CANETTIS ROMAN „DIE BLENDUNG“

SPRACHLICHE ASPEKTE*

Dr. Sevdiye Köksal (Dokuz Eylül Universität, Izmir – Türkei)
Email: sevdiye.koksal@deu.edu.tr

 

Abstract
In this article, Elias Canetti’s novel „Die Blendung  is subjected to a linguistic analysis. Since the topic of the Babylonian language confusion is one of the main structural features of the novel,  this study tries to show through which stylistic means this effect is achieved.

The rhetorical means in the novel are shown on the basis of the already existing investigations. Many examples from the novel are used to demonstrate the linguistic means.

 Keywords: Elias Canetti, Die Blendung, novel, linguistic aspects, Babylonian language confusion

 

Abstract
 In diesem Beitrag wird Elias Canettis Roman „Die Blendung“ einer sprachlichen Analyse unterzogen. Da das Thema der babylonischen Sprachverwirrung zu den wesentlichen Strukturmerkmalen des Romans gehört, wird in dieser Arbeit aufzuzeigen versucht, durch welche Stilmittel dieser Effekt erzielt wird.

Anhand der bereits bestehenden Untersuchungen werden die rhetorischen Mittel im Roman aufgezeigt. Für die sprachlichen Mittel werden viele Beispiele aus dem Roman herangezogen.

 Schlüsselwörter: Elias Canetti, Die Blendung, Roman, Sprachlicher Aspekt, babaylonische Sprachverwirrung

 

Den  Roman „Die Blendung” in seiner Ganzheit zu erfassen, seinem Kunstcharakter gerecht zu werden, setzt die Analyse seiner Erzählform voraus. Damit eng verbunden ist die Analyse des Romananfangs.

Der Eingangsdialog ist szenisch-dramatisch gestaltet. Er wird über fast zwei Seiten rein durchgehalten. Der Erzähler ist nicht einmal in eingeschobenen Regieanweisungen zu spüren.  Dieser Anfang ist nicht nur ungewöhnlich und „wohl einzigartig in der Geschichte des Romans“(1), sondern hat darüber hinaus eine äußerst wichtige Funktion im Roman. Er bestimmt die Erzählform, nimmt „die Quintessenz der Erzählform“ (2) von Canettis Roman vorweg. Die Erzählsituation im Roman ist im Prinzip personal, d.h. der Erzähler tritt so weit hinter die  Charaktere des  Romans  zurück,  dass seine Anwesenheit dem Leser  nicht mehr bewusst wird, dann öffnet sich dem Leser die Illusion, er befände sich selbst auf dem Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die dargestellte Welt mit den Augen einer Romanfigur. In einer solchen Erzählsituation herrscht immer eine szenische Darstellung vor. (3)

Es scheint, als würde ein Vorhang aufgezogen. Aus der ersten Frage; Was tust. du hier, mein Junge? kann der Leser nichts entnehmen, was ihm den Frager anschaulich darstellen würde.  Lediglich über den Gesprächspartner erfährt man etwas; es handelt sich um einen Jungen. über den Jungen erfährt der Leser im Verlauf des Dialogs verhältnismässig viel, dagegen bleibt ihm der Fragesteller lange undeutlich.  Der Eindruck, den man von ihm erhält, ist der eines am Mitmenschen interessierten und kontaktfreudigen Menschen. Es stimmt dann freilich nachdenklich, wenn man erfährt, dass er in demselben Haus wohnt, aber den Jungen nicht kennt, und noch mehr, wenn der Junge sagt: Sie sehen immer weg, wenn jemand über die Stiege geht. Ich kenne sie schon 1ange. Sie sind  der Herr Professor Kien. (S.8)

Kien ist in der Tat ein sehr isolierter Mensch; der einleitende Dialog ist eine Perversion des Dialogs und damit  der  Sprache schlechthin. Der Junge wird von Kien getäuscht. Wesentlich ist nun, dass mit dem Eingangsdialog auch der Leser getäuscht wird, weil hier die Innenperspektive vorherrscht,  d.h. der Standpunkt,  von dem aus die erzählte Welt wahrgenommen wird, liegt in der Hauptfigur (4). Später durchschaut der Leser die Charaktere und erkennt,  dass Täuschen und Getäuscht werden, Blenden und Geblendet werden  zu den wesentlichen Strukturmerkmalen des Romans gehören.

Der einleitende Dialog lässt zwei Themen anklingen, die im Roman durchgeführt werden, nämlich das Thema Blendung und das einer babylonischen Sprachverwirrung.

Jetzt wollen wir die sprachlichen Einzelphänomene des Romans unter dem Gesichtspunkt der babylonischen Sprachverwirrung untersuchen. Es soll aufgezeigt werden, dass die szenische Darstellungsweise den ganzen Roman beherrscht, dass der ganze Roman auch da wesentlich aus Reden und Gerede besteht, wo die äußere Form des Dialogs fehlt.

