Io mi ricordo

Von Gerhard Köpf
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Weit muss ich in meinen Aufzeichnungen zurückblättern, ehe ich auf meine erste und einzige Reise in die Türkei stoße, die ich im letzten Jahrhundert dank eines generösen Goethe-Institutes unternehmen durfte. Auf meinem Programm standen (Vor-)Lesungen in den Städten Istanbul, Ankara und Izmir. Am 28. 03. 1990 flog ich, damals noch Prinz von Arkadien und den Literaturwissenschaften verschrieben, von Ankara nach Izmir. In einem Schreiben des deutschen Kulturinstitutes Izmir von Frau Dr. Rahimi, der ich bereits einmal in Schwäbisch Hall begegnet bin, steht: „Noch am selben Abend hat die Leiterin der Germanistischen Abteilung der Ege Universität, Frau Prof. Dr. Durusoy, zu einem kleinen Abendessen in ihrer Wohnung eingeladen.“ Es war eine Wohnung, wie ich sie aus römischen Palazzi in Erinnerung hatte. Tags darauf sollte ich an einem frühlingsmilden Vormittag den Studenten die Verfilmung meines Romans „Die Strecke“ („Wallers letzter Gang“) zeigen. Abends dann eine Lesung im Institut der Universität halten und anschließend mit Prof. Durusoys Studenten über Themen und Tendenzen der deutschsprachigen Literatur nach 1970 sprechen. Was für ein kurzweiliges Vergnügen!

Dass ich nach dem wuseligen Istanbul, wo ich mich mit einem enthusiastischen Verleger und einem damals in Deutschland noch weitgehend unbekannten jungen Schriftsteller namens Orhan Pamuk traf, mit dem ich den selben amerikanischen Verlag teilte, und wir über Borges debattierten, nach dem beamtenhaft strengen Ankara, wo kaum eine Studentin zu lächeln wagte, nach Izmir in eine gänzlich „andere Türkei“ kam, hat zweifelsfrei mit Gertrude Durusoy zu tun. Izmir wirkte auf mich, den Türkeineuling, wie eine westliche mediterrane Stadt, ein wenig sogar mit dem Flair von San Remo und der Eleganz von Monte Carlo. Nein, das war nicht mehr „die Türkei“, die ich mir aus Karl May und anderen Vorurteilen, aus Reiseliteratur und Postkarten zusammengebastelt hatte. Und wie die Stadt, so waren auch die Studenten, weiblich wie männlich: neugierig, wach, herzlich, mit Sinn für Witz, Ironie und Gelächter, chic und ein wenig lässig, kurz: junge Menschen internationalen Zuschnitts, die sich des Lebens freuten. Aus dem Seminar ging auf Anregung von Gertrude Durusoy sogar die Dissertation von Hüseyin Kahramanlar:  Das Verhältnis zur Zeit und die „Vergegenkunft“ in Gerhard Köpfs Prosa. Diss. Univ. Izmir 2004. hervor. Welche Ehre! In jenen Jahren hatte ich das Glück, die Welt bereisen zu dürfen. Doch an vielen Orten, an die ich kam in Nord und Süd, Ost und West, traf ich auf Gertrude Durusoy – oder ihren fast schon legendären Ruf. Sie war entweder schon da – oder schon wieder weg. Ich habe kam eine weitgereistere und polyglottere Kollegin kennengelernt als sie. Natürlich lud ich sie auch an mein Lehrschemelchen an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg ein, wo sie einen glänzenden Vortrag über Europäische Literaturen hielt.

Merkwürdigerweise ist sie mir nie als „Professorin aus der Türkei“ vorgekommen, denn sie hatte bei aller stupenden Belesenheit und höchster wissenschaftlicher Kompetenz im Auftreten eine altpariserische Eleganz und einen kakanischen Charme. Außerdem versteckte sie den doppelbödigen böhmischen Witz, den ich aus Bohumil Hrabals Roman „Ich habe den englischen König bedient“ kannte. Sie verkörperte das, was mein verstorbener Freund Gregor von Rezzori vielleicht „Epochenverschleppung“ genannt hätte: ein höchst positiver Begriff, mit dem auch er, ein Polyglotter wie Gertrude Durusoy, sein Selbstverständnis umschrieb. Erst später wurde mir manches klar, als mir Gertrude Durusoy einmal bei einem abendlich Glas Rotwein beiläufig erklärte, wie sich ihre Familie auf den Habsburger Karl V. zurückführen ließ: geboren 1500 in Gent. Sie verkörperte per se den Blick über den Zaun, ließ sich nicht auf die Aporien des Nationalen ein und war auch ihrem Fachverständnis zufolge eine femme de lettre im europäischen Sinne des Wortes. Der Geist der Imagination überwindet alle Grenzen, die Vorstellungskraft lässt sich nicht mit Zollpapieren aufhalten. Gertrude Durusoy hat allen, die mit ihr gearbeitet haben, und es werden derer viele, sehr viele gewesen sein, gezeigt, wie sich Sympathie und Empathie in der Analyse harmonisch geschwisterlich ergänzen, wie aus Dekor Atmosphäre entsteht und die temporären und lokalen Kulissen den Schattenriss des Dramatischen konturieren. Analog zum letzten Satz aus Kleists „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“ möchte ich sagen: „Eine Professorin wie diese habe ich Zeit meines Lebens nicht gesehen.“ Ich vermisse sie.