Arturo Larcati
(Universität Verona/Zweig Zentrum Salzburg)
arturo.larcati@univr.it
Abstract
Der vorliegende Aufsatz untersucht das Werk Die rote Straße (1918) des heute vergessenen österreichischen Dramatikers Franz Theodor Csokor. Der Protagonist des Stückes verkörpert die expressionistische Utopie des „Neuen Menschen“, der sein Liebesbegehren außerhalb der Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft befriedigen möchte. Indem Csokor jedoch darstellt, wie die Vertreter der bürgerlichen Mentalität den Liebestraum des Protagonisten und seiner Geliebten zerstören, präsentiert er eine pervertierte Gesellschaft, in der das Prinzip der Käuflichkeit herrscht und Sexualität zur Ware degradiert wird. Obwohl Csokor sein Stück als „typisches Werk des deutschen Expressionismus“ bezeichnet hat, wird hier die Frage nach den österreichischen Merkmalen seines Schreibens gestellt. Die surrealen und absurden Momente des Dramas werden als die spezifischen Züge von Csokors Individualstil erkannt.
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Csokors Drama Die rote Straße (1918) als Ausdruck der expressionistischen Erneuerung
Mit seinem Aufbruchspathos und seinen Erneuerungsphantasien partizipiert der Expressionismus an den geistigen und soziopolitischen Umwälzungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die im Ersten Weltkrieg und den revolutionären Bestrebungen von 1918/1919 ihren Höhepunkt erreichen. Die unterschiedlichen Konzeptionen des „Neuen Menschen“, der Zusammenhang von Apokalypse und Messianismus, die intensive Rezeption der Gestalt von Zarathustra oder die Übermensch-Phantasien in den Werken, aber auch die direkte Teilnahme einiger Autoren an der Räte-Republik in München sind nur die wichtigsten Manifestationen dieser in der expressionistischen Bewegung verbreiteten Aufbruchsstimmung. Da die meisten dieser Erneuerungsbestrebungen in allgemeinen Darstellungen des Expressionismus und auch in diesem Sammelband an deutschen Werken und deutschen Autoren exemplifiziert werden1, soll im vorliegenden Aufsatz ein Vertreter des österreichischen Expressionismus erneut zur Diskussion gestellt werden: Franz Theodor Csokor (1885–1969).2 Es handelt sich um einen im Grunde ziemlich vergessenen Autor, der heute meistens als Vertreter der Exilliteratur gewürdigt wird bzw. als Autor des 1936 veröffentlichten Dramas 3. November 1918, das den Untergang der k. u. k. Monarchie behandelt und daher auch auf die Thematik der Ragusa-Tagung bezogen werden könnte. Da das Stück in der Forschung bereits mehrfach untersucht wurde3, soll in diesem Zusammenhang stattdessen das interessanteste Ergebnis von Csokors expressionistischer Phase näher betrachtet werden, nämlich das Drama Die rote Straße.4
Das Schauspiel entsteht zwischen 1916 und 1917, Csokor ist gerade dreißig Jahre alt geworden, und hat den Titel Die Wollust der Kreatur. Das Stück erscheint 1918 in Weimar, wird jedoch zuerst von der Zensur verboten. Es ist die Zeit, in der die expressionistischen Dramatiker ihre größten Erfolge in Deutschland zu feiern beginnen. Da Wien kein fruchtbarer Boden für die expressionistische Kunst ist, wird Csokors Stück erst 1921 am Deutschen Schauspielhaus in Brünn uraufgeführt. Ein Jahr danach folgen Inszenierungen auch in Wien und in anderen Städten.
Obwohl Csokor als der bedeutendste Vertreter des österreichischen Dramas gilt und sich zum Expressionismus explizit bekannte5, war der Expressionismus nur eine Phase in seinem langen Schaffen. Trotz der Distanz zum Frühwerk stand er allerdings bis zuletzt zu diesem Stück, wie eine autobiographische Stellungnahme aus dem Jahr 1958-1959 zeigt: „Sein in der Tschechoslowakei 1921 uraufgeführtes Stück ‚Die rote Straße‘, nachgespielt in Österreich und in Deutschland, galt als Standardwerk des deutschen Expressionismus.“6
Dementsprechend verfolgt der vorliegende Aufsatz das Ziel, den Anteil dieses Werkes an den expressionistischen Erneuerungsbestrebungen genauer als bisher zu bestimmen. Diese Arbeit geht davon aus, dass das Erneuerungspotential des Dramas zunächst auf der inhaltlichen Ebene in der Darstellung des Neuen Menschen, in der radikalen Lösung der Frage der Geschlechterpolarität und der Liebe sowie in der Drastik der Kapitalismus-Kritik liegt. Die provokatorische Wirkung dieser inhaltlichen Aspekte wird allerdings, so die zweite Voraussetzung des Aufsatzes, durch die radikale Formensprache extrem potenziert, die zwar wesentliche Merkmale des Expressionismus reproduziert, jedoch in ihrer Tragweite weit über das „expressionistische Jahrzehnt“ hinausreicht. So konzentriert sich die vorliegende Arbeit zunächst auf das Spannungsverhältnis zwischen Csokors Übernahme der typischen Verfahren der expressionistischen Dramatik und den formalen Innovationen, die aus seinem Individualstil erwachsen. Darüber hinaus wird in diesem Zusammenhang auch die Frage nach den spezifisch österreichischen Merkmalen seines Expressionismus gestellt. Schließlich soll das Drama Die rote Straße in einen breiteren literaturhistorischen Kontext eingebettet werden, um sowohl die möglichen Anleihen am Drama der Jahrhundertwende zu bestimmen als auch die Verwandtschaft mit anderen zeitgenössischen Strömungen oder Autoren der zwanziger und dreißiger Jahre zu skizzieren.