Die sprachliche Leistung des Werkes beruht vorwiegend auf seiner Fähigkeit, all die bizarren Figuren innerhalb ihrer eigenen Wahnlogik und streng im eigenen Tonfall sprechen zu lassen. Bei dieser literarischen Verfahrensweise verwertet Canetti die Anregungen, die er in Vorlesungen von Karl Kraus erhalten hat: visuelles Bild und Hörbild ergänzen einander. Die Vorlesungen von Karl Kraus werden für Canetti zur faszinierenden „Schule des Hörens“;  seine „akustischen Zitate“ lassen ihn erkennen, „dass der einzelne Mensch eine sprachliche Gestalt hat, durch die er sich von allen anderen abhebt“(5). Bei der Beobachtung des alltäglichen Sprachgebrauchs entdeckt er die komisch-schreckliche Tatsache, „dass Menschen zwar zueinander sprechen, aber sich nicht verstehen; dass ihre Worte Stöße sind, die an den Worten der anderen abprallen; dass es keine größere Illusion gibt als die Meinung, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation  zwischen Menschen“  (6).  Diese gleichbleibende, nach Tonhöhe und Geschwindigkeit, Rhythmus und Vokabular einmalig unverkennbare Sprechweise des Menschen ergibt eine bestimmte sprachliche Physionomie, die Canetti als „akustische Maske“   bezeichnet.  Durch „akustische Maske“ erhalten die Figuren des Romans ihre hörbare Gestalt, ihre Redeweise zeigt an, von welchen Vorstellungen und Wünschen sie geleitet sind.  Sprache dient ihnen nicht als Mittel der Kommunikation, sondern als Mittel der Selbstbestätigung und Selbstdarstellung.

Diese Erkenntnis lässt Canetti nicht mehr los, und sie bestimmt seine Existenz als Dichter in zweifacher Weise:  Einmal stellt er das pausenlose Aneinander vorbeireden der in ihren Privatidiomen befangenen Figuren in vollendeter Imitation dar. Die Skala der Sprachmasken reicht dabei vom Argot der Gauner bis zum Papierdeutsch der Wissenschaft. Die Sprache des Romans setzt sich aus wienerisch eingefärbten Alltagsphrasen, zeitgenössischen Schlagworten und literarischen Zitaten, denn was als gefährliche Verwirrung aufgedeckt werden soll, ist innerhalb der vorhandenen Sprache selbst wirksam. Das virtuose Mit- und Gegeneinander „der akustischen Masken” erinnert an den Mythos vom babylonischen Turm (7) wie an die Theoreme der modernen Sprachanalyse – „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt„(8). Die Sprache der Figuren bringt ihre psychische und moralische Desintegration zum Ausdruck.

Zum anderen fragt der Dichter, wie Möglichkeiten der Verständigung wiedergewonnen werden könnten. Bedrängt vom kläglichen Scheitern der sprachlichen Kommunikation appelliert er an den Leser, sich um Sprache zu bemühen, jenes Mittel also, das dem Menschen zur Verständigung gegeben ist.

Alfred Doppler charakterisiert Canettis literarische Verfahrensweise unter dem Aspekt der Kommunikation wie folgt:

 „Im Unterschied zur Sprachskepsis der Lyriker, die sich als semantische Skepsis bezeichnen ließe, wird Canettis literarisches Verfahren von einer Kommunikationsskepsis bestimmt, von einer Kommunikationsform, die im Gesprächspartner nur einen Gegner der Ich-Entfaltung zu erkennen vermag, einen Gegner, der durch Redestrategien besiegt und zum Objekt von Machtausübung erniedrigt werden soll.“ (9)

Dieter Dissinger geht noch einen Schritt weiter und behauptet, im Bild der so verschiedenartigen Gelehrten Peter und Georg Kien deute sich  der „Zweifel an der Sprache als Mittel der Wirklichkeitsbewältigung“(10).

Im Stimmen-Reservoir des Romans ist jede Figur durch ihre eigene laute Sprache von allen anderen Figuren deutlich abgesondert.  Diese Sonderung leistet zuerst das Mittel der direkten Rede, welches die Sprache durch individuellen Einsatz der Stimmen als gesprochene Sprache  hörbar werden lässt. Eine    Rede der Haushälterin Therese hört sich zum Beispiel folgendermaßen  an:

Ich erlaube nicht, dass der Mann den Rock anrührt!

 Der Rock gehört mir! Hat der Mann den Rock gekauft?

Ich hab‘ den Rock gekauft! Hat der Mann den Rock gestärkt und gebügelt! Ich hab‘ den Rock gestärkt und gebügelt.  Sind denn die Schlüssel im Rock? Ach wo, die denken nicht daran. Ich geb‘ die Schlüssel nicht her. Und wenn der Mann den Rock zerbeißt, ich geb‘ die Schlüssel nicht her, weil die nicht drin sind! Eine Frau tut alles  für ihren Mann. Den Rock tut sie nicht!“ Den Rock  tut sie nicht!“                                       (S. 129)

Das oben zitierte Geschrei ist typisch für Thereses Wortschwall. Ihr Reden ist gegen jeden Einbruch abgeriegelt, die Fragen, rein rhetorisch gesetzt, sind nicht Ausdruck von Unsicherheit, die Antwort folgt im gleichen Atemzug . „Tut sie nicht“, „ich bitt‘ Sie“ oder  „das gibt’s nicht“ sind  die stereotypen Redewendungen, die ihren geringen Wortschatz kennzeichnen.

Eine gegensätzliche Ordnung vertritt die Sprache des Wissenschaftlers Peter Kien. Er beklagt sich bei Therese wegen des verschwundenen Schlüssels;

In den Manuskripten herrscht eine heillose Ordnung. Ich frage mich, wie der Schlüssel in die unrechten Hände geraten ist. Ich habe ihn in der linken Hosentasche wiedergefunden. Zu meinem Bedauern sehe ich mich genötigt anzunehmen, dass man ihn widerrechtlich entfernt, missbraucht und dann erst zurückgelegt hat.“ (S.103)

Die gebildete und entsprechend monotone Rede des Sinologen steht im jämmerlichen Kontrast zur rhetorischen Dynamik, mit der Therese ihre Ansprüche vorbringt.

