Die Madonna im Pelzmantel

Der scheiternde Mann in der türkischen Romanliteratur

Jun.Prof. Dr. Béatrice Hendrich (Universität zu Köln)
Email: Bhendri1@uni-koeln.de

 

Abstract

Anhand des Romans Die Madonna im Pelzmantel (Kürk Mantolu Madonna, 1943) des türkischen Autors Sabahattin Ali (1907-1948), beschäftigt sich der Beitrag mit dem ‚scheiternden Mann‘ in der türkischen Erzählliteratur. Er tut dies mit Blick auf Saids Orientalism und literary masculinity. Die Madonna im Pelzmantel bietet sich als Grundlage dieser Erörterung an, da der Roman ganz wesentlich auf der Verflechtung (oder Widerspruch) von Dichotomien beruht: Die Rahmenhandlung ist im Ankara der frühen Türkischen Republik angesiedelt, die Binnenhandlung hingegen im Berlin der Zwischenkriegszeit. Der Hauptcharakter ist ein Mann, osmanisch und türkisch, alt und neu, der keine der Anforderungen an diese Rolle erfüllt: Er ist weder in der Liebe die dominante Figur noch in der Familie, nicht er beherrscht seine Biografie, sondern seine Gefühle und äußere Mächte wie sein Vater, sein Chef und das Schicksal beherrschen ihn. Es stellt sich die Frage, wie der Autor diese sympathische Versagerfigur in Beziehung setzt zum politischen Umbruch in der Türkei jener Zeit, und wie aus Literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht „Europa“, der „Orient“ und die (in der türkischen Romanliteratur populäre) Figur des erfolglosen, passiven Mannes in Zusammenhang gebracht werden können.

Schlüsselbegriffe: Sabahattin Ali, Die Madonna im Pelzmantel, scheiternder Mann, türkische Literatur, Kürk Mantolu Madonna

Abstract:

Based on a new reading of the novel The Madonna in the Fur Coat (Kürk Mantolu Madonna, 1943) by the Turkish author Sabahattin Ali (1907-1948), the article deals with the ‘failing man’ in Turkish fiction. It does so with Said’s Orientalism and literary masculinity in mind. The Madonna in the Fur Coat lends itself as a basis for this discussion, as the novel is very much based on the intertwining (or contradiction) of dichotomies: The frame story is set in the Ankara of the early Turkish Republic, while the interior plot is set in interwar Berlin. The main character is a man, Ottoman and Turkish, old and new, who does not fulfill any of the requirements of this role: He is not the dominant figure in love, nor in his family; it is not he who dominates his biography, but his emotions and external powers such as his father, his boss and fate. The question arises as to how the author relates this sympathetic failing figure to the political upheaval in Turkey at the time, and how, from a literary and cultural studies perspective, “Europe,” the “Orient,” and the figure of the unsuccessful, passive man (popular in Turkish fiction) can be related.

Key words: Sabahattin Ali, The Madonna in a fur coat, failing man, Turkish Literature, Kürk Mantolu Madonna

 

Einleitung

Für die europäische Leserschaft eher unerwartet, ist die osmanische und türkische moderne Literatur voll von schwachen und scheiternden Männern, von Männern ohne Eigenschaften und Männern ohne Halt. Einer der bekanntesten ‘schwachen’ Romanhelden der türkischen Literatur ist Raif Efendi aus Sabahattin Alis Madonna im Pelzmantel (Kürk Mantolu Madonna, 1943). Dieser Roman, mittlerweile ein moderner Klassiker, bietet eine ganze Reihe von Lesarten an. Eine Möglichkeit ist, sich auf die zahlreichen Dichotomien, die der Roman beschreibt, in den Blick zu nehmen. Zu den Dichotomien gehören die Imagionationspaare Ost-West bzw. Orient-Okzident sowie Mann-Frau. Die Frage beschäftigt mich, ob in diesem Roman das Beziehungsgeflecht zwischen Orient und Okzident seinerseits in Bezug steht zu Sabahattin Alis Blick auf die Geschlechterrollen. Gibt es eine solche Beziehung und wie wäre sie zu definieren? Mit Blick auf die Literatur der türkischen Republik im allgemeinen: Stehen Männer und Frauen in dieser Literatur gar für einen Orientalismus-Diskurs?

Dieser übergeordneten Frage werde ich mich heute in folgenden Schritten nähern: 1. Die moderne osmanisch-türkische Literatur – eine Beziehungsgeschichte, 2. Der Autor Sabahattin Ali und sein Roman in dieser literarischen Landschaft, 3. Masculinities Studies literarisch gewendet, 4. Türkischer Orientalismus?

 

Die moderne osmanisch-türkische Literatur – eine Beziehungsgeschichte

Die Geschichte der (frühen) modernen osmanisch-türkischen Erzähl-Literatur ist fraglos auch eine Beziehungsgeschichte. Männer und Frauen, Orient und Okzident, arbeiten sich aneinander ab, vergleichen sich permanent im Licht des andern, und nur selten gelingt eine glückliche Beziehung. Romantische Liebesbeziehungen enden stets tragisch, und nur die ratio-basierte Vernunftehe hat überhaupt eine Chance zu überleben.

