp), in „Theater der Zeit“, Mai/Juni 1996, S. 2.
7 Roland Barthes, Das Rauschen der Sprache – Kritische Essays IV, Frankfurt a. M. 2005.
8 Das zeigen die zahlreichen gelungenen Inszenierungen der Stücke Jelineks, darunter auch die von Die Schutzbefohlenen in Deutschland und Österreich. In Italien beachte man das innovative Projekt Progetto Festival Focus Jelinek, nach einer Idee und unter Direktion von Elena di Gioia und den Workshop zu Die Schutzbefohlenen/I rifugiati coatti unter Direktion von Claudio Longhi mit Übersetzung ins Italienische durch Luigi Reitani (www.festivalfokusjelinek.it).
9 Die Inszenierung ist hier als Ereignis zu verstehen, in dem die Sprach-Akte stattfinden und sich das Sprechen selbst als Inszenierung ausgibt.
10 Anne Fleig, Zwischen Text und Theater? Zur Präsenz der Körper in „Ein Sportstück“ von Jelinek und Schleef, in Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel, hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Anne Fleig, Tübingen 2000, S. 87-104, hier S. 87.
11 Ebd. S. 89.
12 Vgl. Gabriele Klein, „Alles Liebe, euch allen, Elfriede“. Performativität im zeitgenössischen Theater, in Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, hrsg. von Stefan Tigges, Bielefeld 2008, S. 352
13 „Es ist eine Sprache, die man lesen lernen muss, wie die Noten in der Musik, sie hat fast nichts mit der Sprache zu tun, die wir normalerweise benützen“, Werner Waas, Selbstbefragung zu Elfriede Jelinek in Italien, in Il teatro di Elfriede Jelinek, hrsg. von Lia Secci, Roma 2012, S. 17-34, hier S. 18. Siehe auch Rita Svandrlik, Il sofferto elogio della distanza. Nota al Discorso Nobel „Im Abseits“, in Elfriede Jelinek. Una prosa altra, un altro teatro, hrsg. von Rita Svandrlik, Firenze 2008, S. 149-152.
14 „Der Chor erscheint als Form jener kaum verortbaren Stelle, in der Körper und Sprache zusammentreffen, ohne jedoch eins zu sein“, Ulrike Haß, Idiosynkrasien: Der Körper des Chores. Einar Schleef inszeniert „Ein Sportstück“ von Elfriede Jelinek am Wiener Burgtheater, in „Ästhetik und Kommunikation“, 29/1998, S. 59-65, hier S. 59.
15 Arthur Pelka nimmt hier – indem er Paul de Man zitiert (Autobiographie als Maskenspiel, in Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a. M. 1993, S. 131-146, hier S. 134) – signifikant Bezug auf die Figur der Prosopopäe (Artur Pełka, Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“, in Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels. Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama, Bielefeld 2016, S.149-174, hier S.152).
16 Von nun an mit der Sigle S und der Seitenzahl zitiert.
17 Coda, S. 89. Von nun an mit der Sigle C und der Seitenzahl zitiert.
18 Vgl. dazu Bärbel Lücke, Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu Elfriede Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen, in http://www.baerbel-luecke.de/jelinek.htm, S. 1-23, hier S.1-3.
20 Bei Aischylos bezieht sich der Begriff hikesia auf das Asylrecht und unterstreicht die Entscheidung der Stadt, Fremde zu empfangen. Zur Unterscheidung von hikesia e asylia und den entsprechenden Bezügen im Stück Jelineks vgl. Silke Felber, „fuori e dentro, dentro e fuori, perché no, è bello che ci sia un po’ di cambiamento“. Fenomeni di inclusione ed esclusione ne „I rifugiati coatti“ („Die Schutzbefohlenen“) di Elfriede Jelinek, in „Prove di Drammaturgia. Rivista di inchieste teatrali“, XX, Nr. 2, Dezember 2015, S. 16-20, hier S. 19.
21 Lampedusa in Hamburg ist eine von einer aus Flüchtlingen bestehenden Gruppe in Hamburg organisierte Protest-Aktion, die für einen dauerhaften Verbleib in Deutschland kämpft. Ein Teil dieser Flüchtlinge findet zunächst in der St. Pauli Kirche Schutz, dort, wo auf Initiative des Thalia-Theaters eine Urlesung des Theater-Textes Jelineks durchgeführt wird.
22 Am 3. Oktober 2013 fängt ein Flüchtlingsboot Feuer und kentert vor Lampedusa. Mehr als 360 Personen verlieren ihr Leben im Mittelmeer. Bis dahin hatte man noch keine Tragödie eines solchen Ausmaßes gesehen.