Die ersten Sätze, mit denen sich der Zwerg Fischerle einführt, sind die Fragen: Wie gehn die Geschäfte?“ (S.154)  und „Spielen Sie Schach?_ Ein Mensch, was ka Schach spielt,  is ka Mensch.“ (S. 155). Fischerles intrigantes Frage und Antwort-Spiel sieht ihm, der am liebsten mit sich selbst Schach spielt, ähnlich.

Dagegen ist die Rede des Hausbesorgers, der auch, bei Anwandlungen von Freundlichkeiten noch brüllt, ein einziger Befehl:

  „Herr Professer! Das edle Streitross bekommt seinen Hafer. Es ist ein Vollblut und schlägt aus. In der Menagerie frisst der Löwe sein blutiges Saftfleisch. Warum? Weil der König der Tiere wie ein Donner brüllt. Dem fletschenden  Gorilla schenken die Wilden frische Weiber. Warum? Weil der Gorilla von Muskeln kracht. So ist das gerechte Leben“ (S. 336).

Das wiederholte  „Warum“ ist nur Ausruf, die Lautstärke der Belehrung  lässt den Ton einer Frage nicht mehr aufkommen. Zum Brüllen braucht Pfaff starke Worte.  Die Vokale verbinden sich mit Liquiden, Explosivlauten,  vor allem Zischlauten wie in „Kusch!“, „Saftfleisch“, „Schädel einschlagen“,“Scheissgefriess“  und anderen mächtigen  Vokabeln.

Das Mittel der direkten Rede, dessen sich der Erzähler bei der Gestaltung der Sprachverwirrung bedient, hat an der szenischen  Darstellung  grossen Anteil  (11).  Die Zunahme der Dialoge im Roman ist unmittelbare   Folge des allmählichen Zurücktretens   des auktorialen Erzählers  (12). Der Dialog wird im Allgemeinen, wenn irgend erforderlich, durch Regieanweisungen des Erzählers näher bestimmt, wobei er spielerisch hin- und her manövrierend die Seiten eher auseinandertreibt, als vermittelnd mitwirkt. Hierzu ein Beispiel:

„‚Morgen wird das Bett für mich gekauft!’  brüllte er.

Sie gab keine Antwort.

  • Verstanden?‘

Sie nahm alle Kunst zusammen und hauchte durch die

Tür:

‚Wie du willst.‘«  (S.53)

Die Dialoge zwischen Kien und Therese sind meistens Ausdruck eines Krieges,  der in der Sprache stattfindet:

„‚Es handelt sich um unser gemeinsames Interesse.‘

             ‚Der Rest gehört dazu!‘

‚Wo ist der Rest?‘

‚Eine Frau soll ihrem Mann …’

‚Und der Mann stiehlt der Frau den Rest.’

Ich verlange eine Million für die Erwerbung der Bibliothek Silzinger!‘

‘Verlangen kann jeder. Ich will den Rest. Ich will alles!’

‚Ich habe hier zu befehlen!‘

‚Ich bin die Frau im Hause!‘

‚Ich stelle ein Ultimatum.  Ich verlange kategorisch eine Million für die Erwerbung…’

‘Ich will den Rest! Ich will den Rest!‘

‚In drei Sekunden.  Ich hle bis drei…’

‚Zählen kann jeder.  Ich zähl‘ auch!'“  (S.124)

 

Der Roman enthält aber auch Passagen, in denen der Leser vom Erzähler nicht über die  einzelnen Sprecher unterrichtet wird,  in denen gewissermaßen nur deren Stimmen vorgeführt  werden:

       

Eines Tages  standen  die Weiber  vor der r des Konsumvereins und redeten durcheinander.  ‚Der Franz ist durchgebrannt!’  ’Schlechte Familie.‘ ‚Mit der vollen Kasse.•

‚Er hat einem nicht ins Gesicht können schauen.‘ ’68 Schilling!’

‚Die Todesstrafe gehört wieder her. Mein Mannpredigt das seit Jahren.’” (S. 333)

Dass man hier über die Redenden im ungewissen bleibt, erklärt sich aus der Perspektive. Anna Pfaff  hört  die Stimmen; aus ihrer Perspektive werden die Sprechenden dem Leser gegenwärtig.

Eine derartige Erklärung  ist aber bei der großen Massenszene  vor dem „Theresianum“ nicht möglich:

„Der Kleine ist ein Zwerg.  Ja, die Krüppel! Geschlagen hat ein anderer. Ein Rothaariger.  Ja, die Rothaarigen! Der Zwerg hat ihn angestiftet. Haut’s ihn! Das Weib hat es ausgebracht.  Bravo! Sie hat so lange geschrien. Ein Weib!  Keine Angst kennt die nicht. Der Mörder hat sie bedroht.  Der Rote. Die Roten sind schuld. Den Kragen hat er ihr umgedreht. Geschossen ist nicht worden. Natürlich nicht. Es hat ja niemand den Schuss gehört.  Was hat er gesagt? Den Schuss hat jemand aufgebracht. Der Zwerg. Wo ist  er? Drin ist er.

 Vorwärts!   Es geht niemand mehr herein. Alles ist voll. So ein Mord! Die Frau hat was ausgestanden. Jeden Tag Prügel. Halbtot hat er      sie geschlagen.  Was nimmt sie einen Zwerg? Ich nehmete keinen. Weil du einen ganzen hast. Bei der Not. Zu wenig Mannsbilder gibt’s.  Ja, der Krieg! Die Verrohung der Jugend.