Die Geschichte der osmanisch-türkischen modernen Erzählliteratur ist deshalb so sehr eine Beziehungsgeschichte, da diese neue Literatur zu einem Zeitpunkt hervortritt, geradezu hervorbricht, als die osmanische Gesellschaft und der osmanische Staat sich bereits in einem heftigen Beziehungskampf befinden, mit sich selbst und mit Europa. Und im Focus der gesellschaftlichen Diskussion steht das zu erneuernde Rollenverständnis, das zeitgemäße Verhältnis zwischen Männern und Frauen, das zur Erneuerung und Konsolidierung des Staates insgesamt führen würde.

Das Auftreten der modernen Erzählliteratur im Osmanischen Reich als ganz neue Literaturform lässt sich ziemlich genau datieren, nämlich zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Moderne osmanische Literatur, das bezeichnet die Aneignung der Genres Roman sowie anderer poetischer Formen und einer neuartigen Theaterkultur. Bis zu diesem Zeitpunkt war die osmanische Literatur durch andere Genres der Hof- und Volkskultur gekennzeichnet; eine Langform als Prosatext fehlte vollständig.[1] Im letzten osmanischen Jahrhundert suchten Staat und Gesellschaft, genauer gesagt die intellektuelle Elite, nach Wegen, den politischen und militärischen Machtverlust im Vergleich zu Europa zu deuten und zu überwinden. Hatte man bereits im 18. Jahrhundert an militärischen und technischen Verbesserungen gearbeitet, so war das folgende Jahrhundert durch ein umfassenderes Interesse für das Europäische gekennzeichnet: Politik, Gesellschaft und Kultur mussten offensichtlich reformiert werden; und als Vorbild schien das mächtige Europa dienen zu können. Ein immenses Interesse an europäischer Kunst und E-Kultur entstand, insbesondere an der Literatur. Die Förderung der Fremdsprachenkenntnisse geschah ganz wesentlich durch die 1822 eingerichtete Übersetzungskammer (Tercüme Odası). Darauf aufbauend konnte europäische Literatur verstärkt rezipiert und übersetzt werden. Das Genre Roman wurde zunächst auf diesem Weg, durch Adaptionen und Übersetzungen europäischer Werke ins Türkische, bekannt. Darüber hinaus trugen auch die nicht-muslimischen Intellektuellen durch ihre Kenntnis europäischer Sprachen und kultureller Produktion zur Entwicklung des osmanischen Romans bei.

Bedeutsam war auch, dass es den osmanischen Autoren nicht nur um die Arbeit an der Form ging, sondern, neben dem Aspekt der Unterhaltung, um einen gesellschaftlichen Auftrag: Der Intellektuelle als Lehrer seiner Leser.

Der Literaturwissenschaftler Erdağ Göknar beschreibt diesen selbst empfundenen Auftrag so:

„Early novels … opened up a social space of self-examination with a moral intent to guide and instruct readers in the face of European encroachment … the Ottoman novel itself was a medium of modernization”                                              (Göknar 2010: 657)

Ein ganz wesentliches Thema dieser moralischen Selbstreflexion ist von Anfang an die gesellschaftliche Position der Frau und das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Die Autoren schreiben gegen den Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit an, gegen die Mehrehe, gegen die Verheiratung einander unbekannter Menschen; für die Frauenbildung und für die Liebesheirat, oder wenigstens freiwillige Vernunftehe, für eine eheliche Zweisamkeit basierend auf Respekt, europäischer Bildung und Treue bis in den Tod.

Männer und Frauen haben verschiedene Aufgaben in dieser neuen Gesellschaft. Nicht anders als wir es aus Europa kennen, dient die Bildung den Frauen nicht nur dazu, sie selbst glücklicher zu machen, sondern auch dazu, sie zu besseren Gesprächspartnerinnen für ihre Ehemänner zu machen, und vor allem sie zu befähigen, die Kinder nach den Erfordernissen der neuen Zeit zu erziehen. Auch die ersten Frauenberufe bewegen sich in dem üblichen Bereich von Lehrerin, Hebamme, dann auch Schneiderin und Krankenschwester. Manche –literarischen– Frauenfiguren sind aber auch bereit, den Heldinnentod fürs Vaterland zu sterben.

In dieser neuen Gesellschaft, wie sie im Roman gezeichnet wird, entwickeln sich bestimmte Typen von Männern und Frauen, die zunächst eindeutig negativ oder positiv konnotiert sind. Im folgenden werde ich mich auf die Männer-Typen konzentrieren.

Man muss hinzufügen, dass zu Beginn der literarischen Moderne männliche Charaktere noch etwas häufiger anzutreffen waren als weibliche, vor allem auch spielten sie oft die erste Hauptrolle, die Frau oder Frauen die „zweite Hauptrolle“, was mit dem immer noch beschränkten Handlungsspielraum der Frauen in der Öffentlichkeit übereinstimmt; und der Tatsache, dass zu Beginn nur Männer Texte veröffentlichten. Mit ihren Männern gingen die männlichen Autoren allerdings nicht zimperlich um. Neben den positiven Figuren, die die Zeichen der Zeit verstanden hatten und den Lesern als Vorbild dienen konnten, taucht auch die Gegenfigur auf, die im Laufe der Jahrzehnte unterschiedliche Schattierungen annimmt, aber doch in der Regel als abschreckendes Beispiel dient. Ein besonders auffälliger Typ, der sich schon durch die ersten Romane bewegt, ist der Dandy oder eitle Geck. Den kann man so charakterisieren, dass er die Verwestlichung falsch verstanden hat. Er blickt nur auf die Außenseite, interessanterweise die Konsumseite, kleidet sich übermäßig à la mode, wirft mit französischen Wörtern um sich, verschuldet sich, besitzt aber weder Bildung noch politisch-moralisches Verständnis (Abb. 1).

