Ein Abend mit Frau Prof. Dr. Gertrude Durusoy in Wien

 

Peter Paul Wiplinger
www.wiplinger.eu

Wenn ich mich an Frau Prof. Dr. Gertrude Durusoy erinnere, denke ich vor allem an einen gemeinsamen Abend mit unseren beiden Partnern im Esterházykeller in Wien. Sie übersetzte damals gerade meine Gedichte ins Türkische. Und dabei war sie sehr autonom, ich mußte ihr nichts erklären. Erstaunlich war ihre Sprachkenntnis, nicht nur was das Sprechen-Können gemäß den grammatischen Regeln betrifft, sondern vor allem hinsichtlich der Bedeutung von Wörtern und Begriffen; von dem, was im Deutschen beim dichterischen Wort „mitschwingt“; auch als Unausgesprochenes. Wir haben uns darüber an diesem Abend in Wien bei deftigem Essen und Rotwein unterhalten; in Gegenwart ihres ebenso zurückhaltenden, unaufdringlichen, bescheidenen, sympathischen Mannes, in dem sich das Wesen von Madame Durusoy geradezu widerzuspiegeln schien. Frau Professor Durusoy war nicht nur eine hochgebildete, Sprachen-übergreifende Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin, sie war vor allem ein Mensch, der auf den anderen einging, sich nie in den Vordergrund stellte, sondern einer Aufgabe, der sie, wenn sie diese übernommen hatte, diente. Es ging ihr um das bestmögliche Resultat einer reibungslosen Arbeit. Und dabei bewies sie – so habe ich es bei ihrer Übersetzung meiner Gedichte erlebt – ein großes Einfühlungsvermögen in die „Welt des Autors/der Autorin“.

An jenem schon erwähnten Abend in Wien sprachen wir, wenn ich mich recht erinnere, über das Übersetzen als Vermittlungs- und Transformationsprozeß. Ich sprach über „meine Welt“ – die eine ganz andere war als die von Frau Durusoy; auch was meinen Charakter betraf, der sich natürlich in meinem gesprochenen und geschriebenen Wort ausdrückt. Für meine oft zu impulsive Art und Sprechweise, für meine Konfrontationslust, für meine Leidenschaft hatte sie „nur“ ein mildes Lächeln übrig. Aber zugleich schien sie meine Streitlust, mein Sich-Einmischen zum Beispiel in politisch-gesellschaftliche Debatten und Prozesse, die mein ganzes Leben kennzeichnen, sehr zu respektieren. Sie teilte – vielleicht auch aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen in der Türkei – meinen Standpunkt, ja meine Aufforderung, daß sich der Dichter, der Schriftsteller über das rein literarische Terrain hinauszubewegen hat, wenn er seine Verantwortung wahrnehmen will, die er zweifellos über das Rein-Literarische hinaus im Sinne der europäischen Aufklärung und der Menschenrechte hat. Dieser unverrückbare Standpunkt markiert ja auch meine persönliche Position in meinen Gedichten. Und es war gar nicht möglich, ihn bei der Übersetzung dieser Gedichte ins Türkische zu ignorieren. Bei meinem Besuch in der Türkei anläßlich einer Lesereise und einer Fotoausstellung mit Aufenthalten in Istanbul, Merzin und Izmir erfuhr ich die Richtigkeit meiner Forderung auch anhand der aktuellen Tagespolitik. Zum Zeitpunkt meines Aufenthaltes war nämlich das im TV übertragene Begräbnis des ermordeten Prof. Dr. Ahmet Taner Kislali. Dieses Ereignis bestätigte mir die Richtigkeit des Zusammenhanges von auch riskantem intellektuellem Widerstand mit der bedenkenlosen Machtausübungspolitik außerhalb eines demokratischen Rechtsstaates.