Jung war er auch. Keine achtzehn. Und schon ein Zwergerl. Zu dumm, er ist doch ein Krüppel. Ich weiss es.  Er hat ihn geseh’n. Der war drin. Er hat es nicht aushalten können. Das viele Blut. Drum ist er ja so mager. Vor einer Stunde war er noch dick. Ja, der Blutverlust! Ich sag’, Leichen  schwellen auf. Bei die Ersoffenen. Was verstehen  Sie von Leichen? Er hat der Leiche den Schmuck abgenommen. Wegen dem Schmuck. Vor der Goldabteilung. Ein Perlenkollier. Die Baronin. Es war ja nur der Diener. Der Baron war es! Zehntausend  Schilling. Zwanzigtausend!   Ein Aristokrat. Ein schöner Mensch. was schickt  sie ihm? No, soll er die Frau lassen? Die Frau muss ihn lassen. Ja, die Männer!  Sie lebt. Er ist die Leich‘. So ein Tod! Für einen Baron. Recht geschieht ihm! Die Arbeitslosen haben nix zu fressen. Was braucht er das Perlenkollier? Aufhängen soll man sie! Das mein‘  ich. Alle miteinander. Und das ganze Theresianum dazu. Anzünden!  Das gibt ein Feuerl.“ (S. 258f.)

Dem Leser werden die Stimmen unmittelbar  und nicht durch das Medium einer Romanfigur wirklich. Die Anführungszeichen fehlen; wir wissen nicht, wo ein Sprechwechsel anzunehmen ist. Rein formal gesehen, sind hier die Grenzen zwischen den einzelnen Personen gefallen. Es ist die Masse, die spricht. „An ihrer Polyphonie”  – so bemerkt Manfred Moser – „beschwört Canetti die Totalität  einer Gesellschaft, deren Mitteilungsfähigkeit sich im Mono1og erschöpft“  (13).

Der Dialog kann sich also zur Massenstimme erweitern, er kann sich aber auch zum Monolog verengen. Im folgenden zitieren wir zwei Monologe, bei denen es sich um die traditionelle Form der direkten Rede handelt. Im ersten Beispiel ist Fischerle allein und führt ein lautes Selbstgespräch, im zweiten ist Pfaff von Menschen umgeben und spricht in Gedanken:

 

“’Jetzt bilde dir aber nicht ein, dass es denen weh tut!‘ sagte er plötzlich laut.  ‚Du bist hier und die sind dort. Was spüren sie schon vom Zwicken?'“ (S.298)

 

„‚Ein anderer tut gleich prügeln. Bei mir geht das Verhaften von selbst. Ein Aufseh’n darf nicht sein. Stümper erregen Aufsehen. Was ein Kenner ist, dem folgt der Verbrecher von selbst. Haustiere tut man zähmen. Die Katzen haben eine wilde Natur. Dressierte Löwen sieht man im Zirkus. Die Tiger springen durch einen Feuerreifen. Der Mensch hat eine Seele. Das Organ packt ihn bei der Seele und er folgt wie ein Lamm.‘ Er sprach seine Worte nur in Gedanken, sosehr es ihn  brannte,  sie laut hinauszubrüllen.“    (S. 252f.)

An einer Stelle sagt Therese in direkter Rede zu Kien:

„Es wird ja alles von Tag zu Tag teuer. Die Kartoffeln kosten bereits das Doppelte.“                                   (S. 30) ·

Dieses Zitat findet man wörtlich an zwei anderen Stellen im Roman, jedoch in anderem Kontext. Dort handelt es sich um einen Monologue interieur, einen inneren Monolog. Der Leser erhält ohne Vermittlung Einblick in den Bewusstseinsstrom  Thereses. Was den inneren Monolog vom stillen Monolog in direkter Rede unterscheidet, ist seine Emanzipation vom Erzähler.  (14)

Das Gemeinsame der Personen Kien und Therese besteht darin, dass sie nebeneinander her ihre inneren Monologe führen. Die Gedanken des Gelehrten sind genau so klischeeverhaftet wie die der Haushälterin, nur sind sie „gewählter“:

„Ihren freien Tag traten die Menschen mit Schlaf an. Dann warfen sie sich in ihre besten Kleider. Vor dem Spiegel verbrachten sie die ersten wachen Stunden in Andacht. Während der übrigen erholten sie sich von ihren Fratzen an andern. Zwar war jeder sich selbst der Beste. Aber um es zu beweisen, ging man unter Mitmenschen. Wochentags schwitzte oder schwatzte man für sein Brot. Sonntags schwatzte man umsonst. Mit dem Ruhetag war ursprünglich ein Schweigetag gemeint.“                                               (S. 29)

Wie die Zunahme der Dialoge deutet auch die Darstellung von Vorgängen der Innenwelt beziehungsweise die Spiegelung von Vorgängen der Aussenwelt im Bewusstsein einer Romanfigur auf das Zurücktreten des persönlichen Erzählers. ( 15)

Bewusstseinsströme  erscheinen  im Roman häufig in der Form des Style indirect libre, der erlebten Rede. Wir greifen ein Beispiel heraus:

„Seiner Arbeit stand morgen das heutige Schicksal bevor.“ (S. 52)

Gegenüber dem inneren Monolog bleibt der Erzähler in der erlebten Rede „ausdrücklich das ‚mitteilende‘ Organ; die Wiedergabe der Rede im Präteritum dokumentiert dessen Mitteilungscharakter“  (16). Der Erzähler fungiert aber nicht als Mittler-Person,  so dass die Figur  selbst voller Gegenwärtigkeit vor dem Leser steht.(17)

Die erlebte Rede wird von Canetti auch in etwas abgewandelter Weise verwendet, nämlich im historischen Präsens:

Fürs Beten hat sie nichts übrig. In die Kirche geht sie nicht.“(S.24)

So nähert sich die erlebte Rede noch stärker dem  inneren Monolog.

