Beatrice Wilke
(Universität Salerno)
bwilke@unisa.it
Abstract
Ziel dieses Beitrags ist es zu untersuchen, wie der pragerdeutsche Autor Egon Erwin Kisch (1885-1948) das komplexe Thema des Kriegserlebnisses als Soldat 1914/15 in seinem 1930 veröffentlichten Kriegstagebuch „Schreib das auf Kisch!“ darstellt und versprachlicht bzw. konzeptualisiert, um seine Haltung gegenüber dem Kriegsgeschehen und seine daraus resultierenden inneren Umbrüche zu verstehen. Anhand von Textbelegen werden vor allem lexikalische Einheiten fokussiert, insbesondere ihre metaphorische Verwendung.
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Einleitung
Bekannte Literaten und Intellektuelle nahmen im Herbst 1918 in Wien an den politischen Aktivitäten teil, die zum Fall der Habsburgermonarchie sowie zur Ausrufung der (deutsch-)österreichischen Republik führten: unter ihnen Egon Erwin Kisch, gebürtiger Prager deutsch-jüdischer Herkunft, der später als „rasender Reporter“ im Bereich der Reportageliteratur weltbekannt wurde. So besetzten am 12.11.1918 einhundertfünfzig Mitglieder der Wiener „Roten Garde“, die der frühere k. u. k. Oberleutnant und nunmehrige Journalist Kisch (gemeinsam mit Leo Rothziegel und dem Korporal Stephan Haller am Tag zuvor) gegründet hatte1, von ihm angeführt, die Redaktion der Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“ und erzwangen den Druck einer Sonderausgabe über die Ausrufung der sozialistischen Republik. In jenen Umbruchsmonaten berichtete die Zeitung „Neues Wiener Journal“ am 19. Januar 1919: „Die erste öffentliche Heerschau des Kommunismus in Wien war alles, nur keine Parade. […] Dann spricht der Schriftsteller Egon Erwin Kisch, der Vater der Roten Garde in Wien. Offiziersmantel, Distinktion vom Kragen abgetrennt, die Kappe zerknüllt in der geballten Faust, so spricht er von irgendeinem geschwind erstellten Podium“2.
Der österreichische Journalist und Reiseschriftsteller Richard A. Bermann erinnert sich an diesen Tag: „Ein anderer meiner alten Bekannten, der Schriftsteller Egon Erwin Kisch, legte damals seine Offizierskokarde und seine beiden goldenen Oberleutnantssterne auf jeder Seite des Uniformkragens öffentlich ab, während einer Rede, die er einer um das Deutschmeisterdenkmal zusammengerotteten Gruppe von Soldaten hielt“3. Obwohl Kisch von mehreren Seiten kritisiert wurde4, eher aus „Eitelkeit und theatralischem Geltungsdrang“ als aus „drängende[m] sozialen Gewissen“5 bzw. unbestreitbarer politischer Überzeugung gehandelt zu haben, signalisiert diese symbolische Tat – das „Verschwinden der kaiserlichen Kokarden“6, eines Hoheitsabzeichens, das auf den Uniformen oder den Mützen der Soldaten angebracht war –, wie Norbert C. Wolf hervorhebt, „eine vollendete Implosion gesellschaftlicher Hierarchien, die vordem für unerschütterlich galten“7.
Doch war Kisch nicht immer so revolutionär gesonnen. Sieben Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs schrieb der damals 22-Jӓhrige am 9. Oktober 1907 an seinen Bruder Paul8: „Schau, daß du gesund wirst und redlich dienen kannst. Das einzige, was Dich aus Deinem engen Kreis herauszureißen vermag, Dich mit anderen Menschen, mit anderen Lebenszwecken in Berührung bringt, das einzige, was Dich auch ein bißchen Unrecht-Leiden lehren kann […] – ist nur das Militär“9.
Die Frage, die sich stellt, ist: Was hat dazu geführt, dass Kisch vom nüchternen „genauen Beobachter“10 der Geschehnisse des Ersten Weltkriegs zum Pazifisten und Sozialrevolutionär wurde, der, wie sich Guido Žamis erinnert11, „gemeinsam mit Haller unter den Soldaten gewaltig agitier[te], wo immer diese sich sammelten“12?
Neben seinem bereits erwähnten persönlichen Geltungsstreben war das Kriegserlebnis ausschlaggebend für diese inneren Umbrüche.
Der Aussage Arno Dusinis folgend, dass Tagebücher Sprechakte darstellen13, kann eine Analyse aus sprachlicher Perspektive der Aufzeichnungen, die Kisch während des Kriegsalltags als Soldat 1914/15 in seinem Kriegstagebuch verzeichnete, aufschlussreich sein, um seine Haltung gegenüber dem Kriegsgeschehen zu verstehen. Anhand von Textbelegen möchte ich daher aufzeigen, wie Kisch das komplexe Thema des Kriegserlebnisses versprachlicht bzw. konzeptualisiert, auf welche lexikalischen Einheiten und insbesondere Metaphern14 er in seiner Berichterstattung zurückgreift, um auf den Kriegsalltag Bezug zu nehmen. Denn gerade der Metapher wird eine wichtige wirklichkeitskonstituierende Rolle im Bereich der sprachlichen Kategorisierung der Welt beigemessen15.