2. Die rote Straße (1918) als typisches Werk des Expressionismus (Stationentechnik, Messianismus, Typisierung, Antibürgerliches, Groteske)
Wenn Csokor Die rote Straße als „exemplarisches Werk des […] Expressionismus“ definiert, dann liegt das Exemplarische zunächst darin, dass sein Drama die Geschichte des Protagonisten als Leidensweg Jesu darstellt. Ähnlich wie viele expressionistische Stücke weicht Die rote Straße von der Aktstruktur des bürgerlichen Trauerspiels ab, in dem im Regelfall ein (tragisches) Problem aufgebaut und durch Klimax sowie Katastrophe gelöst wird. Stattdessen gibt es vierzehn Bilder. Sie resultieren aus der Orientierung am mittelalterlichen Mysterienspiel und am Stationendrama, das mit dem leidenden Christus zu tun hat. Wie andere Expressionisten adaptiert Csokor die Stationentechnik von Strindberg, bei der „der Spielfortgang nicht mehr in einer psychologisch grundierten und motivierten Abfolge nachvollziehbarer Handlungsschritte präsentiert, sondern in einer Folge locker oder gar nicht verbundener, oft autonomer Handlungsfetzen, eben ‚Stationen‘ oder auch ‚Bilder‘ vorgeführt [wird].“7 Auf die Stationen des Kreuzweges und des Leidenswegs des Protagonisten spielt auch der Titel des Stückes an.
Damit hängt auch der Aspekt des Messianismus eng zusammen. Der Protagonist des Stückes ist ein Dichter bzw. ein Künstler, der die Funktion des Neuen Menschen bzw. des Messias erfüllt. Er wird zur Christus-Figur, zum agnus dei stilisiert, das heißt zum Opfer, das die Sünden der Menschheit auf sich nimmt, um eine neue Welt zu gebären. So wie Christus im Evangelium als „König der Juden“ verhöhnt, verletzt und ans Kreuz geschlagen wird, führt auch das Drama von Csokor vor, wie der Künstler in der bürgerlichen Welt dem Spott ausgesetzt wird. Dementsprechend unterstreicht das Werk den Leidensaspekt des Protagonisten: Der Messias bzw. sein expressionistisches Alter Ego ist der leidende Gerechte, der sich mit der Borniertheit und der Brutalität der bürgerlichen Welt konfrontieren muss und in dieser Auseinandersetzung gnadenlos unterliegt.
Der Protagonist von Die rote Straße ist ein „Er“, der eine „Sie“ an seiner Seite hat. Dass die beiden so genannt werden, reflektiert die typische Tendenz des expressionistischen Dramas, keine individualisierten Figuren, sondern lediglich Typen auf die Bühne zu bringen. Die Typisierung ist bereits dem Personenverzeichnis klar abzulesen: hier treten unterschiedliche Kategorien von Menschen bzw. Gruppen auf, die nach äußeren Kriterien klassifiziert werden (der Magere, der Kranke) bzw. nach Beruf (der Wärter, der Schutzmann, die Köchin) oder nach ökonomisch-kapitalistischen Prinzipien (der Grundbesitzer).
Der „Er“ entwickelt sich im Laufe des Dramas zu einer sozial unangepassten Figur, die sich – wie bereits angedeutet – als Dichter profiliert. Es handelt sich um eine marginalisierte Außenseitergestalt, die schon in der Schule schlecht war und nun keinen bürgerlichen Beruf ausübt. Durch seine bloße Existenz verkörpert er eine Provokation der Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft. Der Expressionismus übernimmt die bereits in der Fin-de-Siècle-Literatur verbreitete Tendenz, den Künstler als aus der Gesellschaft Ausgestoßenen bzw. als Randfigur darzustellen und akzentuiert dabei – und das ist das Avantgardistische daran – die antibürgerliche Haltung, die Tendenz zur Provokation bzw. die revolutionäre Attitüde. Bereits in Van Hoddis’ Weltende präsentiert sich die avantgardistische Revolution als Wind, der den Bürgern den Hut vom Kopf wegreißt, bzw. als Erdbeben gegen die erstarrte bürgerliche Gesellschaft.8 Im Drama von Csokor nimmt der Protagonist die Gestalt des Neuen Menschen an.
Die grotesken Züge des Dramas unterstreichen dessen antibürgerlichen Ansatz. Im dritten Bild kommen sprechende Häuser vor, welche die kleinbürgerliche bzw. philiströse Haltung ihrer Bewohner darstellen. Die Häuser zerreißen sich den Mund über das junge Paar und verwenden eine menschenverachtende Sprache:
STIMME DES ERSTEN HAUSES RECHTS: Ein Habenichts! Richtig! Beseht seine Gesten: zerquält und verlegen.
STIMME DES ERSTEN HAUSES LINKS: Verdächtig genug. Man sollte ihn fragen, wozu er hier pendelt! […]
STIMME DES ERSTEN HAUSES RECHTS: Diebe heischen kein Abendgeleit. Das verriete mehr Zuhälterverhältnisse.
STIMME DES ZWEITEN HAUSES RECHTS: Dann passt sie sich ehestens an. Zur Nacht aus dem Hause zu schwärmen mit allerlei Gassenbekanntschaft! Was mag sich nicht später begeben dabei? (21)
Die negativen Urteile über den jungen Mann und die jungen Frau in der „Lästergasse“ (19) werden im achten Bild wieder zu hören sein.
3. Csokors Individualstil: Die Tendenz zum Surrealen und Absurden
Noch interessanter als die Strukturmerkmale, die es erlauben, Csokors Stück nach seiner eigener Definition als „typisch expressionistisch“ zu qualifizieren, sind jene, aus denen sein Individualstil, seine eigene ‚Unterschrift‘ hervorgeht.
Gleich am Anfang sind im Drama surreale bzw. absurde Momente zu erkennen. Im ersten Bild, das als eine Art Vorspiel für das Drama fungiert, äußern sich „eine Stimme von oben“ und dann Stimmen von rechts und von links, „Stimmen der drei Unverantwortlichen“ genannt, zum „Mann“ und zum Weib“ des Stückes. Der Prolog spielt an den „Pforten der Erde“:
STIMME VON OBEN: Paaret!
STIMME VON RECHTS: Glut? – Eis?
STIMME VON LINKS: Freunde? – Feinde?
STIMME VON OBEN: Mann und Weib!
STIMME VON RECHTS: Zur Seligkeit?
STIMME VON OBEN: Sie sollen sich lieben!
STIMME VON LINKS: Müssen sie leiden?
STIMME VON OBEN: Sie sollen sich lieben!
STIMME VON RECHTS: Einander gewärtig von Ewigkeit her?
STIMME VON OBEN: Sie werden es glauben.
STIMME VON LINKS: Ihr Leben bisher nur ein Suchen danach?