Doch noch einmal kurz zurück zu unserem Übersetzergespräch im Esterházy-Weinkeller in Wien! Ich erinnere mich, daß ich die Bedeutungsdimension und Bedeutungsdivergenz anhand eines einzigen Wortes, nämlich des Verbums „auslöschen“ demonstrierte. Und daß ich dabei sogar auf einen ganz besonderen Kontext hinwies. „Auslöschen“, so sagte ich, kann in der deutschen Sprache Verschiedenes bedeuten, nämlich daß man zum Beispiel etwas, das mit Kreide an eine Tafel geschrieben worden ist, mit dem nassen Schwamm oder Tuch „auslöscht“; oder daß man die Flamme einer Kerze „auslöscht“; oder eine Spur, ein Zeichen (Ichthys/Fisch als Zeichen der Christen) im Sand mit dem Fuß verwischt und auslöscht; oder eine Wegspur, die man gezeichnet hat. Aber, so meine Ausführungen mit meiner mir eigenen Vehemenz, es kann aber auch bedeuten, daß man ein ganzes Volk samt seiner Kultur auslöscht; wie zum Beispiel im Holocaust der Nazis (Juden/Roma) oder auch sonst überhaupt beieinem Völkermord (dabei mein Hinweis dezitiert auf die Greuel, d.h. den Völkermord an den Armeniern). „Das alles umfaßt ein einziges unscheinbares Tätigkeitswort“, mag ich damals gesagt haben; weil ich diese Problematik bei der Lyrik-Übersetzung auch in meinem Vortrag in Tetovo 1983 zum ersten Mal aufgezeigt hatte und seither immer wieder in das Gedankengebäude vom „Übersetzen als Vermittlungs- und Transformationsprozeß“ eingebracht hatte.

Mein Appell war dieser: Man muß als Dichter mit seinem Übersetzer unbedingt diese Transpositionierung des im Gedicht Gesagten in seiner Bedeutung und zugleich in seinem poetischen Gehalt in einer gemeinsamen Arbeit leisten. Sonst wird die Übersetzung dem Original nicht annähernd gerecht werden. Fazit: Der Übersetzer muß in die Welt des Dichters „eintauchen“ (ja, wie in Wasser, wie bei einer Taufe). Er muß wissen, wovon die Rede ist im jeweiligen Gedicht, und in welcher Welt dieses Gedicht steht und diese Welt repräsentiert. Das war sicherlich ein leidenschaftlicher Monolog meinerseits. Daran erinnere ich mich noch gut. Und an das zustimmende Kopfnicken von Frau Durusoy; an ihr leises: „Ich glaube, da haben Sie recht.“ Dieses Zusammentreffen zweier Menschen (in Begleitung unserer Lebenspartner) in den Tiefen des Wiener Esterházykellers war eine Begegnung zweier Welten, zweier völlig verschiedener Charaktere. Aber dieses Zusammentreffen ereignete sich zugleich in völligem gegenseitigen Verstehen des Anderen und im Verständnis für den Anderen. Und das Ergebnis war dann die kongeniale Übersetzung einer Sammlung meiner Gedichte ins Türkische und die Publikation meines Gedichtbandes unter dem Titel „Yaşam Belirtisi“ (Lebenszeichen) im Jahr 2000 in Izmir.

Und was darüber hinaus mir verblieb, war die Erinnerung an einen intensiven Gesprächsabend, der von Frau Professor Durusy ihrerseits getragen war von einer ihr eigenen Geduld beim Zuhören und einem Streben nach Harmonie, die ihrer inneren psychischen Grundstruktur wesenhaft entsprach. „Eine Dame ist sie, die Frau Professor Durusoy“, sagte ich dann später zu meiner Lebenspartnerin; „eine Dame ist sie“; womit ich wiederum sehr viel mehr meinte, als mit diesen paar banalen Worten rein sprachlich-begrifflich ausgesagt wird. Denn die Sprache ist ja nur das Eine. Doch das, was man mit dem Gesagten oft wirklich meint, betrifft ein weitaus größeres Terrain und ist von einer umgreifenderen Bedeutung, als es Worte ausdrücken, auszudrücken vermögen.

Peter Paul Wiplinger
Wien, 6. August 2019

WIPLINGER Peter Paul, Schriftsteller und künstlerischer Fotograf. Geboren 1939 in Haslach, Oberösterreich. Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie. Vorwiegend Lyriker. Seine Gedichte wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und als Gedichtbände publiziert. Bisher 49 Buchpublikationen, zuletzt: „Tagtraumnotizen“ (2016), „Schachteltexte“ (2017) und „Schachteltexte“ (2019) sowie „Erinnerungsbilder“ (2019). – Weitere Informationen: www.wiplinger.eu