- Schreib das auf, Kisch! – Egon Erwin Kischs Kriegstagebuch
Kischs Kriegstagebuch erschien erstmals 1922 unter dem Titel Soldat im Prager Korps, wurde dann 1930 mit dem geänderten Titel als Schreib das auf, Kisch! Das Kriegstagebuch von Egon Erwin Kisch neu herausgegeben16 und schließlich 2014, als sich zum hundertsten Mal der Ausbruch des Ersten Weltkriegs jährte, vom Aufbau-Verlag wieder veröffentlicht. Es behandelt nur die ersten acht Kriegsmonate: Die Tagebuchaufzeichnungen setzen am 31. Juli 1914 ein, nachdem der damals knapp 30-jährige Kisch von der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien erfahren hatte und im Zuge der Mobilmachung als Reservist bei einem Infanterieregiment im südböhmischen Pisek einrückte, und enden am 22. Mӓrz 1915, als Kisch verwundet in seine Heimatstadt Prag zurückkehrte. Mit seinem Regiment, das zum „Prager“ VIII. Korps gehörte, nahm Kisch am ersten Feldzug gegen Serbien 1914 teil. Er erlebte unter anderem die Niederlage der Österreicher an der Drina mit. Im Februar 1915 wurde Kisch mit dem Prager Korps an die russische Front verlegt, wo er am 18. März durch eine Granate schwer verletzt wurde.
Obwohl Kischs gedrucktes Tagebuch, wie Ulrich Sieg hervorhebt, nachträglich in stilistischer und inhaltlicher Hinsicht leicht überarbeitet worden ist, besitzt es aufgrund der Beobachtungsgenauigkeit und sprachlichen Prägnanz seines stets um Sachlichkeit bemühten Autors einen beträchtlichen Quellenwert17. Kischs Tagebuch – wie auch die von anderen Zeitgenossen verfassten Kriegstagebücher aus dem Ersten Weltkrieg – sind wertvolle Dokumente, Kriegszeugnisse, enthalten Details, Berichte und Beschreibungen über Kriegsgeschehnisse, Gedanken und Sorgen der einfachen Soldaten, die in keinem Geschichtsbuch wiederzufinden sind: „Das Tagebuch eines Soldaten, das erste Kriegsbuch, das den vergessenen Heroismus der national zusammengewürfelten Truppen der österreichischen Monarchie aus der Froschperspektive des Infanteristendaseins gesehen, vor Vergessenheit bewahrt“18. Kisch schrieb seine authentischen Aufzeichnungen an der Front völlig unmittelbar in seine Notizbücher, inmitten des Kriegsschauplatzes, „meist mitten im Abenteuer, niemals aber später denn vierundzwanzig Stunden nach dem Erlebnis“19 wie er mehrfach selber unterstreicht: „Gestern hatte ich als Schreibunterlage für mein Tagebuch den Reisekoffer des Reserveoffiziers, manchmal schreibe ich auf Patronenverschlägen“ (KT, 76). Mit den Worten „Schreib das auf, Kisch!“ baten ihn seine Kameraden immer wieder, er möge die Strapazen des Soldatenlebens an der Front aufzeichnen. „Schreib das auf, Kisch!“ wurde, neben dem Prädikat „rasender Reporter“, nicht nur zum Titel von Kischs Kriegstagebuch, sondern zu der zweiten populären Wendung, die mit seinem Schaffen assoziiert wird.
2.1. Struktur und Merkmale von Kischs Kriegstagebuch
Kischs Kriegstagebuch gestaltet sich sehr facettenreich. Mit Selbstironisierung einerseits und vermeintlicher Faktenpräzision andererseits verfasst, setzt es sich zusammen aus Erlebnisberichten über die Schlachten, in denen tausende Soldaten ihr Leben verloren, die erschöpfenden Gewaltmärsche, die eintönigen Wochen in den Feldlagern und Schützengrӓben, kritischen Kommentaren und Reflexionen – unter anderem zu sozialen und politischen Fragen im damaligen Europa –, die sich mit Momenten idyllischer Landschaftsbeschreibung, literarischen Zitaten und Verweisen, Kriegswitzen, Sprüchen, Gesprächen mit Kameraden und vielem mehr mischen20. Außerdem enthält es einige Briefe an die Mutter.
Als Kisch zu Beginn des Ersten Weltkrieges seinen Einrückungsbefehl erhielt, war er bereits ein bekannter Journalist21. Seine Reportagen in der Prager deutschen Zeitung „Bohemia“, sein Roman Der Mädchenhirt und die Enthüllung des Spionagefalls Oberst Redl hatten dazu beigetragen. „Kisch war ein Mann, der sich in der Geschichte und in der Zeitgeschichte auskannte […]“22 und nicht nur das, er war ein Kulturmensch, er war gereist, belesen und kannte sich in Kunst und Literatur bestens aus, was immer wieder in seinem Tagebuch zum Vorschein tritt, wo er oftmals literarische Bezüge in seine – teils sehr ironischen – Einträge einflocht, wie folgende Belege zeigen:
Der Nachmittag brachte Abwechslung in unser Lageridyll. Ein nackter Mann kam atemlos zu uns gelaufen und sank zu Füßen unseres Oberleutnants nieder, wie der Neger Freitag vor Robinson. Er stöhnte und gewann erst nach und nach die Sprache wieder. (KT, 72)
Früh: Mit Meldungen zur Division nach Bosnisch-Rača. […] Mitten im Fluss war eine Mühle auf eine Sandbank aufgefahren, die Bretter weggeschwemmt, nur das Mühlrad streckte sich groß und ungefügig wie ein totes Ungetüm über den Wasserspiegel der Save. Es fiel mir ein, ob das nicht die Wassermühle aus Syrmisch-Rača sei, die ich mir vor Monatsfrist mit dem Amtmann, der Hebamme und den anderen mystisch-grausamen Gestalten der »Kronbraut« belebt hatte. (KT, 160-161)
Beobachtungen zum Sprachgebrauch wie im Falle der deutschen Bewohner von Bács-Bodrogh sind in das Tagebuch eingestreut sowie Beschreibungen, die das Kriegstagebuch stellenweise einem Reisetagebuch oder sogar einem Reiseführer ähneln lassen. Kisch zeichnet Interessantes und Bemerkenswertes über fremde Gegenden und Kulturen auf, während er zur gleichen Zeit das Elend des Kriegsalltags am eigenen Leib erfährt:
Die Leute sprechen korrektes Deutsch, aber statt „bitte“ sagen sie „tessék“, was ungarisch ist, statt „Kartoffel“ sagen sie „krumpirn“, was serbisch ist, und statt „Trikot“ sagen sie „Duxer“, was auch aus irgendeiner Sprache ist. (KT, 275)
Die Nacht verbrachte ich, mich übergebend, auf dem Hof. Gegen Morgen schlief ich ein, wurde aber gleich geweckt: die Hühner waren um die wiedergegebenen Reste meiner gestrigen Weihnachtsmahlzeit in lauten Streit geraten.