STIMME VON OBEN: Sie werden es glauben.
STIMME VON RECHTS: Was bindet sie?
STIMME VON OBEN: Blut.
STIMME VON LINKS: Was scheidet sie?
STIMME VON OBEN: Blut.
STIMME VON RECHTS: Warum?
STIMME VON LINKS: Wozu?
STIMME VON OBEN: Das wird nicht verraten!
Zwei dunkle Schatten werden von rechts und links in das Erdentor geworfen, wirbeln in den Flammen wie zwei Meteore herum, treffen zusammen, prasseln auf und verlöschen. Gelächter.9
Schon der Beginn des Prologs ist interessant. Die Stimme von oben sagt am Anfang: „Paaret!“, und auf die Fragen nach dem Wesen und dem Sinn der Geschlechterpolarität bzw. der Liebe antwortet sie dann: „Sie werden es glauben.“ Damit ist gemeint: Die Menschen werden es glauben. Es stellt sich die Frage, was dieses Es sei. Hier verwendet Csokor das Pronomen Neutrum auf eine Art und Weise, die an Nietzsches Gedicht Vereinsamt erinnert. Dort heißt es: „Wer das verlor, / was du verlorst, macht nirgends halt.“10 Die Verwendung dieses Pronomens ist das Zeichen einer Menschheit bzw. einer Welt ohne Gott. Für Gott steht nur noch das Zeigepronomen Dies/Das. Mit anderen Worten zeigt das Pronomen in den leeren Himmel: „Die Welt – ein Tor / Zu tausend Wüsten stumm und kalt!“, heißt es in dem zitierten Gedicht. Der Horizont, der sich hier öffnet, ist jener der „transzendentalen Obdachlosigkeit“, von dem Georg Lukacs in seiner Theorie des Romans spricht. Es ist der Horizont nach dem Tod Gottes, in dem die großen Erzählungen ihre Gültigkeit verloren haben, die großen Sicherheiten gefallen sind.
Als Autoren der Avantgarde wollen die Vertreter des Expressionismus mit ihren Werken provozieren. Dementsprechend liegt die Provokation der Roten Straße in der Verkündung der nietzscheanischen Wahrheit, dass Gott tot ist, und dass die Welt, in der wir leben, eine der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ ist. Die Kräfte, die in dieser Welt ohne Gott bestimmend sind, sind allein der Kapitalismus und die Bürgerlichkeit. Das Drama zeigt ihre zerstörende Wirkung, weil sie in ihrer Interaktion die Liebe unmöglich machen.
Die letzten drei Zeilen der Regieanweisung sind eine geballte Zusammenfassung des ganzen Dramas: Die zwei Liebenden werden in die Welt geworfen, zerschellen und gehen zugrunde. Am Schluss wird gelacht. Das Lachen, das hier zum Ausdruck kommt, ist sardonisch, denn es gibt eigentlich nichts zu lachen. Es ist hier eine sehr pessimistische Stimme, die sich zu Wort meldet. Sie verkündet die Weisheit des Silens aus Nietzsches Geburt der Tragödie (1872): „Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben“.11 Das Zitat reflektiert die Überzeugung der Sinnlosigkeit des Lebens, die von den Stimmen „der drei Unverantwortlichen“ im „Prolog“ vertreten wird. Indem sie die Absurdität des Lebens behaupten, nehmen sie die Haltung vorweg, die von Camus in Der Mythos des Sisyphos eingenommen wird.
Eine dieser Stimmen meldet sich zu Wort und spricht über die Liebe. Allerdings wird dieses Liebeskonzept nur ins Spiel gebracht, um sofort dementiert zu werden. Die Liebe wird als das dargestellt, an dessen Verwirklichung man glaubt, aber das Drama zeigt in der Folge, dass dieser Glaube nicht realistisch ist. Das idealistische Konzept der Liebe lässt sich im Stück nicht realisieren. Das Scheitern der Liebe am Wirklichkeitsprinzip ist im Expressionismus nichts Neues, es gehört zum Messianismus-Konzept.12 Die revolutionären Figuren, die in den expressionistischen Dramen das Bürgerliche bekämpfen und einer neuen Welt zum Durchbruch verhelfen wollen, scheitern kläglich, kommen unter die Räder. Das ist zum Beispiel der Fall bei Gas I, einem Drama von Georg Kaiser, das auch deshalb erwähnenswert ist, weil Die rote Straße gerade dem deutschen Dramaturgen gewidmet ist. Nach einem Betriebsunfall in einer Gasfabrik will der Fabrikbesitzer an deren Stelle eine Gartenstadt bauen. In diesem Wunsch werden seine Phantasien einer besseren Welt artikuliert. Aber der Vision des Protagonisten wird nicht stattgegeben: Anstatt der Gartenstadt wird die Gasfabrik wieder aufgebaut, die am Schluss explodiert. Das Stück von Kaiser endet tragisch wie jenes von Csokor. In beiden Fällen geht der expressionistische Traum einer besseren Welt nicht in Erfüllung. Die Zeit ist für die neuen Menschen, für die neuen Propheten noch nicht reif.
Ist der Schluss, zu dem Csokor kommt, im Kontext der expressionistischen Dramatik nicht besonders innovativ, zeigt doch dieser Prolog im Ansatz eine bestimmte Originalität. Diese liegt in der existentiellen Situation, die im Prolog präsentiert wird: Die surrealen und absurden Momente, die darin vorkommen, nehmen das absurde Theater der Nachkriegszeit vorweg. Der Leser (die Leserin) ist hier mit Menschen konfrontiert, die in einer Welt ohne die traditionellen Sicherheiten und ohne die konsolidierten Orientierungspunkte versuchen, ihren Handlungen einen Sinn zu geben. Diese Situation ist mit jener von Warten auf Godot vergleichbar.