Abb. 1
Warum hast keine Taschen in die Hose genäht, Mann! – Was willst du mit Taschen, Mann. Wer sich eine Hose auf Pump nähen lässt, braucht keine Taschen!
Latife, Nr. 8, 17 Eylül 1874, (5. September 1290), S. 4.

Im Laufe der Zeit, abhängig von den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, ändert sich auch der Charakter der negativen männlichen Figur. Aus den albernen, oberflächlichen Figuren, die sich verschulden, um der falsch verstandenen Europäisierung nachzueifern, werden unsympathisch Kriegsgewinnler, die europäisierte Wirtschafts- und Konsumformen nachahmen, um damit Geld und Einfluss zu erlangen. Der Literaturkritiker Berna Moran fasst das, anhand sehr bekannter Romanfiguren zwischen 1860 und 1930, so zusammen: „Aus den dummen und armseligen Personen wie Felatun und Bihruz werden innerhalb von 50 Jahren durch Unmoral, Betrug und Spekulantentum Kollaborateure und schließlich Vaterlandsverräter“ (Moran 2012: 168).[2]

Dieser Wandel hängt natürlich damit zusammen, dass das Osmanische Reich an der Seite des deutschen Kaiserreichs den Ersten Weltkrieg verlor, zur Besatzungszone wurde, aufgeteilt werden sollte, und nur durch den bewaffneten Widerstand den Weltmächten einen neuen Friedensvertrag abringen konnte, der in die Gründung der türkischen Republik 1923 mündete. Diese rasanten Veränderungen politischer Art, die auf Gesellschaft und Wirtschaft immensen Einfluss hatten, führten nicht nur zu einer andern rechtlichen Stellung der Frau, sondern auch zum schon erwähnten Typ des Kriegsgewinnlers und vaterlandslosen Gesellen, der sich nicht für die glückliche Zukunft der Nation, sondern nur für seinen eigenen materiellen Reichtum interessiert.

Neben diesen albernen und oberflächlichen Figuren auf der einen Seite und den Kriegsgewinnlern auf der andern Seite, finden sich aber auch, schon recht früh, die nutzlosen, haltlosen, manchmal auch scheinbar eigenschaftslosen aber äußerst empathisch beschriebenen Männer-Typen. Osmanische und türkische Männer scheinen, aus der Sicht der Autoren, nur selten Autorinnen, weder mit familiären noch mit gesellschaftlichen Veränderungen wirklich umgehen zu können. Während die Frauen den sich nach und nach erweiternden Bewegungsraum, je nach den Möglichkeiten ihrer Schicht, bis zum Rande ausnutzen, verfallen die Männer eher in eine Schreckstarre. Im osmanischen Roman kapitulieren sie vor Heiratsintrigen[3]; im türkisch-republikanischen Roman verzweifeln Söhne aus den ethnischen Minderheiten an der Unfähigkeit der Väter, sich gegen den politischen und ökonomischen Druck zur Wehr zu setzen[4], oder sehen Männer nur noch mit Staunen, wie ihre Frauen und Töchter konsumieren und sich vergnügen nach den Regeln der neuen Zeit, während sie selbst dem traditionellen Bild als Ernährer nachzukommen versuchen, aber ihre Autorität als pater familias verloren haben. Anscheinend sind sie in der alten Zeit, auch der Zeit der Geschlechtersegregation und altmodischen harmlosen Vergnügungen, hängen geblieben[5] und wissen nicht, welche neue Rolle sie einnehmen sollen.

Zu diesen vermeintlich „nutzlosen“, auf jeden Fall aber aus der Zeit gefallenen Figuren des „türkischen Mannes“ gehört auch der Hauptcharakter in Sabahattin Alis Kürk Mantolu Madonna.

Abb. 2
Sabahattin Ali

Der Autor Sabahattin Ali und seine Madonna in dieser literarischen Landschaft

Sabahattin Ali, 1907 geboren und 1948 durch ungeklärte Umstände gewaltsam zu Tode gekommen, übte wie die meisten seiner intellektuellen Zeitgenossen nicht nur einen Beruf aus. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst als Lehrer und setze dann sogar 1928 das Studium in Berlin fort, wo er sich eineinhalb Jahre lang aufhielt. Später war er als Dramaturg und Dolmetscher für Carl Ebert am staatlichen Konservatorium in Ankara tätig, als Übersetzer deutschsprachiger Autoren wie Lessing und E.T.A. Hoffmann, als Herausgeber satirischer Zeitschriften und schließlich als Lastwagenfahrer. Vor allem aber war er der Verfasser von Romanen und Kurzgeschichten.

In den späten zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts war Sabahattin Ali in den Kulturbetrieb der Türkei gut integriert. Auch seine gelegentlichen Gefängnisstrafen wegen kommunistischer Propaganda oder Atatürks-Beleidigung änderten daran nichts. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte er sogar einen Förderer in Person des liberalen Erziehungsministers Ali Hasan Yücel. Sabahattin Ali war politisch links, heute würde man sagen links-liberal, orientiert. Diese politische Orientierung, die sich vor allem durch eine unabhängige politische Positionierung und einer Kritik sowohl an Rechtsnationalismus als auch an blinder Kemalismusbegeisterung auszeichnet, hatte es in der türkischen Republik niemals leicht gehabt. Während des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Ende wurde die Situation immer kritischer: Während des Krieges waren es vor allem die Nazi-Deutschland-freundlichen Rechtsfaschisten, auch aus den Reihen der früheren Literatenfreunde, die Verleumdungskampagnen gegen Sabahattin Ali anstrengten.[6] Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte eine außenpolitische und letztlich auch innenpolitische neue Westorientierung, nämlich die hin zur Nato und zur USA, und das schloss die Verfolgung vermeintlicher Kommunisten ein. Vermutlich war auch der bis heute nicht aufgeklärte, gewaltsame Tod Sabahattin Alis ein Ergebnis dieser politischen Neuorientierung.