In den Straßen ist Kirchgang. Bäuerinnen in geblümten Kopftüchern, Mädchen mit unbedecktem Haupt und Gretchenfrisur, alle Frauen haben den bordeauxroten oder dunkelvioletten Seidenrock über gestärktem Unterrock, so dass sie aussehen, als stolzierten sie in Krinolinen. Außerdem tragen sie Spitzenschürzen, um die Brust ein wollenes Tuch mit Borten und Fransen, am Hals ein Kreuz an goldenem Kettchen, und an einem Seidenband baumelt ein großes Medaillon mit Photographie von Vater, Mutter oder Gatten. Sie halten das Gebetsbuch in beiden Händen vor dem Leib und plappern in deutscher Mundart. Sind wir in Thüringen? Nein, in Südungarn, in der Bácska.
Ich bin meine Läuse immer noch nicht los, obwohl ich das Hemd schon oft gewechselt und beinahe meine ganze Löhnung, die ich endlich behoben, für Wäsche ausgegeben habe. (KT, 257)
- Repräsentation und Versprachlichung des Kriegserlebnisses in Schreib das auf Kisch!
Der Einberufungsbefehl zum Ersten Weltkrieg erreichte Kisch in Berlin. Er rückte zwar als loyaler Soldat der Österreichisch-Ungarischen Armee ein, lehnte es aber ab, ihr im Kriegspressequartier als „Historiograph“ zu dienen, also Kriegspropaganda zu schreiben, denn er hatte – vorausschauend – „das Gefühl, eine historische Zeit zu erleben, die Unmöglichkeit, die wichtigsten meiner Erlebnisse derzeit publizistisch preiszugeben“ (KT, 9), wie er am ersten Tag seiner Tagebuchaufzeichnungen vermerkt.
Zuerst erscheint ihm der Krieg als Abenteuer. Obwohl sich Kisch – im Gegensatz zu den meisten anderen Soldaten – der Tragweite der Kriegserklärung von Anfang an bewusst war, „die nicht viel anderes zu bedeuten scheint als einen großen europäischen Krieg, einen – Weltkrieg“ (KT, 18), erinnert die Zugfahrt, der Vormarsch an die serbische Front, an mehreren Stellen seines Tagebuchs an eine Urlaubsreise: Während der Rasten auf den verschiedenen Bahnhöfen und in den Durchzugsorten, wie beispielsweise in Hidas Bonyhad, wurden die Soldaten, wie Kisch am 5. August 1914 aufzeichnet, „von Deutschen mit Wein bewirtet“ (KT, 21), schrieben Ansichtskarten an ihre Familien und Lieben und genossen bei bester Laune, sorglos und voller Lebenslust, die an ihnen vorbeiziehende hochsommerliche Natur, die in Kischs Beschreibung aufgrund der Verwendung einer Verbmetapher als Personifikation23 (lachte der August) sehr anschaulich und lebendig erscheint: „Nach einer halben Stunde ging’s weiter, nach Floridsdorf, rechts und links lachte auf allen Bäumen der August mit Blüten und Früchten“ (KT, 20). Sogar an Unterhaltung und Ablenkung mangelte es nicht, wie Kisch festhielt:
Der ehemalige (degradierte) Korporal Valta, ein Prager Strizzi, sang Bänkel, ein Vorreiter unseres Trains, im Zivilverhältnis Zirkusartist, produzierte sich in unserem Waggon als Feuerfresser und Entfesselungskünstler, aus einem Eimer holte er mit dem Munde Zwanzig-Heller-Stücke heraus. (KT, 21)
Auch Frauen interessierten den Soldaten Kisch, der bereits die ersten Leichen des Krieges gesehen hatte, auf dem Weg an die Front: „Am Nachmittag war dienstfrei, und ich wollte mir ein Freudenhaus ansehen, in der Erwartung, es werde orientalischen Charakter haben“ (KT, 29). Der private Kisch „zeichnete sich durch sein geselliges Wesen aus“24, war ein „Gesellschaftslöwe“25, um es mit Wolf zu sagen. Selbst die erste Erfahrung im direkten Kampfgeschehen, das heißt im ersten Feuergefecht auf dem Vormarsch an die Drina, die Kisch euphemistisch mit der Metapher der „Feuertaufe“ konzeptualisiert, trübt seine Stimmung und die der anderen Soldaten nicht weiter:
Vor uns schossen unsere Schwarmlinien. Wir lagen da von Mücken belästigt. Manchmal surrten große Fliegen laut vorbei. Es dauerte einige Minuten, bis wir erkannten, dass es keine Fliegen seien, die das Surren verursachten, sondern Gewehrkugeln. In kurzen Intervallen pfiffen sie über unsere Köpfe hinweg. […] der Gefreite Hevera, der, durch die Zähne pfeifend, den Schall der Kugeln täuschend nachzumachen wusste, hatte großen Lacherfolg. Was hatten wir nicht schon über die Gefühle im ersten Kugelregen gelesen! Aber keinen von uns berührte die Feuertaufe besonders. (KT, 32)
Erst als Kisch „grauenhafte Bilder des Krieges“ (KT, 46) erlebt, wie am 16. August 1914, als er vom Regimentskommando den Auftrag erhielt, mit den Munitionstragtieren nach Milina zu gehen, dort Brot zu besorgen, um damit die Soldaten in der Schwarmlinie zu versorgen, verschlechtert sich seine Stimmung, Unmut macht sich breit. Neben zahllosen Verletzten und Toten, einer Erschießung, die er miterlebte, sah Kisch zum ersten Mal ein Feldspital von innen, wo Ärzte unter chaotischen, unmenschlichen Umständen verzweifelt darum bemüht waren, unzähligen Schwerverletzten das Leben zu retten. Kisch wollte dort einen Freund sprechen, der schwerverwundet war, was sich jedoch als unmöglich erwies: „Aber es war nicht daran zu denken, in diesem Tohuwabohu menschlichen Jammers einen Schritt vorwärts zu tun“ (KT, 50). Mit der Metapher des „Tohuwabohu“ evoziert Kisch hier die biblische Vorstellung der Chaosmächte (Tohuwabohu), die gegen Gottes gute Schöpfung (Chaos statt Kosmos: Gen 1, 2) stehen, womit er das Elend und Leid, das durch den Krieg verursacht wurde, treffend zum Ausdruck bringt.