Zu den formalen Besonderheiten des Stückes gehört auch die zirkuläre Struktur bzw. die Rondo-Struktur. Die letzte Szene ist identisch mit der ersten. Das erste Bild ist eine Art Prolog zum Drama: Das vierzehnte Bild kehrt an den Anfang zurück, weil es an dem Ort spielt, wo die beiden Protagonisten sich lieben. Das „Er“ ist zerstört. Das könnte man als Hinweis auf die ewige Wiederholung des Gleichen verstehen wie bei Camus’ Mythos des Sisyphos, und auf die Sinnlosigkeit der menschlichen Anstrengungen. Am Schluss des Verzeichnisses der Personen und der Bilder heißt es dementsprechend: „ORT UND ZEIT: Überall und immer wieder“. (6)
4. Csokors Kapitalismus-Kritik: Geld und Sexualität
Die Geschichte, die im Stück erzählt wird, lässt sich leicht zusammenfassen. Er und Sie sind die modernen Pendants von Romeo und Julia, weil sie sich lieben, aber ihren Liebestraum nicht erfüllen können. Csokor stellt im Drama die Frage nach den Gegenkräften, welche die beiden auseinanderbringen. Die Antwort, die der Schriftsteller darauf gibt, ist sehr einfach: Er schreibt die Verantwortung für das Scheitern des Liebesprojekts der doppelzüngigen Moralvorstellung der Bürger zu. Zu der Doppelmoral und Verlogenheit, die zum Beispiel im dritten und im achten Bild kritisiert werden, kommt für den Dramatiker das Geld, der Kapitalismus hinzu. Auch dieser Aspekt der Geld- und Kapitalismus-Kritik ist im Expressionismus nicht neu: Es genügt das Drama Von Morgen bis Mitternacht von Georg Kaiser zu zitieren.13 Originell ist eher die Form, in der diese Kritik vorgetragen wird, weil sie sehr drastisch dramatisiert wird. Aus dem Geld, aus dem Kapital entsteht eine negative Spirale, – so die Dynamik, die Csokor im Drama entwickelt –, welche am Schluss alle positiven Gestalten überwältigt und in die Katastrophe treibt.
Der Motor dieser negativen Dynamik im Stück ist der gelbe Mann, der für Geld und Gold steht. Er ist der Superreiche, der denkt, dass er alles, angefangen von den teuersten Waren bis hin zu Frauen, mit Geld kaufen kann. Er symbolisiert die kapitalistische Idee der umfassenden Käuflichkeit der Welt. Der reiche Mann hatte schon eine Beziehung zur Sie gehabt und versucht, sie mit Geschenken zu kaufen. Nachdem er die Sie mit dem Er zusammensieht, lässt er den Er verprügeln und nimmt die „Sie“ mit Gewalt. Auf diese zentrale Szene müssen wir noch zurückkommen.
Bevor wir auf die Struktur dieser Szene zu sprechen kommen, sei noch auf einige weitere Personen des Stückes eingegangen. Es gibt eine Situation im Drama, in der die Frau dazu gebracht wird, zwischen dem gelben Mann und dem Er wählen zu müssen. Und zu diesem Zeitpunkt treten Personen auf, welche die bürgerliche Welt mit all ihren negativen Eigenschaften repräsentieren: ihre Mutter und deren Verwandter. Beide versuchen, die Sie zu überreden, sich für den gelben Mann zu entscheiden. Beide sind typisch bürgerliche Figuren, die nicht in den Kategorien der Liebe denken, sondern in jenen des Geldes, sie denken an die materiellen Vorteile, die mit der Entscheidung verbunden sind. Die Mutter lobt ihren Schwiegersohn, der seine Familie ernähren kann, empfiehlt der Sie den reichen Kaufmann und disqualifiziert den Dichter als Versager bzw. als „Tunichtgut“ (67):
DIE MUTTER: […] Den Kaufmann verwirfst du um ihn. Mädel, begreifst du denn, was du da machst? Er ist der reichste Mann der Stadt!
SIE: Der hätte mich niemals gefreit.
DIE MUTTER: Er ist der reichste Mann der Stadt.
SIE: Da bleibt dir gleich, was ich für ihn wäre: Gattin oder Geliebte?
DIE MUTTER: […] Ich kann dich nicht zwingen zu deinem Gewinn; aber als Mutter riete ich zu. […] (67)
Der Verwandte der Sie bestätigt die Empfehlung der Mutter:
DER VERWANDTE: […] Dennoch gestatte ich mir, dich zu warnen vor deinem allerneuesten Freund. Ja, ich fühle mich dazu verpflichtet, angesichts einer solchen Verblendung.
DIE MUTTER: „Verblendung“ – das ist es, – der richtige Ausdruck! Du wirst es ihm später noch danken, mein Kind!
DER VERWANDTE: Duckmäuser schon an der Schule, hielt er sich meistens gern abseits. Nun, wir Jungens haben ihn oft schneidig verprügelt dafür. (68)
Als Vertreter der bürgerlichen Logik verteidigen die Mutter und der Verwandter das Prinzip des Ansehens, das in ihren Augen eher durch eine Verbindung der „Sie“ mit dem gelben Mann als mit dem Dichter gewährleistet würde. Und sie stellen die materielle Absicherung höher als die menschlichen Gefühle. So schafft es der gelbe Mann, Mann und Frau erfolgreich auseinander zu bringen.14
Im fünften Bild wird die Kritik an Grundbesitz und Kapital so klar ausgedrückt wie vielleicht in keinem anderen Drama der Zeit. Der gelbe Mann wird richtiggehend dämonisiert. Csokor inszeniert eine Vergewaltigungsszene, die in der expressionistischen Dramatik ihresgleichen sucht. Es ist eine schreckliche Szene, sehr direkt, sehr plakativ, sehr drastisch. Der gelbe Mann tritt wie eine brutale und angsterregende Golem-Figur auf, wie eine riesige, sehr fette Gestalt. Er legt der Sie Gold auf die Brust, und sie macht die Arme auf. Sie weigert sich zunächst, aber dann akzeptiert sie die Gewalt. So wird ihr Körper in Gold vergraben.
DER GELBE MANN (neigt den Sack und lehrt ihn über den Tisch).
SIE (von dem rieselnden Gold auf dem Tisch gleichsam niedergezogen, sinkt rücklings hinein. Ihre Arme stossen immer schwerer darin. Immer schwächer sträuben sich ihre Glieder). Du sollst aber nicht! Du darfst nicht! Oh, wie sengt, diese Kälte! Sie lodert mir durch das Gewand! Sie wühlt ihren zuckenden Stachel in mich! – Nicht! – Das ertrage ich nicht mehr! – Genug! (Völlig in das Gold geglitten, kreuzt sie in letzter Abwehr die Arme über den Brüsten und krampft die Beine zusammen.)