Während des Zweiten Weltkriegs, 1940-1941, erschien die Madonna im Pelzmantel als Fortsetzungsroman in der Zeitung Hakikat, 1943 in Buchform. Der Roman wird gelegentlich als Versuch Sabahattin Alis gedeutet, ein unpolitisches Werk zu schaffen um selbst aus der Schusslinie zu gelangen. (Eine Vielzahl politischer Andeutungen zeigen, wie schwer ihm das fiel.) Dass der Autor damit einen frühen Klassiker der deutsch-türkischen Literatur schuf, wurde erst viel später deutlich und wertgeschätzt.

Eine ganz einfach Zusammenfassung der reinen Romanhandlung könnte so lauten: Der bis zur Selbstverleugnung introvertierte junge Türke Raif Efendi wird von seinem Vater nach Berlin geschickt, damit endlich etwas aus ihm wird; er das Seifensieder-Handwerk studiere und später die väterliche Firma übernehme. Raif geht zwar nach Berlin; dort schaut er sich aber hauptsächlich die Stadt und ihre Ausstellungen an. Sein Leben sind die Literatur und die Malerei. In einer Ausstellungshalle verliebt sich Raif unsterblich in das Bildnis von Maria Puder. Die beiden lernen sich tatsächlich kennen. Auf eine kurze heftige Liebe folgt eine erzwungene Trennung. Raif geht zurück nach Ankara. Maria soll ihm bald folgen. Sie wollen heiraten und glücklich werden. Raif weiß nicht, dass Maria von ihm schwanger ist. Maria stirbt unter der Geburt, ohne dass Raif davon erführe. Zehn Jahre später begegnet er seiner Tochter. Aus dieser halbstündigen Begegnung entsteht weiter nichts, außer das Raif, der sich schon vorher hinter die Mauern seines Selbstmitleids zurückgezogen hatte, nun endgültig eine scharfe Grenze zwischen seiner Person und dem Rest der Welt zieht und sich selbst nur noch eine Aufgabe zuschreibt: Für seine Familie, die er irgendwie gegründet hat, den Lebensunterhalt zu verdienen und sich dafür noch vom Chef, den Kollegen und der Familie unentwegt erniedrigen zu lassen.

 

Masculinity Studies literarisch gewendet

 Die Novelle, von der türkischen Kritik nach wie vor kritisch rezipiert, stellte in ihrer Form der ‚Synthese aus Weltliteratur und türkischer Nationalliteratur‘ und in ihrer couragierten Revision des Rollenbildes mit dem seiner europäischen Partnerin unterlegenen türkischen Mann ein Novum in der zeitgenössischen türkischen Literatur dar. (Böer 2002: 232)

Der Typ des – vermeintlich – gescheiterten Mannes in der türkischen Literatur könnte durch eine an die Masculinity Studies angelehnte Neuperspektivierung an Aussagekraft über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der türkischen Republik erlangen. Einen Grundgedanken der Masculinity Studies formulierte Alexander Hobbs:

Rather than reinforce patriarchy (or bemoan its demise, as the men’s rights movement does), men’s studies seeks to explode the myth that men in general benefit from it, and celebrates a multiplicity of masculine identities over socially imbedded stereotypes. …

‘[a]s men we can feel trapped into living out ideals that are not of our own making. It can be as if we have betrayed an inner knowledge of ourselves, in order to prove when we were still young boys that we could be ‘‘man enough’’’ (1). Men’s studies seeks to dispel the notion that there is a single masculinity and set of masculine attributes attached to it that form acceptable male behavior. (Hobbs 2013: 384)

Alexander Hobbs fragt danach, was die Literaturwissenschaft aus den soziologischen Masculinity Studies übernehmen könnte. In diesem Zusammenhang gesteht er auch zu, dass die – von ihm betrachtete – Literatur sich ohnehin eher mit dem Mann als Anti-Held oder als Figur des Scheiterns beschäftigt denn mit dem strahlenden Helden:

Literary masculinity, on the other hand, has a tendency to bring the opposite type of man to the forefront, especially in comic and tragic genres. Clearly there are examples of hegemonic heroes in literature, but if these are present in literary fiction, they are largely deconstructed within these novels. (Hobbs 2013: 387)

Der Hauptcharakter von Kürk Mantolu Madonna, Raif Efendi, ist einer dieser Anti-Helden. Zugleich dechiffriert sein Verhalten das Gebaren und die Schwächen der anderen vermeintlichen Gewinnertypen. Raif Efendis Arbeitskollege, der zugleich der Ich-Erzähler der Rahmen-Handlung ist, erinnert sich im Nachhinein, dass er Raif Efendi zunächst für ein Lebewesen mit dem Charakter einer Pflanze gehalten hatte:

Ich war jetzt überzeugt, dass jener Mann, der mir das gegenüber an seinem Schreibtisch saß und übersetzte oder in seinem deutschen Roman las und dabei so regungslos verharrte, als ob er aufgehört hätte zu atmen, tatsächlich ein völlig unbedeutender und langweiliger Typ war. Ich dachte mir, dass jeder Mensch, in dessen Seele sich auch nur etwas bewegt, dieses ganz sicher auch zum Ausdruck zu bringen wünscht, und dass daher in seinem so ruhigen und unbeteiligten Menschen ein Lebensnerv stecken musste, der sich kaum von dem der Pflanzen unterschied. Der Mann kam ins Büro und verrichtete seine Arbeit wie ein Automat, las aus einer mir unverständlichen Gewohnheit irgendwelche Bücher und kehrte abends nach Erledigung seiner Einkäufe nach Hause zurück. Wahrscheinlich waren seine Krankheiten die einzige Abwechslung in dieser Reihe von völlig gleichen Tagen, ja sogar Jahren. Wie seine Freunde erzählten, hatte er immer schon so gelebt. Niemand hatte bisher beobachtet, dass er sich in irgendeiner Weise aufgeregt hätte. Selbst völlig unangebrachte ungerechte Vorhaltungen seiner Vorgesetzten nahm er stets mit dem gleichen ausdruckslosen Gesicht entgegen, und wenn er seine Übersetzungen zur Reinschrift abgab oder abholte, bedankte er sich mit dem immer gleichen verlegenen Lächeln.                                    (Sabahattin Ali 2008: X)

 

Hobbs verweist aber auch auf die Spezifika bzw. das lokale Element in der Analyse der literary masculinity: „While many texts write about masculinity in a more universal sense, nationality, and more importantly, the social and cultural history of that country, have great bearing on the stereotypes of masculinity that are lauded” (Hobbs 2013: 387).

Damit kommen wir zur Figur des scheiternden Manns in der Türkei. Das herausragende Thema der sozialwissenschaftlich orientierten Masculinity Studies in der Türkei ist das staatlich gesetzte Ideal des Soldaten. So sagt die nationalistische Redewendung: Jeder Türke wird als Soldat geboren. Die Literaturwissenschaftlerin Burcu Alkan formuliert zum Verhältnis von Männlichkeit und Militarismus:

 As the country’s past is laden with military interventions and the influence of the military mentality pervades both the governance of the country and the civic psyche of the society, the troubled relationship between the military and various forms of masculinity is one of the most prominent problems, which preoccupies the newly budding field of masculinity studies in Turkey. (Alkan 2017: 2)

 

Diese äußerst problematische Normierung des Maskulinen als militärisch und aggressiv wird auch von den türkischen Autor*innen des 20. Jahrhunderts aufgegriffen und dekonstruiert. In Kürk Mantolu Madonna, das lange Zeit als mystizistischer, auf jeden Fall nicht politischer Roman galt, wird diese Anforderung an den türkischen Mann, und deren Unerfüllbarkeit durch Raif Efendi, immer wieder angedeutet, an wenigstens einer Textstelle aber wird sie explizit, und ganz konkret mit den politisch-militärischen Ereignissen in der Türkei verknüpft: Nachdem Raif Efendi sich schon einige Zeit in Berlin aufgehalten hat ohne etwas Nützliches zu tun, schockiert ihn auch noch ein Beinahe-Erlebnis mit einer übergriffigen Kriegerwitwe. Frustriert von seinem eigenen Rollen-Versagen, beschließt Raif sich endlich zusammenzureißen, das heißt, die Erwartungen seines Vaters an ihn umzusetzen. Nicht zufällig gibt es in seiner Vorstellung eine vermeintliche Koinzidenz von wirtschaftlichem und militärischem Erfolg. So, wie die nationale Befreiungsarmee das Vaterland, das Territorium der heutigen Türkei, nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Besatzungsmächte verteidigt und schließlich befreit hat, so wird auch der „bessere“ Raif sein wirtschaftliches Reich verteidigen, selbst gegen die Ansprüche der übrigen Männer in seiner Familie.

Nun, ich war entschlossen, mich zu ändern. Auch meine Lektüre würde ich reduzieren, abgesehen von den Fachbüchern natürlich. Warum sollte ein junger Provinzler wie ich nicht glücklich werden können?

Die Olivenhaine meines Vaters, seine beiden Fabriken und eine Werkstatt in Havran warteten doch nur auf meine Rückkehr. Wenn ich die Anteile meiner älteren Schwestern übernahm, die bei mit wohlhabenden Ehemännern versorgt waren, könnte ich daheim als angesehener Kaufmann ein gutes Leben führen. Der Feind war aus dem Land gejagt und auch Havran durch unsere Nationalen Streitkräfte befreit worden. Mein Vater schrieb mir begeisterte Briefe voller patriotischer Sätze (Sabahattin Ali 2088: 96).

 

Wie bei allen andern Themen, bleibt es auch hier bei der Fantasie. Ebenso schnell, wie Raif sich in überaus grauenhafte oder überaus großartige Vorstellungen hineinsteigert, ebenso wenig kommt es jemals zu einer Umsetzung derselben. Niemals wird Raif in seiner Familie oder der Firma Macht erlangen; er wird es nicht einmal versuchen.

Aufbauend auf diesen Überlegungen zu masculinity in Kürk Mantolu Madonna werde ich mich im nächsten Abschnitt mit der Beziehung zwischen Raif Efendi und Maria Puder beschäftigen, und zwar ergänzt durch grundlegende Einsichten der Orientalism-Diskussion, wie sie durch Edward Said initiiert, aber durch viele andere weiter geführt worden ist.