Auch die Natur verliert zunehmend ihre idyllischen Züge. Auf der Fahrt in den Feldzug gegen Serbien beobachtet Kisch am 5. August in Südungarn die an ihnen vorbeifahrende Munitionszüge, die wie Eindringlinge, ein Störfaktor im Bild einer Ruhe und Frieden spendenden Natur auf ihn wirken:
Diese kriegsmäßigen Transporte schoben sich zwischen uns und eine Landschaft von biblischem Frieden und herrlicher Fülle. Die Sonne leuchtete über die sanften Höhen, die Sonne leuchtete über die grünen Rübenblätter und roten Mohnblüten, die Sonne leuchtete über das reife Obst und über die Weinranken an den Bäumen, die Sonne leuchtete. (KT, 21)
Doch noch dominiert die Natur mit ihrem strahlenden Sonnenlicht (Kisch erwähnt das Lexem Sonne viermal im selben Satz), das wie ein ausgebreiteter Schutzmantel über der prachtvollen Natur zu liegen scheint; der Krieg wirkt hier eher marginal. Natur und Krieg werden von Kisch noch als zwei getrennte Entitäten konzeptualisiert. Auch während der allerersten Feuergefechte, die Kisch erlebte, bietet die Natur ihm einen Zufluchtsort, wie in seinem Tagebucheintrag am 12. August 1914 erkennbar ist:
Wir bekamen vom jenseitigen Ufer des Flusses Feuer, suchten Deckung. Wir lagen etwa zehn Minuten hinter den Bäumen, und wenn ich meine Gefühle während dieser Zeit schildern wollte, da ich mich als Belagerter hätte fühlen müssen und beim Aufstehen von der Kugel lauernder Gegner getroffen werden konnte, vermag ich nichts anderes zu sagen, als dass mich die Landschaft entzückte. Die Sonne ging über der glitzernden Drina unter, die Laubbäume boten sich in feingeäderten Zeichnungen dar, der Sand des überfluteten Drinaufers leuchtete hell wie neuer Schnee, die Birken und Weiden streckten sich gerade und stark in Turmhӧhe empor. (KT, 36-37)
Sie wirkt belebt, was in dem Adjektiv „feingeädert“ zum Ausdruck kommt. Kisch vergleicht ihre Schönheit mit der Reinheit und Unberührtheit von Neuschnee und realisiert in dem Lexem „Turmhӧhe“ die konzeptuelle Orientierungsmetapher Gut ist oben (good is up), die Lakoff und Johnson in Metaphors we live by26 vorstellen. Ihrer Metaphern-Theorie zufolge ist oben ein Basiskonzept, da Hochsein im menschlichen Leben meistens „Gut“ bedeutet. In diesem Fall steht die Turmhӧhe der Bäume für das Positive der Natur, die Schutz und Sicherheit bietet. Nur vier Tage später wird die hochsommerliche Idylle von der Eintönigkeit des Vormarsches und dem täglich zunehmenden Elend der Soldaten getrübt. Die Natur hat ihre Frieden und Kraft spendende Funktion verloren, sie ist mit dem Krieg zu einem Ganzen geworden, Krieg und Natur bilden nunmehr eine nicht mehr auseinanderzuhaltende Einheit:
Unsere Vorposten gaben Feuer und verjagten den Gegner, der wohl hier eine starke Besetzung vermutete. Durch die sternenhelle Nacht flohen irdische Meteore aus den Leuchtpistolen, der Kanonendonner verhallte langsam, am Horizont wetterleuchtete es, Lichtsignale wurden gegeben – die Schwarmpfeifen der Grillen verstummten für einen Augenblick – Sternschnuppen und vereinzeltes Aufblitzen der Gewehrmündungen – Morgennebel und Kanonenruhe – man wusste nicht, wo der Friede der Natur begann und der Krieg der Menschen aufhörte. (KT, 51-52)
Die kaiserlich-königliche Armee hatte das Paradies, mit dem Kisch die malerische Drinalandschaft vergleicht, zerstört: „[…] die Drina floss schnell und glitzernd an Gras, Schaumkraut und Löwenzahn vorbei, und die Landschaft war wie das Paradies. Längs der Drina verlaufen Schanzgräben. Quer darin haben unsere Pioniere Traversen gegen Flankenfeuer eingebaut“ (KT, 71).