DER GELBE MANN (gleitet den halbvollen Sack die Tischkante entlang zu ihr und legt ihr bedächtig und langsam Gold auf das Herz).
SIE (öffnet die Arme. Röchelnd): Was machst du? – Erbarmen! Ich kann nicht mit dir – ! Ich liebe ihn! Einzig nur ihn! Erbarmen!
DER GELBE MANN (legt Gold in ihren Schoss. Ihre verkrampften Beine weichen auseinander).
SIE (aufgelöst): Schnell! Ende! Ich hasse dich ja! Doch dein ist die Macht! – So ende!
DER GELBE MANN (lässt den Goldsack fallen, der aufklirrt).
SIE (zuckt dabei durch den ganzen Körper, der in die Goldhügel eingesunken ist).
DER GELBE MANN (beugt sich über sie. Sein Antlitz ist von Gier und Qual verzerrt. Er legt die Hände an ihren Leib). (42)
Diese radikale Form des Antikapitalismus lässt sich auch antisemitisch ergänzen bzw. wenden. In diesem Sinne könnte der gelbe Mann als Vertreter der vermögenden Juden gelten und die Vergewaltigungsszene als Spiegel der Angst, die reichen Juden würden den Deutschen ihre Frauen wegnehmen. Herbert Lackner zitiert beispielsweise eine Warnung aus der Bundesturnzeitung, dem Mitgliederblatt des Deutschen Turnerbunds:
Jüdische Ladenjünglinge und Kommis, Börsenschieber und Lebemänner aller Art sind es, die jährlich unzählige deutsche Mädchen verführen und untauglich machen zur gesunden Ehe. Gerade ihr Blonden seid es, auf die es der Fremdrassige abgesehen hat! Mit Haß denkt er, der sich selbst als Fremder fühlt, an alles Nichtjüdische, höchste Wollust und grausame Freude bereitet es ihm, euch, ihr blonde Mädel, zu unterjochen!15
Auch das zweite Bild thematisiert die sexuelle Problematik. Als der Grundbesitzer auftaucht, der den Er und die Sie von dem Hügel vertreiben will, wo sie sich zurückgezogen haben, versucht er die junge Frau zu verführen:
DER GRUNDBESITZER (fett grinsend): Jung scheint die Jungfer nach Stimme und Form? (Nähert sich ihr) Sind mir die Augen dumpfig im Dunkel, Sinne und Glieder verbleiben mir frisch. Ungastlich wäre ich nicht, schöne Fremde. Abendbrot, – ohne den Burschen, – wir beide, – Bad – und ein wonniges Bettlein -? (16)
In dem erregten Gespräch, das darauf folgt, droht der Grundbesitzer dem Er, die Hunde auf ihn los zu lassen, und fügt hinzu: „Ich schone Ihn nur, weil Sein Hürlein mich dauert, Er Lump! (Ab rechts mit den Tieren.)“ (18) Ähnlich wie beim gelben Mann betrachtet der Grundbesitzer die junge Frau als Objekt, das man sich zu eigen machen und mit Verachtung behandeln kann. Hier kommt eine brutale Ökonomisierung des Erotischen zum Ausdruck: Die Frau gerät in ökonomische Zwänge, sie muss sich der Gewalt des gelben Mannes beugen, weil der Dichter sie nicht unterhalten kann. Es ließe sich die Frage stellen, ob nicht an der besonderen Akzentuierung der Kritik am Kapital in Verschränkung mit der sexuellen Thematik die spezifisch österreichische Couleur des Stückes liegt. Denn es gibt auch andere Dramen des deutschen Expressionismus, welche die Macht des Geldes und des Kapitals kritisieren – in erster Linie Von morgens bis mitternachts des von Csokor so bewunderten Georg Kaiser.16 Allerdings wird diese Kritik hier nicht in expliziter Verbindung mit Gewalt- bzw. mit Vergewaltigungsphantasien artikuliert. War Wien der Nährboden für eine solche drastische Darstellung des Zusammenhangs von Geld und Sexualität? Dafür sprechen Werke wie Arthur Schnitzlers Reigen oder Fräulein Else, wo der Zusammenhang von Sexualität und Geld eine prominente Rolle spielt: In Fräulein Else wollen die Eltern der Protagonistin ihre Tochter dazu bringen, sich praktisch dem Vetter zu verkaufen, um die Ehre der Familie zu retten.
Darüber hinaus konnte in Wien auch ein Werk wie Josephine Mutzenbacher (1906) erscheinen, in der pornographische Phantasien der schlimmen Sorte dargestellt werden. Totale sexuelle Promiskuität bis hin zu Inzest und Pornographie waren wichtige Themen der Literatur der Wiener Moderne. So waren in manchen Männerköpfen diese drastischen sexuellen Phantasien schon sehr entfaltet. Dass sie oft mit Gewaltphantasien verbunden waren, zeigt ein Stück wie Kokoschkas Mörder. Hoffnung der Frauen. Mit Blick auf Wien belegt auf jeden Fall der Nachlass von Csokor, dass Weiningers Werk Geschlecht und Charakter für seine besondere Akzentuierung der Geschlechterthematik verantwortlich war.
Bei Versuch, seinen Liebestraum zu verwirklichen, scheitert das Paar allerdings nicht nur an der Feindseligkeit der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch an sich selbst. Neben der Kritik am Gesellschafts- und Wirtschaftssystem rückt Csokor „die irdischen Ursachen und die von Menschen geschaffenen Bedingungen für das Leiden an der Liebe ins Blickfeld.“17 Nach der Vergewaltigung finden der Mann und die Frau nicht mehr zueinander. Obwohl sie davon überzeugt sind, füreinander geschaffen zu sein, fangen sie an, sich zu quälen und die Gefühle des anderen in Frage zu stellen, sie schwanken zwischen extremer Liebe und äußerstem Hass. Selbst die Schwangerschaft der Frau und die Aussicht auf die Geburt eines Kindes bedeutet nicht wie in vielen expressionistischen Dramen das Versprechen einer besseren Zukunft. Der Mann quält sich selbst und die Frau, weil er befürchtet, das Kind könnte vom gelben Mann sein. Die Frau hingegen wirft ihm Mangel an Empathie, Egoismus sowie Selbstbezogenheit und Neid vor:
SIE (ausbrechend): Klage nicht andere an! Nie drohten Dämonen um dich! Nur du wirst sie ewiglich wittern, weil du selber den ärgsten im Blut hast! Denn du allein bist der Satan für dich und für jeden an dir! Mein Leben sogst du mir aus, dass ich mich sah, sprach und fühlte durch dich! Jetzt aber erfuhr ich es erst: Die Menschen, vor denen du warntest, sind tausendmal besser wie du, du neidischer Krüppel im Herzen! (109)
Dann stirbt die Frau bei der Geburt ihres Kindes und mit ihr auch das Kind. Wie in vielen expressionistischen Texten bleibt „er“ am Schluss alleine zurück. Im letzten Bild bäumt sich noch der Protagonist gegen Gott, der auf seine Klagen nicht hören will – schon im sechsten Bild war das Kreuz, an dem er sich festhalten wollte, bezeichnenderweise auf ihn heruntergefallen –, wird aber schließlich von einem Blitzstrahl niedergeschlagen und stirbt. Der Kampf der Geschlechter18 endet mit einer Niederlage des Mannes und der Frau.