Ein anderes Mittel, den Leser über die Bewusstseinsströme der Charaktere zu unterrichten,  ist der Perspektivenwechsel:

„Therese behandelte ihn (Kien) wie Luft, wie Stein, verbesserte er.“ (S. 141)

Die Perspektive des Erzählers wird hier durch die Perspektive Kiens gebrochen,  so dass auch Kien mit seinen eigenen Worten anwesend ist.

Das sprechende Mitwirken der Charaktere zeigt sich deutlich auch an Sätzen, in denen der Erzähler die Terminologie der Charaktere gebraucht, wie das im folgenden Beispiel der Fall ist:

„Eine volle Woche, nachdem Therese ihren Mann, den Dieb, hinausgejagt hatte, war sie mit dem Durchsuchen der Wohnung beschäftigt.“   (S. 240)

Die Wörter „Dieb“ und „ihrer“ entstammen der Perspektive Thereses, nicht der Erzählerperspektive. Therese bezeichnet ihren Mann an anderer Stelle als „Dieb“.  „Sie schreit: ‚Hinaus aus meiner Wohnung!'“  (S. 146)

In dieser Vermengung von Erzähler- und Figurensprache ist die Modifikation einer auktorialen Erzählweise in die Richtung auf personale Erzählsituation greifbar. (18)

Das Vorherrschen dieses Erzählelements  bezeichnet Manfred Moser als „Stil der Anpassung“, ein „Mittel von erstaunlicher Vielfältigkeit und Geschmeidigkeit, das die simultane Wiedergabe von innerem und äußerem Geschehen ermöglicht.“ (19)

Im folgenden Satz assimiliert sich die Sprache des Autors an die Sprache und Denksphäre des Hausbesorgers. Er erweist sich als Manipulation des persönlichen Mittelpunkts:

„Ursprünglich schlief die Familie, die fünf Mitglieder zählte, im größeren Raum, Frau, Tochter und dreimal er selbst, er, der Polizeibeamte, er,  der Ehemann,  er, der Vater.“  (S. 326)

Die Assimilation der Autorensprache an die Figurensprache ist die Folge einer Verwandlung, die beim Autor selbst zum Lebensprinzip geworden ist. Im Verlauf der Erzählung verwandelt er sich von Figur zu Figur,  folgt er seinen Figuren aufs Wort, um sich getreulich mit ihren Vorstellungen in eins zu setzen und im Resultat die Diskrepanz von individueller Anschauung und objektivem Vollzug unmissverständlich sichtbar zu machen.

Das reinste Ergebnis der von Canetti eingenommenen Erzählhaltung       ist die Grenzaufhebung zwischen Phantasie und Realität. Von Kien wird erzählt, dass er sich nach seiner Vertreibung aus der eigenen Wohnung eine neue Ersatzbibliothek zusammenkauft, die nur in seinem Hirn existiert:

„Da er ein unzerstörbares Gedächtnis besass, trug er die gesamte neue Bibliothek im  Kopf.“ (S. 149)

Wie Kien nimmt der Erzähler die Bücher im Kopf wörtlich und behandelt sie als Körper mit Gewicht und Volumen. Abends im Hotel lässt er ihn den Lift benutzen, weil ihn die Bibliothek im Kopf schwer drückt. Im Zimmer angekommen, lädt Kien die Bücher im Kopf „Paket um Paket, nach Listen geordnet“ (S.151) ab und füllt den Raum bis zur Decke damit an. Das Unsinnige ist in eine gewöhnliche Umgebung eingebettet; ein Hotelzimmer mit dem üblichen Inventar bildet den Rahmen. Die Verwirrung setzt sich fort; als später Fischerle Kiens Vorstellungen nachvollzieht. Bereitwillig nimmt er die Bücher aus dem Kopf entgegen, schichtet sie zu Türmen auf, schleppt sie herum, bis er wahrhaftig erschöpft ins Bett fällt. Kein Wort weist darauf hin, dass er nur pantomimisch Kiens Halluzinationen illustriert. Die Grenze zwischen Realität und Einbildung wird erzählerisch überbrückt.  „Indem sich der Erzähler im Hintergrund hält und Reales wie Irreales in gleicher Weise konkret auffasst, macht er die Welt durchlässig für die Phantasmen und Schreckgespenster der wahnhaften  Erfahrung“, stellt Manfred  Moser fest. (20)

Die Übergänge zwischen den Redeweisen in Canettis Roman sind fliessend. So werden zum Beispiel im Gespräch zwischen Fischerle und dem Schneider aus dem Kapitel „Das Kleine“ Fischerles Worte in direkter Rede, die des Schneiders dagegen in indirekter Rede wiedergegeben. Wir zitieren auszugsweise:

Ich bin der Schachweltmeister Doktor Siegfried Fischer. Sie haben mich sowieso nach der Zeitung erkannt. Was ich brauche, ist ein Massanzug, bis heute abend fertig(…)

Man nahm ihm sorgfältig Mass. Was ein Engländer  könne, werde man auch noch zustande bringen.    Man  müsse von Beruf kein Schachspieler sein, um den Herrn Doktor zu kennen. Die Zeit sei knapp, aber …   (S. 311f.)