23 Die Tragödie erzählt bekanntermaßen von der Flucht der fünfzig Töchter Danaos’ nach Griechenland, die dort, zusammen mit dem Vater, im Land der Argiver, einem demokratischen und gastfreundlichen Volk, ankommen, und beim König von Argos, Pelasgos, Asyl erbitten, in dem sie auch auf ihre Abstammung vom Argiver Io verweisen. Dieser aber, weil er Krieg gegen die Ägypter befürchtet, zögert, seinen Schutz zu gewähren. Er entscheidet, nur mittels Zustimmung der Gemeinschaft, dass für die Gastfreundschaft gestimmt wird, und gewährt den Flüchtenden Asyl. Aus heutiger Sicht handelt es sich um evidente Motive fortwährender Aktualität: Aufnahmebereitschaft oder Abschiebung des Anderen, Nationen in Konflikte, Asylrecht etc.
24 Wie Silke Felber anmerkt, „la brochure intitolata Convivere in Austria. I valori che ci uniscono, pubblicata dalla Segreteria di Stato austriaca per l’Integrazione (Affari Esteri), è utilizzata come materiale intertestuale elementare allo scopo di mettere in discussione anche i principi e i valori nazionali, o meglio, il modo in cui essi vengono interpretati dai responsabili politici“, in „fuori e dentro, dentro e fuori, perché no, è bello che ci sia un po’ di cambiamento“, zit., S.18.
25 Die Anhänge enthalten wiederum Hinweise auf weitere intertextuelle Bezüge.
26 Vgl. Elfriede Jelinek, Anmerkung zum Sekundärdrama, 2010, in http://www.elfriedejelinek.com. Rubrik: Zum Theater
27 Vgl. Elfriede Jelinek, Das Parasitärdrama, 2011, in http://www.elfriedejelinek.com. Rubrik: Zum Theater
28 „Il ‚noi‘ introduttivo rappresenta già sul piano formale una citazione intertestuale de Le supplici di Eschilo, introdotta dal coro e non da un singolo personaggio – una peculiarità che non si ritroverà più in Sofocle. Nel testo di Jelinek, a tale particolarità corrisponde anche la stessa funzione che il coro aveva nelle Supplici di Eschilo: il coro non costituisce, infatti, un commento alla tragedia, ma ne è il primo attore“, Silke Felber, „fuori e dentro, dentro e fuori, perché no, è bello che ci sia un po’ di cambiamento“, zit., S. 19.
29 Aischylos, Die Schutzflehenden, deutsche Übersetzung von J.G. Droysen, hrsg. von Karl-Maria Guth, Berlin 2016, S. 3.
30 Vgl. Luigi Reitani, „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“. Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen», in „Jelinek-Jahrbuch“ 2014-2015, S. 53-69, hier S. 60.
31 Aischylos rückt die Töchter als absolute Protagonistinnen in den Fokus des Dramas, als eine Gruppe von Migrantinnen, von den Ufern Afrikas kommend, die das Meer überquert hat und sich – Gastrecht und Schutz erbittend – vor den Toren der Stadt zeigt.
32 Das Bild ist in einem Buch abgedruckt. Siehe „Twenty-eight fugitives escaping from the Eastern Shore of Maryland“, The New York Public Library Digital Collections. 1872. http://digitalcollections.nypl.org/items/510d47db-bccb-a3d9-e040-e00a18064a99. Schomburg Center for Research in Black Culture, Manuscripts, Archives and Rare Books Division, The New York Public Library.
33 Vgl. Julia Prager, Exophone Wende: Bewegte Klangkörper in Text und Inszenierung von Jelineks „Die Schutzbefohlenen“, in
https://fpjelinek.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_ejfz/PDF-Downloads/Beitrag_Julia_Prager.pdf, S. 1-15, hier S. 9
34 Vgl. Die Schutzbefohlenen. Europas Wehr. Jetzt staut es sich aber sehr (Epilog auf dem Boden), http://www.elfriedejelinek.com/
35 Im Text lassen sich weitere Bezüge finden: „kein Gott hemmt meine Flucht, ich bin doch keine Kuh, ich bin nicht Europa, bin nicht Io, nichts hemmt mich“ (S, 22); „Der Konzernherr hat seine Rolle im Einbunkern, ich meine im Einbürgern dieser Tochter einer Kuh, nein, eines Stiers, nein, ein Stier kommt nicht vor, von beiden halt gefunden“ (S, 26). So bemerkt Rita Svandrlik, „le due donne russe beneficiarie della cittadinanza austriaca vengono accostate a due figure femminili del mito, entrambe amate da Zeus, Io (che compare come antenata delle Supplici anche in Eschilo) e Europa; alla fine entrambe avevano trovato rifugio, Europa a Creta, Io in Egitto (vi sono nel testo riferimenti alla versione che del mito ci dà Ovidio nelle Metamorfosi). La contrapposizione tra la situazione delle due donne russe e il collettivo dei richiedenti asilo innerva il testo, è un filo tematico nella trama testuale di inclusione/esclusione costituita da altri fili, che lavorano sullo svelamento tramite l’ironia linguistica dell’ipocrisia insita nella propaganda dei valori democratici, cui i desiderosi di integrazione si dovrebbero adeguare“. Dare voce agli esclusi. Il testo teatrale di Elfriede Jelinek sul diritto di asilo: „Die Schutzbefohlenen“ („I rifugiati coatti“), http://www.societadelleletterate.it/wp-content/uploads/2015/09/Documento-43.pdf, S. 1-5, hier S. 2-3.