Ein wichtiges Thema im Stück ist die Mutterschaft, die auch sonst im Expressionismus eine prominente Rolle spielt, weil das von der Mutter zur Welt gebrachte Kind für die Utopie bzw. das „neue Geschlecht“ (Theodor Tagger) steht. Dadurch, dass die Mutterschaft das Neue repräsentiert, wird sie symbolisch überhöht und bekommt eine poetologische Dimension. Darüber hinaus werden in der Literatur durch die Reflexion von Schwangerschaft und Geburt soziologisch relevante Themen wie Verhütung, ungeklärte Schwangerschaft und Tod im Kindbett sichtbar gemacht.
5. Die rote Straße im literaturhistorischen Kontext (Maeterlinck, Brecht, postdramatisches Theater)
Bei den Zeitgenossen erntete das Stück von Csokor kaum Zustimmung. Anlässlich einer Aufführung am Wiener Raimund-Theater im März 1922 konzentriert sich Robert Musil mit beißender Ironie auf die problematischen Aspekte der ekstatischen Sprache. Er stellt zunächst das „Rabengekrätze“ an den Pranger: „Es krächzen nämlich die Raben, um das unheimlich Unterhöhlte einer Landschaftsstimmung zu betonen oder das eines ersten Kusses.“19 Außerdem legt er den Finger auf das „Ideengebell“: „Diese bloß evokative Tätigkeit ist objektiv von der des heulenden Hundes nicht unterschieden, wenn sie auch subjektiv auf einem reicheren Geistesleben ruht.“20 Und schließlich kritisiert er den „Schwulst“ im Stück. Als Korrektiv für diese Fehler empfiehlt er Csokor „mehr Nüchternheit vor dem Rausch und größere Strenge gegen das Gefühl“.21
So wie Musil steht auch Alfred Polgar dem Expressionismus kritisch gegenüber. 22 Er bestätigt die Einwände von Musil gegen die Sprache von Csokor: “Dieser junge Poet liebt das Pathos um des Pathos willen“.23 Außerdem erscheint ihm das Motiv der imitatio christi in den expressionistischen Dramen wenig originell: „Kein pathetisches Drama seit 1918, in dem das Kreuz nicht ragte. In hoc signo spreizt sich die Talentlosigkeit genialisch (Das gilt nicht für Csokor, der Talent hat und mehr als Talent“.24
Die Originalität des Dramas liegt für Polgar auf jedem Fall in dessen existentialistischem Pessimismus:
Klage ob der Bedingtheit der Kreatur schönt als obstinater Baß durch das Werk. Stimme höllischer Ironie klingt darüber hin. Csokor ist ein Musikant der Schwärze. Von den Finsternissen des Lebens fehlt keine bessere in seinem Werk. Lues und Leichenkammer, Schindanger und Findelhaus, Bordell und Narrentum.25
Theodor Sapper, der mit seinem Buch Alle Glocken der Welt (1974) als einer der ersten auf die Besonderheit des österreichischen Expressionismus aufmerksam gemacht hat, vertieft den negativen Befund von Polgar noch mehr. In seinen Augen adaptiert Csokor Strindbergs Stationentechnik anders als die meisten expressionistischen Dramatiker, denn die Entwicklungsstufen der Protagonisten würden nicht zu ihrer Wandlung, sondern „nach abwärts“ führen:
Jede von deren [von Die rote Straße, A. L.] Stationen unterbietet, unterschreitet die ihr vorausgegangene. Zuletzt halten die beiden Leidgeprüften, die keinen anderen Namen tragen als „Er“ und „Sie“, an einem tiefsten Punkt. Diesen überragt die vage Möglichkeit, daß geholfen werde, nur noch vom Metaphysischen her. Was irdische Realität war – es ist verloren, verspielt worden. Ein solches Herabsteigen der „Stufen des Wahnsinns“ hat vor Csokor, kein Expressionistendichter Österreichs erbracht! 26
Wenn man das Stück von Csokor aus heutiger Sicht betrachtet und in einen breiteren literaturhistorischen Kontext stellt, dann kommen andere Assoziationen auf. Zunächst sind Überbleibsel des Symbolismus festzustellen. Man kann zum Beispiel eine gewisse Nähe zu den Stücken von Maurice Maeterlinck erkennen, insbesondere zu Les Aveugles (Die Blinden) aus dem Jahr 1891. Das erste Bild der Roten Straße, in dem Mann und Frau auf einem Hügel stehen und sich über sehr fundamentale Dinge unterhalten, erinnert an dieses schöne, aber sehr beklemmende Stück von Maeterlinck. Hier machen zwölf Blinde einen Ausflug in einen Wald in Begleitung eines Priesters, der plötzlich verschwindet und sie alleine lässt. Ohne den Priester verlieren sie die Orientierung, wissen nicht mehr, wo sie hingehen sollen, und warten die ganze Zeit auf Rettung. Im Verlauf des Stückes wird klar, dass sie vergebens warten, weil der Priester tot ist. Das Symbolistische daran ist, dass zwölf die Zahl der Apostel ist und der Priester für Jesus steht. Außerdem sind die zwölf Blinden das Symbol der Menschheit, die den Kompass verloren hat und nicht mehr weiß, wohin sie sich orientieren soll. Der Vergleich der beiden Stücke zeigt, dass sich sowohl bei Maeterlinck als auch bei Csokor Ansätze finden, die das Theater des Absurden vorwegnehmen.