In diesem Textbeleg, der an Heinrich Heines Poetik der Desillusionierung erinnert, kommt Kischs nüchterner und kritischer Blick zum Ausdruck. „Kisch schaut hinter die Kulissen“27, er hatte die Sinnlosigkeit und Zerstörungsgewalt des Krieges schnell begriffen. Er erlebte in der Zeit, in der er sein Kriegstagebuch führte, den Einmarsch der k. u. k. Armee in Serbien, wie diese von den Russen zurückgedrängt wurde, erneut vorrückte, wieder zurückgedrängt wurde, d. h. das, was sich im Verlauf des gesamten Konflikts als Stellungskrieg an allen Fronten auf dem Kontinent herausstellen wird. Doch darüber war in der offiziellen Berichterstattung nichts zu lesen, diese war durch Zensur und kaiserlich-königliche Propaganda stark verzerrt und Kisch war sich dieser Verschleierung bewusst, wie an vielen Stellen in seinem Tagebuch, oft mit beißender Ironie, deutlich wird. So verwendet Kisch im Eintrag vom 29. August 1914 metaphorisch das Lexem „Wechselbalg“, ein „(nach früherem Volksglauben einer Wöchnerin von bösen Geistern oder Zwergen untergeschobenes) hässliches, missgestaltetes Kind“28, um auf einen gefälschten Kriegsbericht zu referieren. Die Verantwortlichen bezeichnet er ironisch als „Beschwichtigungshofräte“:
Heute trafen die Zeitungen vom 22. dieses Monats ein. In den Abendausgaben findet sich der vom k. k. Telegraphen-Korrespondenzbureau ausgegebene amtliche Bericht über unseren Rückzug vom 19. August. Was die einleitenden Worte über die herabgeminderte Wichtigkeit des serbischen Feldzuges anlangt, spricht das Kommuniqué die Wahrheit. Im Übrigen ist es ganz und gar verlogen und unaufrichtig, speziell die Behauptung, dass Österreich von vornherein den Einmarsch in Serbien nur als einen kurzen Vorstoß gedacht hatte und zur sofortigen Rückkehr entschlossen war. Das wird auch kein Mensch glauben, ebenso wenig wie die Behauptung, dass unsere Aufgabe erfüllt worden ist. Ferner wird totgeschwiegen, um welche Korps es sich handelte, obwohl die Serben doch genau die Nummern der geschlagenen Korps kennen. […] Den Beschwichtigungshofräten, die diesen Wechselbalg von Kriegsbericht verfasst hatten, ist also gewiss das Gegenteil ihrer Absicht geglückt. (KT, 77-78)
An anderen Stellen verwendet Kisch Metaphern wie „stilistische Purzelbäume“ (KT, 92), „Stilübungen“ oder „Schwanengesang“ (KT, 256), um sich kritisch auf die Praxis der Nachrichtenfälschung zu beziehen, die er mit Überzeugung verachtete. Letztere, die idiomatische Wendung „es ist sein Schwanengesang (-lied)“, die auf dem antikem Mythos beruht, der Schwan singe vor dem Sterben, steht für den letzten Auftritt eines Schauspielers, Sängers oder auch Politikers. In diesem Falle wird damit im weiteren Sinne auf das Ende einer Ära angespielt. Humor und Ironie dienten Kisch auch als Waffe, die missliebigen Institutionen lächerlich zu machen: „Die K. u. K.-Monarchie kracht in ihren Grundfesten, Kisch hat das Krachen hörbar gemacht für jene, die glaubten, die Welt wäre noch in Ordnung“29.
Die Erfahrungen an der Front und die gefälschte Berichterstattung über den Krieg wirken auf Kisch als unauflösbare Konfrontation. Tief erschüttert reagiert er darauf, wie Siegel hervorhebt, „mit der Technik, dissonante Fakten zu montieren, sie aus ihrem Verblendungszusammenhang zu reißen. Er notiert […], wie Soldaten sterben, und unterbricht die Beschreibung durch Zitate aus Feuilleton-, Sport- und Börsenmeldungen“30 aus einer Zeitung, die Kisch ergattert hatte, wie im Tagebucheintrag vom 23. September 1914 deutlich wird:
In einem Zeltblatt bringen Soldaten einen verwundeten Kameraden. Sie legen ihn vor uns nieder, um in unserer Deckung einen Augenblick zu rasten. Wir schauen ihm ins Gesicht. Er ist tot. Wir berühren seine Hand: sie ist kalt. „Kisch, nehmen Sie ihm die Legitimationskapsel ab und die Habseligkeiten, und lassen Sie ihn hinter dem Baum begraben.“
Ein Feuilleton: „Um die Kuppeln und Spitzen wob das Mondlicht einen bläulichen, zittrigen Schimmer und verwandelte die Landschaft in ein abenteuerliches Sehnsuchtsbild, wie es in heißen Träumen vor der Seele gaukelt.“ Der Berliner sagt: „Z.K.“ und meint „Zum Kotzen“.
Meldung der 12. Kompanie: 15 Tote, 85 Verletzte. Möglichst viele Verwundetenträger und Soldaten zum Fortschaffen der Verwundeten erbeten, da die Schwarmlinie allzu sehr geschwächt ist.
„Sechster Ziehungstag der 2. Österreichischen Klassenlotterie. Je 200 Kronen gewannen folgende Lose …“
„Wasser, um Gottes Willen, Wasser!“ Zum Glück ist noch in einer Feldflasche ein wenig kalter Kaffee. Der Mann mit dem Brustschuss wankt weiter.
„Javazucker fest 23.6 bezahlt, Silber 24.62, Liverpool (Baumwolle) Umsatz 6500.“ – „Gerichtssaal – Das Muster einer braven Tochter scheint die 24 Jahre alte Martha Planer aus Komotau …“ – „Theater: In Fräulein Winterfeld scheinen wir nun endlich die Altistin gefunden zu haben, die unsere Oper seit dem Abgang der Frau Berril brennend fehlte.“ – „Morgen wird die mit so großem Beifall aufgenommene Operette ›Das Musikantenmädel‹…“ (KT, 136-137)
Die Zeitung wirkt auf Kisch therapeutisch: „Mir zittern noch alle Glieder, schnell die Zeitung, vergessen, nur auf andere Gedanken kommen“ (KT, 136).
