Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4. Nr. Juni 1998

Das Medienarchiv – ein Stiefkind des digitalen Zeitalters?

Peter Dusek (Wien)

Eine Standortbestimmung des Leiters der Abteilung Dokumentation und Archive des ORF, Dr. Peter Dusek (überarbeitete Fassung eines Beitrags in "Medien & Zeit" Nr. 1/97 für die Internationale Konferenz Innsbruck ‘Europäische Literatur- und Sprachwissenschaften vom 22.-26. Sept. 1997).

Stellen Sie sich vor, man hätte eine Wochenschau von der Kaiserkrönung Karls des Großen oder vom Bau der Pyramiden: die Geschichtswissenschaft würde nichts mehr hüten und hegen als diese Dokumente, die viel mehr aussagen als die sorgsam verwahrten Pergamenturkunden des Mittelalters oder die Hieroglyphen aus der Pharaonenzeit. Allerdings - Photo und Film sind Erfindungen, die erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts voll zum Tragen kamen und auch die ältesten Tonaufzeichnungen stammen vom Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber wer daraus ableiten würde, daß das audiovisuelle Gedächtnis des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Quellenkritik und Überlieferungstradition der Historiker und Germanisten gestanden wäre, der würde einem großen Trugschluß erliegen. Es dauerte fast hundert Jahre bis die Geschichtswissenschaft sich im großen Stil für Dokumentarfilme und Wochenschauen, Werbefilme und Rundfunkübertragungen zu interessieren begonnen hat. Als ich in den späten 70er-Jahren bei der Produktion der ersten "Medienkoffer zur Österreichischen Zeitgeschichte"(1) mit der geradezu tragisch grotesken Situation der österreichischen Medienarchive konfrontiert wurde, war vieles bereits unrettbar verloren. Da fand sich etwa in den ORF-Archiven die gleiche Situation wie in den wenigen staatlichen Stellen: zu geringes Personal mit viel zu großen Beständen und zu wenig Unterstützung von irgendwo her. Da wurde gelöscht und inhaltlich nur dürftig ausgewertet; da wurden Originalfilme zerschnitten und - aus Personalmangel - keine Referenzverweise angelegt; da gab es so gut wie keinerlei Kontakt zwischen den professionellen Historikern und den dort arbeitenden Archivaren, die im Grunde Heroisches leisten mußten, aber in der Hierarchie der ORF-Leistungsbeurteilung unter den Sekretärinnen angesiedelt waren. Und dieser Befund gilt generell: Die Rot-Weiß-Rot-Tonbandbestände mit wahren Schätzen der österreichischen Nachkriegskultur wurden an die Papierfabrik Bunzl und Biach zum Verbrennen geliefert (man hatte schließlich Platzprobleme); die Bestände der Wien Film-Produktion mit Hans Moser- und Paula Wessely-Filmen wurden vom Finanzministerium aus der Konkursmasse an den deutschen Medienmogul Leo Kirch verkauft (ohne etwa Pflichtbelegexemplare an ein staatliches Institut zu verlangen); viele Jahrgänge der Austria Wochenschau sind verbrannt; die Wochenschauen des Ständestaates (Österreich in Bild und Ton) sind nur zu zwei Drittel an das ÖFA (Österreichisches Filmarchiv) und ÖFM (Österreichisches Filmmuseum) gekommen - mehr als ein ganzer Jahrgang findet sich noch immer als feuergefährdete Original-Nitroversion in Berlin...

Bei der Produktion der Medienkoffer zur Österreichischen Zeitgeschichte begann ich mit Dr. Hugo Portisch zusammenzuarbeiten. Und so kam es in der Folge zum Mammut-Projekt "Österreich II" und damit zur Gründung des Historischen Archivs des ORF.(2) Von "Österreich II" bis zur neugegründeten Sektion Medienkunde am Historikertag 1996 läuft eine zweite Geschichte: Es ist eine Aufholjagd nach dem Motto "Rette, was noch zu retten ist", wobei durch den Computereinsatz und durch die Entwicklung der neuesten Technologien in Richtung digitale Datenhighways auch so etwas wie die "Gnade der späten Reform" zu beobachten ist. Für mich ist die Zusammenarbeit mit Dr. Hugo Portisch ein Glücksfall gewesen und der zweifellos prominenteste Journalist Österreichs muß als Pionier dieser Entwicklung bezeichnet werden, die erst in der Folge auch von den wissenschaftlichen Stellen aufgegriffen wurde. Und diese Aufholjagd bezieht sich nicht nur auf Österreich.