Wenn man hingegen das sechste und das dreizehnte Bild hervorhebt, dann kann man einige Bezüge zu den Stücken von Bertolt Brecht herstellen. Das sechste Bild spielt im Bordell, im Krankenhaus und im Irrenhaus, hier treten randständige Figuren wie Kranke und Verrückte auf. Ganz wichtig ist die Dirne, die versucht, den Protagonisten nach der Vergewaltigung der Geliebten zu trösten, wenn auch für kurze Zeit. Im dreizehnten Bild bedankt sich dieser sehr emphatisch für ihre Güte und sucht wieder Zuflucht bei ihr, nachdem er Geliebte und Kind verloren hat:
ER: […] Siehst du, ich bin doch so einsam und müd; und vielleicht geht es dann wieder vorüber, was mich soeben gestampft hat? Gütig wie damals, wo du mich trafest. Gütig wie später, trotz Schelte und Hiebe, wenn mich mein heulendes Herz überkam. Gütig, weil du meine Nöte verstandest, draus mich doch niemand so rettet wie du! Gütig, denn du bist die einzige, letzte, Gattin und Mutter in einer Gestalt. (124-125)
Obwohl sie das tragische Schicksal des Mannes nicht abwenden kann, ist die Dirne imstande, für den Protagonisten Empathie zu empfinden, während er von den Vertretern der bürgerlichen Mentalität missachtet wird.
Die Aufwertung von deklassierten Figuren wie jener der Prostituierten durch den Expressionismus 27 verdient zwar als Ausdruck des typischen O-Mensch-Pathos den Spott von Kritikern wie Polgar: „Der bekannte Bruder erscheint nicht in der ‚Roten Straße‘, wohl aber Schwester Dirne.“28 Den Randfiguren der Gesellschaft gehört jedoch zum Teil die Zukunft der nachexpressionistischen Dramatik. Bertolt Brecht ist einer der ersten Dramatiker, der sie nobilitiert, und mit Gestalten wie der Heiligen Johanna der Schlachthöfe (1928-1929) und Mutter Courage (1939) richtige Antiheldinnen auf die Bühne bringt. Der Geist der Barmherzigkeit bei der Dirne von Csokor ist zum Teil mit der Haltung der Missionarin bei der Heiligen Johanna verwandt, freilich fehlt bei ihm die marxistische Perspektive von Brecht.
Darüber hinaus lassen sich im Stück auch Momente des naturalistischen Theaters wiedererkennen: Die Art und Weise, wie die Frau in ein System von Zwängen zerrieben wird, ohne Aussicht auf eine Befreiung, erinnert sehr stark an Stücke wie Die Weber von Hauptmann und entfernt sich daher vom O-Mensch-Pathos des Expressionismus. In der expressionistischen Logik eher ist die Liebe eher der Motor einer Transformationsdynamik, die das Alte überwindet („amor omnia vincit“) und über die bürgerliche Lebensweise hinausführt.
Bei Csokor wie bei Gerhart Hauptmann lässt sich außerdem die Tendenz feststellen, Texte zu verfassen, die sowohl als Theater- als auch als Lesedramen konzipiert sind. Im zehnten Bild der roten Straße gibt es zum Beispiel eine Regieanweisung, die lang und komplex ist:
SCHAUPLATZ
Ein kellerartig gelegener Vorraum von geringer Tiefe, in den aus einer hochgelegenen eisernen Seitentüre links verwitterte Steinstufen niederführen. Die kahle kalkweisse Hintergrundwand wird in ihrer Mitte durch eine geschlossene Schiebetüre mit grosser Milchglasscheibe unterbrochen, die der dahinter gedachte Saal matt erhellt. Aus der Stiegenwand links ragen Kleiderhaken; ein alter abgeschabter Männermantel nebst Hut und Stock hängen daran. In der Ecke rechts steht ein kleiner geheizter Blechofen, dessen lange gebogene Röhre sich wie ein riesiger Wurm in die Wand bohrt. Schaufel und Kohle liegen daneben.
Notdürftig erleuchtet diesen Vorraum eine Flaschenkerze auf einem Tischchen neben der Mitteltüre. Ein breiter altväterischer Stuhl ist darangerückt, in dem pfeifeschmauchend, die Hornbrille in die Stirne geschoben, der Wärter sitzt, ein uralter Mann, der sich bei dem Kerzenschein mittels einer Lupe einen halbverlöschten Brief besieht. Andere Briefe, sowie ein Strick, ein rostiges Messer, ein ebensolcher Revolver, ein dickes grünes Geschäftsbuch und ein Bleistift liegen noch auf dem Tisch. Es ist Nacht. (83)
Dies sind Beschreibungen, die eher für die Lektüre bestimmt sind als für die Aufführung.
Weist Die rote Straße einige Elemente auf, die auf dem Theater schwer umsetzbar und daher für die Gattung des Lesedramas typisch sind, ist es doch auf der anderen Seite ebenso möglich, strukturelle Eigenschaften hervorzuheben, die zum postdramatischen Theater im Sinne von Hans-Thies Lehmann gehören könnten.29
Obwohl sie das tragische Schicksal des Mannes nicht abwenden kann, ist die Dirne imstande, für den Protagonisten Empathie zu empfinden, während er von den Vertretern der bürgerlichen Mentalität missachtet wird.
Die Aufwertung von deklassierten Figuren wie jeder der Prostituierten durch den Expressionismus30 Das wären zum einen die visuellen Effekte, die bei Csokor zur Charakterisierung der Figuren eingesetzt werden. Während sich im dramatischen Theater die Gestalten aus den Dialogen entfalten, arbeiten expressionistische Autoren mit visuellen Effekten bzw. sie inszenieren Typen. Dazu gehören auch die surrealen Aspekte des Dramas, die zum Beispiel im dritten Bild zum Ausdruck kommen. Mit diesen Tendenzen partizipiert das Stück an den experimentellen Ansätzen des avantgardistischen Theaters in den zwanziger Jahren.