36 Indem sie das Konzept des „literarische(n) Lesen(s)“ von Michael Riffaterre (La trace de l’intertexte) welches, statt Sinn zu produzieren, Signifikanz hervorruft, wiederaufnimmt und erweitert, unterstreicht Alexandra Pontzen richtigerweise die Notwendigkeit eines medialen Lesens der Werke Jelineks. Intermedialität stellt bei diesen nicht einfach ein Thema oder einen Übergang zwischen Medien dar, sondern bedingt auch die Modalität der Rezeption, indem es denjenigen, der liest, mit den Grenzen seiner Möglichkeit des Perzipierens und Interpretierens konfrontiert (Vgl. Alexandra Pontzen, Sex, Sport, Splatter, Shoa, Shopping: Elfriede Jelineks Poetik der Medialität, in Medien des Wissens: interdisziplinäre Aspekte von Medialität, hrsg. von Georg Mein und Heinz Sieburg, Bielefeld 2011, S. 203-222, hier S. 205).
37 Appendix, S. 61. Ab jetzt mit der Sigle A und der Seitenzahl zitiert.
38 In diesem Teil finden sich Bezüge zur Iphigenie in Aulis von Euripides und zu Homers Odyssee.
39 Zum Verhältnis zwischen Text und Bild existiert mittlerweile eine eindrucksvolle Bibliographie, vgl.: William J.T. Mitchell, Picture Theory, Chicago-London 1994; Gottfried Boehm, Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer, München 1995, S. 23-40; Bild im Text – Text im Bild, hrsg. von Ulla Fix, Hans Wellmann, Heidelberg 2000; Sybille Krämer, „Schriftbildlichkeit“ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in Bild. Schrift. Zahl, hrsg. von Sybille Krämer, Hortst Bredekamp, München 2003, S. 157-176; Michele Cometa, Letteratura e arti figurative: un catalogo, in „Contemporanea“, 2005/3, S. 15-29; Renate Brosch, Bilderflut und Bildverstehen: Neue Wege der Kulturwissenschaft, „Kultur und Technik“, 2008/4, S. 78-86.
40 Zu Rezeption und Gebrauch dieses Bildes vgl. Malin Schulz, Ein kurzes Erschaudern. Müssen wir wirklich wissen, wie ein totes Flüchtlingskind aussieht? Nein!, in „Die Zeit“, 10.09.2015, S. 60.
41 So Susan Sontag: „Jede Fotografie ist eine Art memento mori“, Über Fotografie, München 1978, S. 21. Siehe auch von Sontag, Das Leiden der anderen, München 2007.
42 Auf dem von Massimo Sestini aufgenommenen Foto, das nahezu zum Symbol-Bild von Migration geworden ist, sind die Blicke der Flüchtlinge auf das Objektiv des Fotografen gerichtet, der sie von oben aufnimmt.
43 Vgl. Prager, Exophone Wende, zit., S. 8.
44 Jean-Luc Nancy, Am Grund der Bilder, Zürich 2006, S. 26 f.
45 In den zahlreichen Aufführungen finden sich natürlich auch andere intermediale Konstellationen, in denen weitere Medien wie Videos, das Internet etc. verwendet werden.
46 Vgl. Jean-Luc Nancys wichtige Überlegungen zur intrinsisch mit dem Bild verbundenen Gewalt in Am Grund der Bilder, zit., S. 39.
47 Vgl. auch die interessanten Reflexionen in Artur Pełka, Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels, zit. S. 168 f.
48 Nur auf der Homepage der Autorin www.elfriedejelinek.com veröffentlicht. Die Interpretation steht offen, wie Bärbel Lücke richtig anmerkt: „[…] auf Jelineks Homepage endet der Text mit einem Bild: Die Schutzbefohlenen in einem kleinen Boot, ausgesetzt dem weiten Meer; aber noch ist der Tau sichtbar, das sie an der Küste festhält: Ankunft? Aussetzung?“ (Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich, zit. S.22)
49 Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt a. M. 1992, S. 18.
50 Ebd., S. 17f.
51 Ebd., S. 56