Denn die Auswirkungen der dreizehn Jahre lang laufenden Serie "Österreich II" und "Österreich I" sind nicht nur in Österreich zum Motor einer Entwicklung geworden, die mit der Gründung einer eigenen Sektion Medienkunde beim Historikertag 1996 einen ersten großen Höhepunkt erlebte. Nein - die Konsequenzen kann man auch in den internationalen Gremien studieren. So bin ich seit zwei Jahren der Vorsitzende einer Kommission für audiovisuelle Archive beim Internationalen Archivrat (ICA). Und auch hier ist echte Pionierarbeit notwendig - wir sind derzeit drauf und dran, ein erstes Verzeichnis zu erstellen, wer - weltweit - in welchen staatlichen oder regionalen oder kommunalen Archiven welche Mediensegmente sammelt, erschließt und hoffentlich auch mit entsprechendem Fachwissen restauriert und fürs nächste Jahrhundert sichert.

Und außerdem bin ich seit fünf Jahren der Vizepräsident der Internationalen Fernseharchiv-Vereinigung FIAT und gleichzeitig der Leiter der FIAT "Training Commission"; und seit dem Vorjahr bin ich auch ins Präsidium des Deutschen Studienkreises für Rundunk und Geschichte e.V. kooptiert. Doch ich will zunächst noch nicht über diese Aufholjagd gegenüber den vom Verfall bedrohten Film-, Video- und Tonarchiven berichten, sondern ich möchte versuchen, die Ursachen für diese unverständliche Entwicklung - die es nicht nur in Österreich zu beobachten gibt - zu analysieren und dabei beim Methodendefizit anzufangen.

 

Ich möchte dieses Methodendefizit in einigen Thesen darstellen und beginne daher mit

These Nr.1:
Die Geschichtswissenschaft ist eine Wissenschaft des 19. Jahrhunderts.

Die Entstehung der Nationalstaaten, der Historismus, die Entdeckung des kulturellen Erbes des Mittelalters - das alles prägt das 19. Jahrhundert ganz besonders. Im Grunde sind alle anderen wissenschaftlichen Vorläufer nur ein embryonales Vorspiel: die moderne Quellenkritik, die Analyse von Urkunden und Akten, die Regestentechnik, die Monumenta Germaniae, die Gründung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung,(3) das prägt die Geschichtswissenschaft bis heute. Man unterscheidet - wenn man etwa die Skripten der Geschichtseinführung, die jetzt für Studenten käuflich erwerbbar sind, untersucht - seit dem vorigen Jahrhundert zwischen Denkmälern, Quellen und Literatur; und da wird wieder zwischen funktionalen und intentionalen Quellen unterschieden. Als Beispiele werden dann Akten und Klosterchroniken genannt. Die einen halten Rechtsgeschäfte fest und sind mit Hilfe der Quellenkritik durch den Historiker als Zeitdokumente erkennbar. Die anderen schließen eine subjektive Bewertung mit ein und müssen erst recht gegen Zeit, Moden, Irrtümer und Täuschungsabsichten quergelesen werden. Ich brauche Ihnen allen diese Methoden nicht näher zu erläutern. Sie werden seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts minutiös repetiert und weitervermittelt, wo Bernheimer um die Jahrhundertwende und Alphons Lhotsky(4) 50 Jahre später das entscheidende Vokabular so verfestigt haben, daß man sie beide als schulebildend bezeichnen kann.

Das Problem dieser starken methodischen Tradition liegt leider in dem Umstand, daß die Quellenkunde, wie sie damals unterrichtet wurde und heute nach wie vor gelehrt wird, nur für die Quellen des Mittelalters einen idealen Rahmen abgibt. Für die explosionsartige Zunahme von Akten und Schriftstücken im 18. und 19. Jahrhundert scheint mir eine quellenkritische Methode, die eigenständige Laboratorien für die Überprüfung von Siegellacken geschaffen hat, nicht mehr ganz geeignet. Hier kommt das Mengenproblem hinzu, die Frage nach der Repräsentanz und schichtspezifischen Zuordnung. Aber im Großen und Ganzen kann die Geschichtswissenschaft das Quellengut des 18. und 19. Jahrhunderts mit den Methoden bewältigen, die im vorigen Jahrhundert entstanden sind.