„Wissen Sie was!‘ schrie Fischerle, ‚Sie sind in England geboren! Wenn Sie wollen, wett ich. Sie sind in England geboren!‘ Halb und halb gab es der Schneider  zu. Er kenne London genau, er sei nicht gerade in London geboren, auf der Hochzeitsreise wäre er beinahe dort geblieben, die grosse Konkurrenz …“           (S. 314)

Der Zusammenfassung von Geäussertem und Gedachtem dient   schliesslich der Redebericht,  in dem „die Rede selbst einseitig als Geschehen gegeben“ ist (21). Wir führen  je ein Beispiel  an:

„Er war der erste, der von Theresens Glück erfuhr. Er zweifelte so lange an der Wahrheit ihrer Worte, bis sie ihn beleidigt aufs Standesamt lud. “  (S. 41)

„Wortkarg und mürrisch von Natur, machte er sich einen Vorwurf aus dem Gespräch, das er ohne zwingenden Grund begonnen hatte.“ (S. 8)

Wesentlich ist, dass in Canettis Roman die möglichen Redeweisen in fast verwirrender Fülle gebraucht werden. Dies rechtfertigt sich natürlich aus der Tatsache, dass Darstellung der sprachlichen Verwirrung nur auf solche Weise gelingen könnte. Als Kritik an jener Kommunikationslosigkeit dient dem Dichter die Verwendung der Phrase, die das Fehlen aller Beziehungen zwischen den Individuen bezeugt. Therese führt sich  bei Kien mit Phrasen wie: „Ordnung muss sein“, „ich bin so frei“, „das wär noch schöner“ usw.

Canetti verwendet die  Phrase  durch verschiedene kleine Veränderungen. So durch eine einfache Negation:

„Sie schlug das Buch auf, las laut:  ‚Die Hosen… und wurde nicht rot“  (S.36)

Oder:

Sie war wie keine Blume. „(S. 281)

Die Phrase ermöglicht Canetti seinen kompromittierenden  Stil. Er schreibt:

„Eine künstlerische  Verunstaltung  brachte er nicht über den Charakter. „(S. 43)

Üblicherweise müsste es heissen:  „Eine künstlerische Verunstaltung brachte er nicht übers Herz; dazu fehlte es ihm an Charakter.“  Der Autor setzt die Kenntnis  der Redewendung voraus und spart sich einen erklärenden Satz. Der Satz Abhandlungen schossen wie Pilze aus dem Schreibtisch.“ (S. 60) setzt anstelle der sprichwörtlichen die richtige Lokalität.

Diese Methode erlaubt Canetti, die Sprache auf ein Minimum zu verkürzen, Begründungen wegzulassen und trotzdem verständlich zu bleiben.

Canetti weiss mit allen möglichen sprachlichen Kunstmitteln treffend und virtuos umzugehen. Unter den zahlreichen rhetorischen Figuren, deren er sich bedient, überwiegen jene, die Doppelsinniges, Widersprechendes, Parodierendes zum Ausdruck bringen.

Die Anspielung, „eines der vorzüglichsten Stilmittel, um die soziale Atmosphäre um ein Werk zu ermitteln“, trifft vornehmlich heimische Sprichwörter und Redensarten; in der „Blendung“ solche aus der Wiener Umgangssprache (22). Canetti, stellt Manfred Moser in seiner Dissertation fest, „nimmt die abgedroschenen, durch Verallgemeinerungen verschlissenen Worte, die zu eindimensionalen Zeichen verhärtet sind, wieder als lebendige Worte in ihrer Vieldeutigkeit und Mehrschichtigkeit.  So gibt es in der ‚Blendung‚ ‚einer kurzen Rede unschuldiger Sinn‘ (S.44), eine Frau, die, hässlich wie noch nie eine Nacht‘ (S.366) ist, oder einen ängstlichen Betrüger, dem, das ganze ver- lorengeglaubte Geld vom Herzen fällt‘ (S. 208).  (23)

Der Autor kann die allgemeine Kenntnis der Redensarten voraussetzen. Das gilt auch für die oft hinzugezogenen Symbole und Metaphern. Der Satz:

und auf einmal bleibt einem von dem ganzen Geld nicht einmal ein Weib in der Hand zurück.            (S. 230)

nimmt die Metapher „Weib“ zur Hilfe. Man versteht also, dass der Redende mit dem Geldverlust den Verlust erhoffter sexueller Genüsse fürchtet.

Eine Frau   tut alles für ihren Mann. Den Rock  tut sie nicht.“  (S. 129)

Dieser Satz aus der Rede Thereses knüpft an das Symbol des Rockes für die Weiblichkeit an und an eine Phrase, mit welcher die Umgangssprache die Ehe-Ideologie einfing.

Im Folgenden werden die bereits vorliegenden Untersuchungen Mosers über die rhetorischen Figuren im Roman „Die Blendung“ zitiert:

Das Zeugma verbindet Bereiche, die ursprünglich nicht zusammengehören.  Von Fischerle, der im Halbschlaf von Gedanken an die Polizei geplagt wird, heisst es, dass ‚Die Polizei ihm zum Hals und ein Arm zum Bett heraushängt’  (S. 174).

Die konventionelle Redensart erlangt durch diese ungewohnte Nachbarschaft mit einem konkreten Sachverhalt komische Anschaulichkeit. Merkwürdig ist die Zusammenstellung  von  Konkretem und Abstraktem: Therese ‘schonte weder Zeit noch Handschuhe‘ (S. 115), – ‚Sie bot ihr (Kiens erstarrter Figur) weder Essen noch Beschimpfungen an.‘.  (S. 143). Der anschauliche Erfassungskern des Verbs verdrängt dessen übertragenen Sinn: so als wäre die Zeit ein Gegenstand wie Handschuhe, die man schonen oder verschleissen kann, als wären Beschimpfungen transportabel.