1 Vgl. Thomas Anz, Literatur des Expressionismus, Stuttgart Weimar, Metzler 2002, S. 44f. 127f.
2 Vgl. Primus-Heinz Kucher, „Die Wollust der Kreatur […] gemenget mit Bitterkeit“. Versuch über den vergessenen Expressionisten Franz Theodor Csokor, in: Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste, hrsg. von Klaus Amann und Armin A. Wallas, Wien Köln Weimar, Böhlau 1994, S. 417-436.
3 Vgl. zum Beispiel Wolfgang Nehring, Fronten ohne Front: Zur späten Analyse des Novembers 1918 durch Franz Theodor Csokor – in Dritter November 1918, in: Österreich 1918 und die Folgen. Geschichte, Literatur, Theater und Film, hrsg. von Karl Müller und Hans Wagener, Wien Köln Weimar, Böhlau 2009, S. 89-102.
4 Vgl. Paul Wimmer, Der Dramatiker Franz Theodor Csokor, Innsbruck, Univ.- Verlag Wagner 1981.
5 Vgl. seinen programmatischen Aufsatz: Die neue dramatische Form. Die Wandlung und ihre Gründe, in: Die neue Schaubühne 3 (1921), H. 2, S. 27.
6 Zit. nach Primus-Heinz Kucher, „Die Wollust der Kreatur […] gemenget mit Bitterkeit“, S. 432. Die Aussage stammt aus dem Nachlass von Csokor, der in der Wiener Stadtbibliothek aufbewahrt wird.
7 Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart Weimar, Metzler 1998, S. 172.
8 Jakob van Hoddis: Weltende, in: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, hrsg. von Kurt Pinthus, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 2009, S. 39.
9 Frank Theodor Csokor, Die rote Straße. Ein dramatisches Werk in vierzehn Bildern (Nachdruck der Ausgabe Weimar 1918), Nendeln/Lichtenstein Klaus Reprint 1973. S. 7-8. Von nun an Seitenzahl in Klammern.
10 Friedrich Nietzsche, Vereinsamt, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin New York, DTV 1980, Bd. 11: Nachgelassene Fragmente, 1884 – 1885, S. 329. Das Gedicht ist auch unter dem Titel Freigeist bekannt.
11 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV, a.a.O., S. 35. Csokors Anlehnung an Nietzsche ist kein Einzelfall, denn der frühe Nietzsche spielt im Expressionismus eine große Rolle. Vgl. Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart u.a., 1971; Silvio Vietta, Zweideutigkeit der Moderne. Nietzsches Kulturkritik, Expressionismus und literarische Moderne, in: Die Modernität des Expressionismus, hrsg. von Thomas Anz und Michael Stark, Stuttgart u.a. Metzler 1994, S. 9-20.
12 „Dass die Liebe […] ihre Fähigkeit verloren [hat], die Individuen zueinander zu führen“, ist ein pessimistischer Standpunkt, der bereits in der Literatur der Jahrhundertwende (etwa von Ludwig Klages, Lou Andreas-Salomé) vertreten wird (Vgl. Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Aus dem Französischen übersetzt von Robert Fleck, Wien, ÖBV 1990, S. 49f.)
13 Zur expressionistischen Kritik an der Geldherrschaft als Basis des kapitalistischen Systems vgl. Wolfgang Rothe, Der Expressionismus. Theologische, soziologische und anthropologische Aspekte einer Literatur, Frankfurt am Main, Klostermann 1977, S. 255f. Dort (S. 256) gibt es auch einen Hinweis auf die Geldkritik in Csokors Drama Ballade von der Stadt (1928).
14 Im Personenverzeichnis steht der gelbe Mann nicht zufällig zwischen den beiden, auch räumlich. Das ist eine kleine Raffinesse von Csokor, um auf die Rolle des gelben Mannes als Hindernis zwischen den beiden hinzuweisen.
15 Herbert Lackner, Als die Nacht sich senkte. Europas Dichter und Denker zwischen den Kriegen – am Vorabend von Faschismus und NS-Barbarei, Wien, Ueberreuter 2019, S. 84.
16 Csokor widmet Georg Kaiser sein Stück Die rote Straße. Außerdem führt er Regie bei der Aufführung von Kaisers Kanzlist Krehler im April 1922 im Akademietheater. Von 1923 bis 1927 wirkt Csokor als Dramaturg und Regisseur am Raimund-Theater und am Deutschen Volkstheater in Wien.
17 Harald Klauhs, Franz Theodor Csokor. Leben und Werk bis 1938 im Überblick, Stuttgart, Heinz 1988, S. 171.
18 Aus dem Nachlass von Csokor geht hervor, dass dieser sich intensiv mit den Theorien von Otto Weininger auseinandergesetzt hat und mit seinem Stück darauf ‚antworten‘ wollte. Laut Primus- Heinz Kucher findet im Stück „beinah eine Verkehrung der Weiningschen Typologieschemata“ (P.-H. K., “Die Wollust der Kreatur […] gemenget mit Bitterkeit”, S. 430) statt.
19 Robert Musil, Wiener Theater [30. März 1922], in: Ders., Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. von Adolf Frisé, Bd. 9: Kritik, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1978, S. 1564-1568; hier S. 1566.
20 Ebenda.
21 Ebenda, S. 1567.
22 Vgl. Fabrizio Cambi, Musil und der Expressionismus, in: Robert Musil und die kulturellen Tendenzen seiner Zeit. Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1982, hrsg. von Joseph Sturz und Johann Strutz, München, Fink 1982, S. 59-73.
23 Alfred Polgar, Franz Theodor Csokor, Die rote Straße [1922], in: Ders., Schriften, hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit von Ulrich Weinzierl, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 1985, S. 233-235; hier S. 234.
24 Ebenda, S. 234-235.
25 Ebenda, S. 234.
26 Theodor Sapper, Alle Glocken der Welt. Expressionistische Dichtung aus dem Donauraum, Wien 1974, S. 89.
27 Vgl. Ralf Georg Bogner, Einführung in die Literatur des Expressionismus, Darmstadt, WBG 2005, S. 67.
28 Alfred Polgar, Franz Theodor Csokor, Die rote Straße [1922], S. 234.
29 Zur Definition vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main, Verlag der Autoren 1999.
30 Vgl. Ralf Georg Bogner, Einführung in die Literatur des Expressionismus, Darmstadt WBG 2005, S. 67.