Die Stimmung des berichtenden Kisch verschlechtert sich zunehmend. Während er anfangs noch mit vollem physischen Einsatz gegen die Serben kämpfte – Kisch wird sogar mehrmals verwundet und bringt es durch seine Tüchtigkeit vom Korporal bis zum Oberleutnant –, verliert er schnell die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende und fragt sich bange, wie viele Monats- und Jahreswechsel ihn noch erwarten, ehe es Frieden gebe. Die Verzweiflung und das Elend wachsen mit jedem Gefecht, wie nach dem Angriff der Serben, den Kisch in seinem Tagebuch am 18. August 1914 schildert: „Jetzt ging ein Taifun von Handgranaten und Flintenkugeln über uns nieder, die Mauer war zu einem Vulkan geworden, und nun begann das feindliche Geschütz uns mit Kartätschenfeuer zu bespeien. Die Äste der Bäume zerbrachen und wir glaubten, der Wald stürze ein“ (KT, 56-57). In dieser Beschreibung wird der Krieg, hier als Gefecht, metaphorisch als „Naturkatastrophe“ konzeptualisiert: Er tritt in Form eines Taifuns oder Vulkans in Erscheinung, als gefährliches Wesen, das die Soldaten angreift und ihr Leben bedroht. Die Naturelemente werden dabei personifiziert und verwandeln sich in etwas Lebendiges, Angsteinflößendes.
Während der Schlacht an der Drina, die zwischen der österreich-ungarischen und der serbischen Armee vom 6. September bis 4. Oktober 1914 im bosnisch-serbischen Grenzgebiet stattfand, finden sich in Kischs Tagebuch Metaphern wie „Hӧllenlӓrm“ (KT, 107), „Totentanz“, „Jammerbilder“ (KT, 97) und „Hexensabbat“ (KT, 100) wieder, mit denen er auf das grauenvolle Gemetzel und qualvolle Sterben an der Drina referiert, wo Hunderte Soldaten ihr Leben verloren – den „Drinatod“ (KT, 111) fanden, um es mit einer von Kisch geprägten Spontanbildung auszudrücken.
Die „nervenzerrenden Ereignisse“ (KT, 135) verbreiten Apathie, Abstumpfung und „verzweifelnde Resignation“ (KT, 89); im Tagebucheintrag vom 18. September heißt es, „[s]o unmilitärisch bin ich in den zwei Tagen schon geworden“ (KT, 128). Kisch sehnt sich nach Frieden: „Ich wünschte, es wäre Versöhnungstag der Welt, kein religiöser, sondern ein wirklicher“ (KT, 145). Seine veränderte Lebenswelt ist für ihn trister Alltag geworden. Knoch merkt an, dass sich für fast alle Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs das Kriegserlebnis als das zunächst Unvorstellbare, Ungewohnte – Erfahrungen wie Feuertaufe, Grabenkrieg, Hunger, Warten auf Post aus der Heimat, Abschied, zerstörte Landschaften, Leid, das Sterben von Mensch und Tier – im Laufe der Zeit abgeschliffen hat und der Krieg in die Praxis des Alltags integriert wurde31.
Kisch konzeptualisiert das Leben in den Schützengräben metaphorisch als „Familienwelt“:
Wir haben eine neue Kutja bezogen. Acht Tage hatten wir an dem unterirdischen Blockhaus gebaut, das viel geräumiger ist als unsere bisherige Wohnstätte. […] Wir haben diese Villa vom Laufgraben aus geschaufelt […]. Es ist hier zweifellos viel bequemer als in der bisherigen Deckung, aber ich fühle mich dem Tode näher. Unser früheres Heim lag an dem Hauptlaufgraben, der zu unserer Schwarmlinie führt, und da unser Haus keine Mauer hatte, sahen wir jeden, der nach vorne ging. […] Wir wohnen jetzt in einer Seitensappe des Laufgrabens zwischen Regimentskommando und Offizierslatrine, und unsere Nachbarn sind fünf tote Komitatschis, die neben unserem Dach verscharrt liegen. […] Wir liegen jetzt unter der Erde wie im Grab. (KT, 161-163)
In diesem Eintrag beschreibt Kisch sich selbst und seine Kameraden – „Wir“ – als eine Familie. Es gibt ein Haus bzw. Heim, die Schützengrӓben, die Kisch zynisch als Villa beschreibt, und es gibt die Nachbarn der Familie, die toten Komatatschis32. Dieses schauerhafte Familienszenario verdeutlicht exemplarisch die Umkehrung aller Werte und Normen durch den Krieg. Statt Geborgenheit, Sicherheit, Wärme und Nähe vermittelt Kischs neue Familie das beklemmende Gefühl von Kälte und Tod.
Nicht nur wächst die Aversion Kischs gegen den Militarismus ständig, auch seine kritische Haltung gegenüber seinen Vorgesetzten wird umso beißender, je aussichtsloser die Lage an der Front wird. Dies lässt sich an folgenden Belegen ablesen, wo Kisch die Unfähigkeit der Militärführung, ihre Feigheit und die Privilegien, die sie genießt, anprangert und die Berufsoffiziere sogar als „Kriminelle“ konzeptualisiert:
Am Nachmittag kam ein Major visitieren, ein Mummelgreis, der den Tatterich und Rückenmarkschwindsucht hat. Er hat sich wohl aus einer Lokalanstellung ausgraben lassen und ist nun hierhergekommen, um die orientalische Frage und die Balkanwirren einmal endgültig zu lösen. (KT, 73-74)
Den Tagen von Lajkovac danke ich die Bekanntschaft mit einem interessanten Typ von Kriegskriminellen, mit jenen Berufsoffizieren, die an Gefechtstagen immer krank werden, und mit solchen, die aus dem Spital einrückten, aber im Hinblick auf das gefährliche Klima, dem die Truppe vorn ausgesetzt ist, es vorziehen, die Resultate der Kämpfe im Zuschauerraum abzuwarten. (KT, 124)
Die Erlebnisse an der Front – so Kronberger – haben Kisch, wie viele andere Soldaten, politisch radikalisiert33. Kisch wurde zum Kommunisten und Pazifisten, im Juni 1919 trat er der Kommunistischen Partei bei. Die persönliche Erfahrung, die die Desillusionierung über den Krieg bis zum Äußersten potenziert hat, war die Nachricht vom Kriegstod seines jüngeren Bruders Wolfgang, der ihn furchtbar erschütterte. „Was ich in den letzten Wochen erlebt, war nur fremder Jammer gewesen. Nun, da es mich unmittelbar ins Herz traf, fasste mich ein wahnsinniger Hass gegen den Krieg“ (KT, 185), schrieb er am 3. November 1914 in sein Tagebuch. Von diesem Moment an nahmen seine sehnsüchtigen Gedanken an die Heimat und seine Familie stetig zu und die Verwundung durch eine Granate am 18. März 1915 kam Kisch nahezu wie eine Erlösung von dem Elend um ihn herum vor, das von Tag zu Tag größer zu werden schien.