Diesem Stilmittel verwandt sind die häufigen verunglückten Vergleiche:  ‚Trotz seines Gedächtnisses, das so kurz war wie die Nase‘  (S. 278), heisst  es vom Kommandanten. Die Klofrau, der Fischerle begegnet, ‚grinste so dreckig, wie es ihr Beruf mit sich brachte‘ (S. 313). Die Amphibolie der Verben und Adjektive, der Doppelsinn zwischen konkret-anschaulicher und übertragener metaphorischer Bedeutung wird ironisch ausgenützt:  ‚Die Krawatte sass, wie er, breit und nicht ohne Eleganz‚ (Seite 276).

Der Verfremdung dient ausserdem das Oxymoron; die Zusammenstellung verschiedener einander widersprechender Begriffe. Kien begegnet ein Blinder auf der Strasse:  ‚Er war mit ausgesuchter Armut gekleidet‘ (S. 18). Der  Überraschungseffekt  besteht in der Brechung der konventionellen Sprache, die hier allenfalls  eine Wortverbindung wie ‚ausgesuchte Eleganz‘ erwarten liesse. Kien, der Mitmenschen gegenüber keine Verehrung oder Hochachtung empfindet, ihren Gesellschaftskonventionen aber gehorcht,’verbeugte sich mit tiefer Verachtung‘ (S. 147). In anderer Weise verbeugt sich Fischerle, der so klein ist, dass er sich kaum noch verbeugen kann:  ‚Fischerle verbeugte sich durch einen Ruck nach oben, wie das seine Art war, und stellte sich vor‘ (S. 311).

Konventionalisierte und  bedeutungsschwache  Redewendungen werden durch Einschiebsel, die wie Fremdkörper  wirken, blitzartig auf ihren metaphorischen   Ursprung  zurückgeführt. Eine reiche und aufdringliche Patientin des Arztes Georg lässt sich nicht durch dessen Reserviertheit abwimmeln: Schliesslich bot sie sich seinen Arm an’ (S. 355). Die Deformationen, denen Canetti die abgegriffenen Formeln des Alltags unterwirft, befreien von ihnen. Beim Leser stellt sich Vergnügen ein, wenn er in diesem Jonglieren die verblüffenden Inhalte entdeckt.

Die Katachrese wird zum positiven Stilistikum. Sprachübliche Metaphern gehen eine unübliche Verbindung ein. Fischerle fällt das ganze verlorengeglaubte Geld vom Herzen‘ (S. 208), Therese lebt ‘von ihrem Leib in den Mund‘  (S. 232). Die Masse, die sich einen Raubmörder für ihre Neugier wünscht, ignoriert Fischerles Säuglingsgeschrei, denn sie ‚lässt keinen Säugling  für einen Raubmörder halten‘ (S. 291).“ (24)

Für die Stilfigur des Oxymorons können auch  andere Beispiele angeführt werden:

„Die Umstehenden  nickten  laut. “ (S. 18)

„‚ Wo ist sie?‘ brüllte er freundlich…(S.76)

„In den Sälen herrschte hässliche Ruhe.“ (S. 366)

Ebenso können auch die Beispiele für Zeugma erweitert werden: Kien und Pfaff gehen die Treppe hinauf;

Kien in Hemdsärmeln,  de(r) Hausbesorger in Fäusten.(S. 76)

„Mit der Sonne vergingen nach und nach auch die Leute.“(S.319)

Bei der Verwendung der bezüglichen rhetorischen Figuren kommt   Ironie zustande,  so dass hier die Erscheinung des Erzählers, der sonst kaum greifbar ist, nicht übersehen werden darf. Hier ergibt sich sogar eine wichtige Funktion des Erzählers. Durch seine Ironie kann die Diskrepanz zwischen Mensch und Mensch, Wahn und Realität verstärkt werden.

Das Werk ist durchzogen von einem Netzwerk von Symbolen und Leitmotiven, die wenngleich Ausgeburten des Chaos selbst, auf dessen Grund verweisen.

Zu den tragenden Symbolschichten des Romans gehört neben dem Brandmotiv  – vor allem das Wortfeld von „Blendung“ und „Blindheit“, mit dem das Thema und im besonderen die Sichtweise  der Hauptfigur charakterisiert wird. Den symbolischen Antithesen wie Stein und Holz, Wasser und Feuer ordnen sich Zahlen und geometrische Figuren zu, so etwa die gerade oder gekrümmte Linie, ferner bestimmte Körperformen, das  Kleine oder Riesige, und eine ganze Reihe von Tierzeichen wie Hund, Tiger, Affe, Schwein, Spinne und andere. Die symbolischen Farben Blau  und  Rot sind zugleich leitmotivisch. Mit der Farbe Blau assoziiert der Buchgelehrte Kien das in der Frau verkörperte Gegenprinzip zur reinen Geistigkeit – das Körperliche, Fleischliche, Sexuelle; die Farbe Rot verweist dagegen auf den Bibliotheksbrand,  in dem auch Kien Feuer fängt.

Die Leitmotive, die aus Phrasen, Dingen und  Farben bestehen, festigen technisch den Aufbau des Romans.(25)

Die leitmotivischen Dinge Faust und Rock ziehen sich durch den ganzen Roman und vertiefen den Eindruck des Grotesken. Die Faust ist für Kien Pfaff. „Eine Faust soll nicht so viel reden, sonst merkt man, dass sie nichts zu sagen hat“ (S. 98), denkt Kien über den Hausbesorger.