 

Orientalism

 Türkischer Orientalismus – was aus westlicher Perspektive zunächst wie ein Paradox wirkt, scheint doch das Osmanische Reich im Orient zu liegen und selbst ein Opfer des orientalistischen Blicks zu sein, wird durch Arbeiten wie die von Edhem Eldem offensichtlich: Die kulturelle Produktion, die Wahrnehmung der eigenen Gesellschaft und das politische Handeln waren im späten Osmanischen Reich und sind in der Türkei nicht selten von Orientalismus geprägt.

Yet they [the Ottomans] also accommodated Orientalism as part of the Westernisation programme they embarked upon, sometimes appropriating or internalising it, sometimes deflecting or projecting it, sometimes opposing or subverting it, sometimes simply accepting and consuming it. … From the moment Ottoman elites decided that Westernisation was the only or most efficient way to catch up with Western material success … they had implicitly agreed to one of the most basic tenets of Orientalism: that the East was essentially different from the West, that it was essentially stagnant and lacked the capacity to change without an exogenous stimulus. In this sense, as long as modernisation was conflated with Westernisation, a latent or overt admission of Orientalist tropes was practically inevitable                                           (Eldem 2010: 27).

 

Ezgi Dikici hat sich mit der Orientalisierung des Balkans in den Erzählungen Ömer Seyfeddins (1884-1920) beschäftigt. Dabei greift sie auch den Anti-Colonial Eastern Nationalism auf, wie ihn Partha Chatterjee beschrieben hat. Dieser Nationalismus schwankt zwischen einer Abwehrbewegung gegen den kolonialen Westen und einer essentialisierenden Verteidigung des vermeintlichen eigenen orientalischen Charakters. „According to Chatterjee, this discourse is contradictory in itself since it operates within a structure of knowledge that corresponds to the structure of power to which it opposes“ (Dikici 2008: 85).

Diese Problematik hat die türkische Gesellschaft bis heute nicht aus ihrem Griff entlassen. Im Zusammenhang mit Sabahattin Alis Roman ist das von Interesse, weil wir auch hier auf eine orientalisch-okzidentale Beziehung stoßen, nämlich die Beziehung zwischen Raif und Maria, die in Berlin entsteht, aber von anderen Orten (topoi) wie Prag, Ankara und Havran beeinflusst wird. Wie aber formuliert der Autor diese komplexe(n) Beziehung(en)?

In Edward Saids Orientalism wird der Osten als passiv und (aus diesem Grund) weiblich verstanden; Kraft und Aktivität liegt hingegen im männlichen Westen. Das Verhältnis von Osten und Westen ist durch eine ungleiche Machtverteilung gekennzeichnet.

The relationship between Occident and Orient is a relationship of power, of domination, of varying degrees of a complex hegemony … The Orient was Orientalized not only because it was discovered to be ‘Oriental’ in all those ways considered common-place by an average nineteenth-century European, but also because it could be–that is, submitted to being–made Oriental (Said 1979: 5).

 

Sabahattin Ali spielt mit Kategorien und hinterfragt sie dadurch. Seine Figuren sind nicht eindeutig und durchgehend dominant oder passiv, orientalisch oder westlich. Auf den ersten Seiten der Binnenhandlung wird Raif als ein passives und schüchternes männliches (türkisches) Kind dargestellt, das den Rollenerwartungen nicht gerecht wird: „Ich erinnere mich noch, wie oft meine Mutter und öfter noch mein Vater ausriefen: ‚Bei deiner Geburt ist ein Fehler passiert, du hättest als Mädchen auf die Welt kommen sollen!‘ “(Sabahattin Ali 2008: 66). Maria Puder hingegen hat die Herausforderungen des Lebens angenommen. Sie bedauert lediglich nicht lesbisch zu sein, denn ihre sexuelle Orientierung bringt sie immer wieder in Kontakt mit Männern, die sie eigentlich verabscheut. Maria kommentiert an vielen Stellen ihr Verhältnis zu Männern und das gängige Rollenverständnis bzw. Abweichungen davon:

‚Ich spreche immer so frei, mehr wie ein Mann. Ich habe überhaupt ein paar männliche Eigenschaften, vielleicht bin ich auch deswegen allein.‘ Sie sah mich lange und aufmerksam von oben bis unten an. ‚Und Sie haben dafür etwas Weibliches an sich‘ sagte sie plötzlich. … ‚Auf eine gewisse Weise erinnern Sie mich an ein junges Mädchen‘ (Sabahattin Ali 2008: 114-115).

 

So erscheinen in Kürk Mantolu Madonna die Charakteristika des Orients und des Okzidents denen von Saids Orientalismus zu entsprechen, während die Geschlechterrollen nicht erfüllt werden. Marias eigene kulturelle und geografische Beziehungen sind allerdings nicht eindeutig: Aus deutscher Perspektive kommt Maria aus dem Osten, aus Prag. Ihre Mutter ist Christin, der Vater Jude, sie selbst bezeichnet sich als Atheistin.