Mit der Metapher der „Komödie“, die auf die Theaterwelt verweist, konzeptualisiert Kisch seine Gewitztheit, die er erstmalig während seines gesamten im Tagebuch festgehaltenen Kriegserlebnisses strategisch zum Einsatz bringt, um sich persönliche Vorteile zu sichern – das, was er den Offizieren immer wieder erbittert vorwarf. Der verwundete Kisch inszeniert seine persönliche Komödie: Entgegen all seiner Prinzipien wollte er zum Offizier befördert werden, um nach Hause, nach Prag zu seiner Mutter zu gelangen:
Hier begann ich nun meine Komödie. Ich brach in der Mitte des kleinen Zimmers absichtlich zusammen und drehte das Weiße der Augen auswärts. […] Das besorgte Kopfschütteln des Medikus ließ mich innerlich frohlocken. […] ich will eine Reise nach Prag herausschlagen. Das könnte nur geschehen, wenn – nun kam mir der Gedanke, der Verrat an meinen Prinzipien bedeute: ich müsste zum Offizier befördert werden. Ich überlegte: sollte ich mir jetzt die so oft von mir abgelehnte Beförderung zum Kadetten verschaffen? […] Jetzt ist der Moment. (KT, 290-291)
Und die Beförderung kam: nach einem „tragikomische[n] Dialog“ (KT, 292) mit dem Arzt, der seine schweren Verletzungen behandelte. Kisch erhielt die Bescheinigung des Regimentskommandos, dass er ab 1. März zum Kadetten befördert sei und durfte nach Hause reisen. Auf der langen Zugfahrt in seine Heimat, kurz vor der Ankunft in Prag, verspürte Kisch erstmalig nach langer Zeit das Gefühl, das ihm der Krieg so lange verwehrt hatte – Freude, die alles andere überwog:
Ich rufe mir das alles krampfhaft ins Gefühl, ich denke gewaltsam an meine Kameraden, die noch in den Schützengrӓben vor Wola Michowa liegen, vielleicht eben stürmen, ich will an tote Kameraden denken, an viele hundert tote Freunde, denen keine Heimkehr beschieden war, die verscharrt und unverscharrt in schrecklichen Winkeln Serbiens und Galiziens liegen, aber ich kann nicht, ich kann nicht, mag ich ein Schuft sein, ich möchte schreien vor Freude. (KT, 302)
Nach seiner teilweisen Ausheilung kehrte Kisch nicht mehr zurück an die Front. Im Frühjahr 1917 wurde er auf eigenes Ersuchen im Range eines Oberleutnants ins k. u. k. Kriegspressequartier nach Wien abkommandiert, dessen Aufgabe die Koordination aller Presseinformationen und Propagandatätigkeiten der Donaumonarchie im Ersten Weltkrieg war34. Diese Verlegung verschärfte den Radikalisierungsprozess in der Weltanschauung und der politischen Tätigkeit Kischs.
- Fazit
Das Kriegstagebuch Egon Erwin Kischs, in dem der Autor die vielen Facetten seiner Kriegserfahrungen mitteilt, gehört zu den wichtigen Zeitzeugnissen des Ersten Weltkriegs. Der Krieg war für Kisch eine einschneidende Erfahrung, brachte ihn in schweren Zwiespalt, und ließ ihn zum radikalen Antimilitaristen werden. Er sah das Sterben an der Westfront und wendete sich in seinem Tagebuch energisch gegen die unsinnige Vӧlkerschlacht: „Es ist grauenhaft, wollen wir kämpfen, bis der letzte Mann gefallen ist? So viel Prozent von Toten hat wohl noch nie ein Feldzug der Weltgeschichte aufzuweisen gehabt“ (KT, 147). Kisch kritisierte in seinem Tagebuch die Institutionen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie oft scharf unter Einsatz beißender Ironie. Die Impressionen, die er während des Krieges sammelte und die Destruktionserfahrung versprachlichte Kisch häufig mit Hilfe von ausdrucksvollen Metaphern, die es ihm ermöglichten, das Unvorstellbare, das Ungeheuerliche dieser ersten Auseinandersetzung – der großen „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts35 –, die neue technische Möglichkeiten nutzte und so die Zerstörungspotentiale der industriellen Moderne in vollem Ausmaße offenbarte, in Worte zu fassen. Das „Zeitalter der Extreme“ war eingeläutet, um es mit dem amerikanischen Historiker Eric Hobsbawm36 auf den Punkt zu bringen.
1 Vgl. hierzu Norbert C. Wolf, Revolution in Wien: Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19, Wien 2018, S. 33-36.