Der Rock hingegen ist für ihn mit Therese identisch. Die Personen im Roman sind im Grunde alle ergänzungsbedürftig. Sie erscheinen nicht mehr als ganzheitliche Gestalt, sondern als Kopf, als Rock, als Buckel oder als eine Faust, was die beängstigende  Spezialisierung  des Menschen, die die Verzerrung des Menschlichen mit sich bringt, grotesk widerspiegelt.

Fast zu viel Chaotisches geschieht in der „Blendung“, die aber als Ganzes kein Chaos ist. Denn Canetti verfällt nie in das künstlerische Missverständnis, Chaos mit chaotischen Mitteln auszudrücken;  seine Sprache ist durchgehend klar, präzis, korrekt· und unkompliziert. Dem Autor der „Blendung“ ist es gelungen, die neue Wirklichkeit mit ihren sämtlichen Symptomen darzustellen und einen neuen Realismus des Romans zu erschaffen.

ANMERKUNGEN

(1) Dieter Dissinger: Vereinzelung und Massenwahn. Elias Canettis Roman “Die Blendung“.   Bonn 1971. S. 70.

(2)  ebd.

(3) Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans. S. 17.

(4) vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 2. verb. Aufl., Göttingen 1982. S.150.

(5) Elias Canetti: Das Gewissen der Worte. S.4.

(6) Ebd.

(7) Babylonischer Turm: ein Gebäude, das nach Mose 11 bis in den Himmel reichen sollte. Doch verhinderte Jahwe seine Vollendung, verwirrte die Sprache seiner Erbau- er und zerstreute sie in alle Lande (daher sprichwörtlich: Babylonische Verwirrung).

(8) Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico Philosophicus. türk. Ausg. mit dt. Orig. Istanbul  1985. S. 126.

(9) Alfred Doppler: Sprache Kommunikation-  oder Herrschaftsinstrument?  In: Walter Weiss und Eduard Beutner (Hrsg.): Literatur und Sprache im Österreich der Zwischenkriegszeit.  Polnisch-österreichisches  Germanisten-Symposion.   Salzburg 1983. S. 78.

(10) Dieter Dissinger:  a.a.O. S. 204.

(11) vgl. Eberhard  Lämmert:  Bauformen  des Erzählens.  7., unveränd.  Aufl.  Stuttgart. S. 87.

(12) vgl. Franz K. Stanzel:  Theorie  des Erzählens.  S. 243.

(13) Manfred Moser: Zu Canettis „Blendung“. In: Literatur und Kritik 50. 1970. S. 598.

(14) vgl. Eberhard  Lämmert: a.a.O. S. 236.

(15) vgl. Franz K. Stanzel:  Theorie  des Erzählens.  S. 243.

(16) Eberhard  Lämmert:  a.a.O.  S. 235.

(17) vgl. Eberhard  Lämmert:  a.a.O. S. 236.

( 18) vgl. Franz K . Stanzel:  Theorie  des Erzählens.  S. 248.

(19) Manfred  Moser: a.a.O. S. 5q8.

(20) ebd. S. 599.

(21) Eberhard Lämmert: a.a.O. S. 235.

(22) Wolfgang  Kayser:  Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung  in die Literaturwissenschaft.   18. Aufl. Bern, München  1978. S. 111.

(23) zit. in: Mechthild  Curtius:  Das Groteske  als Kritik. In: Literatur und Kritik  65. 1972. S. 304

(24) zit. in: Mechthild  Curtius:  Das Groteske  als Kritik. In: Literatur  und Kritik 65. 1972. s. 305ff.

(25)   vgl. Wolfgang Kayser: a.a.O. s. 71.

 

LITERATUR

  1. CANETTI, Elias Die Blendung. Roman. Frankfurt a.m. 1981.
  2. CANETTI, Elias Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt a.M. 1981.
  3. CURTIUS, Mechthild Das Groteske als Kritik. In: Literatur und Kritik 65. 1972. S. 294-311.
  4. DISSINGER, Dieter „Erster Versuch einer Rezeptionsgeschichte Canettis am Beispiel seiner Werke ‚Die Blendung‘ und ‚Masse und Macht‘“. In: Canetti lesen. Erfahrungen mit seinen Büchern. München,  Wien 1975.  S. 90-105.
  5. DOPPLER, Alfred „Sprache: Kommunikation- oder Herrschaftsinstrument?“ In: Literatur und Sprache im Österreich der Zwischenkriegszeit. Polnisch-österreichisches Germanisten-Symposion. Salzburg S. 77-86.
  6. KAYSER, Wolfgang Das sprachliche Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. 18. Aufl. Bern, München 1978.
  7. LAEMMERT, Eberhard Bauformen des Erzählens. Unveränd. Aufl. Stuttgart 1980.
  8. MOSER, Manfred Zu Canettis „Blendung“. In: Literatur und Kritik 50. 1970. s.591-609.
  9. STANZEL, Franz K. Theorie des Erzählens. 2., verb. Aufl. Göttingen 1982.
  10. WITTGENSTEIN, Ludwig Tractatus Logico Philosophicus türk. Ausg. mit dt. Orig. Istanbul 1985.

*   Der Beitrag ist meiner Magisterarbeit entnommen, die Prof.Dr. Gertrude Durusoy betreut hatte. Mit diesem Start ins wissenschaftliche Forschen sei ihr Zutun an meinem akademischen Werdegang gewürdigt.