Raif ist seinerseits nicht einfach ein ‚Orientale‘, sondern schwankt in seinen Fantasien und Taten zwischen internalisierten Männlichkeitsnormen und den tatsächlichen Gefühlen und Bedürfnissen eines sensiblen, künstlerisch begabten jungen Mannes, der gerade erst sich selbst entdeckt. Insbesondere in seinen Fantasien ist er nicht nur ein Mann, der im durch das Militär befreiten Nationalstaat wirtschaftlichen Erfolg hat, sondern auch jemand, der seine Probleme durch Gewalt löst, mit Frauen feurige sexuelle Beziehungen hat und schließlich Marias ewige Zuneigung durch die Androhung seines Selbstmordes erzwingen will. Selbst noch im Unklaren über die eigenen Bedürfnisse und Gefühle, kann er die schillernde Maria Puder in keine ihm bekannte Kategorie einordnen: Ist sie eine Heilige, eine Madonna wie auf dem Bild, in das er sich verliebt hat, oder ist sie eine Hure, die sich in der Atlantik-Bar verdingt (wo sie durch Auftritte als erotische Geigerin ihren Lebensunterhalt verdient)?

Edward Said behandelt in Orientalism die Beziehung zwischen Gustave Flaubert und Kuchuk Hanem, einer berühmten ägyptischen Courtesane, die als Sängerin und Tänzerin auftrat und sich prostituierte. Flaubert, so argumentiert Said, verknüpfte wie viele seiner europäischen Zeitgenossen, den ‘Orient’ unmittelbar mit ‘Sex’; die Orientalin Kuchuk Hanem verkörperte in seinen Augen “carnal female temptation” (Said 1979: 187). „She was surely the prototype of several of his novels‘female characters in her learned sensuality, delicacy…. What he especially liked about her was that she seemed to place no demands on him…” (ebd.). Die Bar-Musikerin Maria Puder versucht zwar ihren eigenen Regeln zu folgen, ist aber gerade durch ihren Beruf unentwegt mit Männern konfrontiert, die sie unterwerfen wollen. Ihre Beschreibung des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen deckt sich mit der Imagination des Westens vom Orient, aber auch mit den realen Verhältnissen des Kolonialismus.

Das Unerträglichste für mich ist aber, dass die Frau gezwungen ist, sich dem Mann gegenüber stets passiv zu verhalten. Warum? Wieso sind immer wir die Flüchtenden und Ihr die Verfolger? Weshalb müssen immer wir uns ergeben und Ihr uns gefangen nehmen? Warum liegt sogar in Euren Bitten ein Herrschaftsanspruch, während es uns als Schwäche angerechnet wird, wenn wir Euch abweisen (Sabahattin Ali 2008: 146).

Maria weiß, wie die Männer, und nicht nur die in der Bar, sie wahrnehmen. Sie benennt aber auch die Lächerlichkeit dieses Herrschaftsanspruchs: „Eine Frau kann sich gar nicht so hilflos und lächerlich benehmen wie ein in Leidenschaft entbrannter Mann“ (ebd., S. 147). Maria Puder ist keine orientalische Frau, keine Kuchuk Hanem; dennoch bleibt sie eine Gefangene der Geschlechterrollen, deren Vorgaben sie nur mit viel Kraft und in beschränktem Ausmaß überwinden kann. Gerade ihre Selbstwahrnehmung als Opfer hindert sie daran, eine reife Beziehung mit Raif einzugehen. Auch Raif hält sich für ein Opfer unentrinnbarer Umstände. Das von Said beschriebene Machtverhältnis zwischen Orient und Okzident, die Relevanz von Macht, ist nicht aus der Beziehung der beiden eliminierbar. Beide tragen seelische Verletzungen in sich, die sie fortwährend an die ihnen auferlegten Gendererwartungen erinnern und quälen, und die sie implizit oder, bei Maria, explizit, auch dem andern zum Vorwurf machen und diesen damit ihrerseits quälen.

Das Leben von Maria und Raif scheint eine glückliche Wendung zu nehmen, als Maria schwer erkrankt und Raif sie aufopferungsvoll pflegen kann. Zuletzt jedoch ist Raifs Liebe zu schwach: Als er in die Türkei reisen muss und Marias Briefe immer seltener werden, schließlich ausbleiben, fällt er in sein altes Verhalten zurück: Er ist überzeugt, betrogen und vergessen worden zu sein. In Wirklichkeit ist Maria jedoch unter der Geburt ihres gemeinsamen Kindes gestorben. Auch als Nachhall der osmanischen Konvention der unbedingt uneinlösbaren Liebe, und zum andern aufgrund Raifs vollkommener Unfähigkeit, die Welt realistisch wahrzunehmen, scheitert nicht nur die Beziehung, sondern auch Raifs restliches Leben und macht ihn, scheinbar, zu dieser seelenlosen Pflanze, als die ihn sein Arbeitskollege beschreibt.

 

Schluss

Die Geschichte der modernen osmanisch-türkischen Erzählliteratur ist eine Beziehungsgeschichte (Männer und Frauen, Türkei und Europa). Scheiternde Männer-Typen existieren seit dem Entstehen dieser neuen Genres. In Abhängigkeit von der historisch-politischen Entwicklung variiert die konkrete Ausprägung: Dandy, Wucherer… Daneben existiert der sympathische Versager. Das Versagen kann verschiedene Gründe haben, ist aber i.d.R. durch den gesellschaftlichen bzw. historischen Hintergrund verständlich. Die Figur des versagenden Mannes widerspricht aber dem Ideal des Mannes, wie es der türkische Nationalismus kennt. Sie unterminiert vor allem das Bild des neuen, westlichen, aggressiven und in allen Bereichen erfolgreichen Türken, und verweist auf die Verlierer der neuen Zeit, die sich den neuen Normen nicht anpassen können oder wollen. Sabahattin Ali, der selbst Frauen gegenüber weder schüchtern noch erfolglos war, hat mit Raif Efendi und Maria Puder ein Liebespaar geschaffen, dass Anleihe nimmt bei Romeo und Julia oder Leyla und Mecnun, und zugleich die zerstörerischen Auswirkungen von (männlicher) Macht und Unterwerfung auf die Beziehungen nicht nur von Menschen, sondern auch von Ländern und Kulturen aufzeigt.