2 Marcus G. Patka (Hrsg.), Der rasende Reporter Egon Erwin Kisch. Eine Biographie in Bildern, Berlin 1998, S. 71.
3 Zit. in Wolf, Revolution in Wien, zit., S. 66.
4 Vgl. hierzu ebd., S. 65-67.
5 Ebd., S. 65.
6 Ebd., S. 12.
7 Ebd.
8 Paul Kisch wurde 1942 im KZ Theresienstadt ermordet. 1907 war er Student und Burschenschaftler.
9 Patka, Der rasende Reporter Egon Erwin Kisch, zit., S. 27.
10 Johannes Schwitalla, Zunehmende Verhärtung. Textlinguistische Vergleiche derselben Szene in Ernst Jüngers ‚Kriegstagebuch‘, im Roman ‚In Stahlgewittern‘ und in der Essaysammlung ‚Der Kampf als inneres Erlebnis‘. In „Studia Germanistica“, 19, 2016, Acta Facultatis Philosophicae Universitatis Ostraviensis, S. 93-106.
11 Zit. in Wolf, Revolution in Wien, zit., S. 65.
12 Ebd.
13 Vgl. Arno Dusini, Tagebuch: Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, S. 48.
14 Bei der Analyse der von Kisch in seinem Kriegstagebuch verwendeten Metaphern stütze ich mich auf die konzeptuelle Metapherntheorie von George Lakoff und Mark Johnson, die die Autoren erstmals ausführlich in Metaphors we live by (Chicago 1980) vorgestellt haben. In der von ihnen postulierten Metaphern-Theorie ist das ganze menschliche Konzeptsystem metaphorischer Natur. Die Autoren sehen in der Metapher ein konzeptuelles Instrument, das von allen Menschen im alltäglichen Sprachgebrauch unbewusst verwendet wird und unsere alltäglichen Wahrnehmungen und Handlungen strukturiert: „[…] metaphor is pervasive in everyday life, not just in language but in thought and action“ (ebd. S. 3). Metaphern werden hier nicht nur als Teil der Sprache betrachtet, sondern als ein das menschliche Denken und Handeln umfassendes Phänomen.
15 Vgl. Rainer Hülsse, Sprache ist mehr als Argumentation. Zur wirklichkeitskonstituierenden Rolle von Metaphern, in „zib – Zeitschrift für internationale Beziehungen“, 10, 2003, S. 211-246, hier S. 211.
16 Vgl. Klaus Haupt, „Hetzjagd durch die Zeit”. Der „Rasende Reporter“ in Daten und Fakten, 2008; http://www.egon-erwin-kisch.de/pdf/kisch_bio_biblio.pdf
17 Vgl. Ulrich Sieg, Kriegserfahrungen jüdischer Intellektueller im Ersten Weltkrieg, in Rüdiger vom Bruch, Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitӓten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 142-161, hier S. 153.
18 o. V., Egon Erwin Kisch: Schreib das auf, Kisch [Rezension], in „Menorah: jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur“, Heft 7-8, 1930, S. 412. (Im Original erscheint als Verfasser die Sigle H).
19 Egon E. Kisch, Schreib das auf, Kisch! Ein Kriegstagebuch, Berlin 2014, S. 6. Nachfolgend wird der Buchtitel mit der Sigle KT und Seitenzahl zitiert.
20 Wie Antonella Gargano (Egon Erwin Kisch, Der rasende Reporter (Il reporter scatenato, 1924), in Massimo Bonifazio, Daniela Nelva, Michele Sisto (a cura di), Il saggio tedesco del Novecento, Florenz 2009, S. 75-83, hier S. 77) im Hinblick auf Kischs Reportagen anmerkt, „le cronache di Kisch […] non rispondono mai al principio della descrizione, ma piuttosto a quello della narrazione che organizza le scene, i fatti, gli eventi, li raggruppa secondo determinate sequenze e imprime in questo modo un ritmo particolare all’insieme del racconto“ („die Chroniken Kischs [….] entsprechen nie dem Prinzip der Beschreibung, sondern eher dem der Erzählung, das die Szenen, die Fakten, die Ereignisse organisiert, sie nach bestimmten Sequenzen zusammenfasst und so einen bestimmten Rhythmus für die ganze Erzählung vorgibt“).
21 Cfr. Hans Kronberger, Zwischen Kriegspropaganda und Subversion. Egon Erwin Kisch an der Wende vom bürgerlichen Journalisten zum Revolutionӓr, in „Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur“, Heft 67, 1980, S. 48-54, hier S. 48.
22 Max von der Grün, Die Entdeckung eines Autors, in „Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur“, Heft 67, 1980, S. 1-5, hier S. 2.
23 Vgl. hierzu Helge Skirl, Monika Schwarz-Friesel, Metapher, Heidelberg 2013², S. 26.
24 Bruno Frei, Zweimal Kisch, in „Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur“, Heft 67, 1980, S. 10-15, hier S. 12.
25 Wolf, Revolution in Wien, zit., S. 67.
26 Vgl. Lakoff, Johnson, Metaphors we live by, zit., S. 14-19.
27 Frei, Zweimal Kisch, zit., S. 11.
28 Duden Online, http://www.duden.de/rechtschreibung/Wechselbalg
29 von der Grün, Die Entdeckung eines Autors, zit., S. 4.
30 Christian Siegel, Reporter: Schriftsteller der Wahrheit. Egon Erwin Kischs Begründung des Fakten-Genres, in „Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur“, Heft 67, 1980, S. 16-23, hier S. 16.
31 Vgl. Peter Knoch, Erleben und Nacherleben: Das Kriegserlebnis im Augenzeugenbericht und im Geschichtsunterricht, in Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hrsg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…”. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1996, S. 235-259.
32 Damit sind serbische Freischärler-Milizen gemeint, die später auch und vor allem im Zweiten Weltkrieg Tschetniks genannt wurden.
33 Vgl. Kronberger, Zwischen Kriegspropaganda und Subversion, zit., S. 48.
34 Vgl. Haupt, „Hetzjagd durch die Zeit”, zit.
35 Der Begriff „Urkatastrophe“ geht auf den Ausdruck zurück, den der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan verwendet hat, um den Ersten Weltkrieg als „the great seminal catastrophe of this century“ zu definieren (George F. Kennan, The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875-1890, Princeton 1979, S. 3).
36 Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, übersetzt von Yvonne Badal, München 1998.