Veröffentlichungen Sabahattin Alis in deutscher Übersetzung

  • Meisternovellen der Weltliteratur – Türkei: Sabahattin Ali. Übersetzt von Friedrich von Rummel. (= Stimmen der Völker, Heft 4.) Bavaria-Verlag, Gauting 1948.
  • Anatolische Geschichten. Übersetzt von Herbert Melzig. Verlag Volk und Welt, Berlin 1953.
  • Der Ochsenkarren. Geschichten aus Anatolien. Übersetzt von Peter Sindlinger und Hülya Wicher. Sindlinger-Burchartz, Nürtingen 1991, ISBN 3-928812-00-9.
  • Der Dämon in uns. Übersetzt von Ute Birgi-Knellessen. Unionsverlag, Zürich 2007, ISBN 3-293-10007-4.
  • Die Madonna im Pelzmantel. Übersetzt von Ute Birgi-Knellessen. Dörlemann Verlag, Zürich 2008, ISBN 978-3-908777-38-0.
  • Roman. Übersetzt von Ute Birgi-Knellessen. Dörlemann Verlag, Zürich 2014, ISBN 978-3-03820-002-4.

 

Sekundärliteratur

Alkan, Burcu (2017) “Formation of masculinity in Nedim Gürsel’s Yüzbaşının Oğlu”, NORMA-International Journal for Masculinity Studies, 10.1080/18902138.2017.1291236, 16 Seiten.

Böer, Ingeborg et al. (2002), Türken in Berlin 1871 – 1945 : Eine Metropole in den Erinnerungen osmanischer und türkischer Zeitzeugen, Berlin: De Gruyter.

Dikici, A. Ezgi (2008) “Orientalism and the Male Subject of Turkish Nationalism in the Stories of Ömer Seyfeddin”, Middle Eastern Literatures 11/1, 85-99.

Eldem, Edhem (2010) “Ottoman and Turkish Orientalism”,  Architectural Design 80/1, 26-31.

Findley, Carter Vaughn (2010), Turkey, Islam, nationalism, and modernity: a history, 1789 – 2007, New Haven: Yale Univ. Press.

Göknar, Erdağ (2010), “Turkey”, The Encyclopedia of the Novel, P.M. Logan (Hg.), 657-661. doi:10.1002/9781444337815.wbeotnt003.

Hobbs, Alexander (2013), „Masculinity Studies and Literature“, in Literature Compass 10/4 (2013): 383–395.

Kirchner, Mark (2008), Geschichte der türkischen Literatur in Dokumenten: Hintergründe und Materialien zur Türkischen Bibliothek, Wiesbaden: Harrassowitz.

Koçak Hemmat, Ayse Özge (2001), The Turkish novel and the quest for rationality, Leiden: Brill.

Moran, Berna (2012),  Der türkische Roman: eine Literaturgeschichte in Essays, Wiesbaden: Harrassowitz.

Sagaster, Börte (2011), „Die türkische Literatur“, Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur – KlfG, 1-40.

Said, Edward W. (1979), Orientalism, New York: Vintage Books.

[1] Einen Überblick über die Genres der osmanischen Zeit und den Wandel in der osmanischen Literatur bietet Moran 2012,  1-11. Ein Überblick über die Entwicklung der modernen Literatur findet sich bei Sagaster 2011.

[2] Die Figur Felatun entstammt dem Roman Felâtun Bey ile Râkım Efendi (Felatun Bey und Râkım Efendi) von Ahmet Mithat Efendi, veröffentlicht 1875, Bihruz dem Roman Araba Sevdası (Passion für Kutschen) von Recaizade Mahmud Ekrem, veröffentlicht 1898.  Eine detaillierte Studie zu diesen und anderen Figuren findet sich bei Koçak Hemmat 2001.

[3] Halid Ziya Uşaklıgil, Aşk-ı Memnu (Verbotene Lieben), 1899/1900.

[4]  Zaven Biberyan (2019), Karıncaların Günbatımı (Die Dämmerung der Ameisen), Aras: Istanbul. Biberyan hatte den Roman auf Armenisch verfasst und 1970 veröffentlicht. 1998 war der Roman, unter Auslassung einiger Textstellen und dem Titel Babam Askaleye gitmedi (Mein Vater ist nicht nach Așkale gegangen) das erste Mal ins Türkische übersetzt und bei  Aras veröffentlicht worden.

[5] Ahmet Hamdi Tanpınar, Saatleri Ayarlama Enstitüsü 1961 (Das Uhrenstellinstitut). Carter Findley (2010) nennt die Hauptfigur Hayri İrdal den türkischen Jedermann mit antiheroischen Qualitäten.

[6] Zur, auch gerichtlich geführten, Auseinandersetzung zwischen den ehemaligen Freuden Sabahattin Ali und Nihal Atsɪz siehe Kirchner 2008, 92-95.