 

Das gilt meines Erachtens gar nicht für das:

These Nr. 2
Medienzeitalter, das nach ganz spezifischen Methoden der Archivierung und der Quellenkritik verlangt.

Ich möchte hier die Ansicht vertreten, daß weder Tonaufnahmen, noch Filme und auch nicht Videos mit den einschlägigen Methoden, mit denen man Urkunden analysiert, richtig verstanden und gedeutet werden können, geschweige denn langzeitgesichert werden können. Ich möchte dies an einigen Beispielen erläutern:

Das Resultat der beiden genannten Fakten läßt sich auf die Formel bringen: das Quellenproblem der audiovisuellen Archive löst sich durch Verrottung, Inkompetenz und durch einen zu geringen Bewußtseinsgrad oft von selbst. Die audiovisuellen Sammlungen der ersten Republik sind in den Jahren nach dem sogenannten Anschluß irgendwo in den Bunkern des Deutschen Reiches gestrandet und dürften die Jahre des Kalten Krieges nicht überdauert haben. Der wertvollste Bestand - die Produktionen der Wien-Film - wurden aus einer Konkursmasse an den deutschen Gegenspieler von Berlusconi, an Leo Kirch verkauft, so, wie man Nachlässe entrümpelt oder wie man Trödler auf den Dachboden hetzt. Die Frühzeit des Fernseharchivs im ORF bedeutete das kanibalische Zerstückeln von Filmoriginalen und das Wiederbespielen von Toncords. Diese Entwicklung ist nicht auf Österreich beschränkt. Während parallel zu der Serie von Hugo Portisch mit der Gründung des Historischen Archivs des ORF eine Gegenbewegung einsetzte, ist man etwa in der Schweiz noch später auf das Grundproblem aufmerksam geworden.

Die Gefährdung des materiellen Bestandes ist aber nur die eine Kehrseite der Medaille.
Will man die Rettung des audiovisuellen Erbes ernsthaft betreiben, dann muß auch das methodische Defizit abgebaut werden.

Einer der Gründe für die aufgezeigte Problematik war der hohe technische Aufwand zur Benützung von Medien. Dies soll keine Entschuldigung sein, aber es erklärt doch einiges. Bis vor kurzem konnten Wochenschauen und Spielfilme nur im Kino bzw. am Schneidetisch studiert werden und da man diese Welt der Kino-Vorführ-Apparate nicht als historisch relevant einstufte, scheute man auch den Weg ins Kino oder aber auch nur ins Wochenschau-Archiv. Mit dem Siegeszug des Videorecorders hat sich diese Hürde stark verkleinert. Mit der digitalen Datenautobahn wird sich diese Barriere völlig ins Nichts auflösen. Ja, wenn da nicht die Altlasten der versäumten Archivierung und wenn da nicht die Hürden des Urhebberrechts wären.

 

Und damit bin ich bei einer weiteren These:

These Nr. 3
Die Analyse von Film und Video kann nur als sehr komplexer, interdisziplinärer Forschungsansatz betrieben werden.

Neben den technischen Gegebenheiten ist der Film von seiner Entstehungsgeschichte her ein komplexes Manipulationsgebilde, das nur mit den Tag- und Nachtträumen des menschlichen Gehirns erklärt werden kann. Die Logik des Films ist assoziativ und vielschichtig. Sie beruht in einer Täuschung des Auges, das ruckartige Standbilder so rasch abfolgt, daß sie vom Auge als Bewegung wahrgenommen werden, und die Inhalte des Films sind auch im Dokumentarbereich mit Verkürzung und Rückblende mit musikalischer Untermalung, kurzum mit emotionaler Einbindung, überhaupt transportierbar.

Dazu kommt noch, daß die Entstehung des Films ein sehr kostenintensiver, langwieriger Prozeß ist: es gibt das Konzept und das Rohmaterial, den Schnitt und die Textmischung. Will man den Film als historische Quelle entdecken, dann bedarf es großer Vorkenntnisse über diese Entstehungsgeschichte. Wer etwa die Dokumentation über die Entstehung des berühmtesten Spielfilms der Welt "Vom Winde verweht"(5) gesehen hat, weiß was ich meine. Hier existieren noch die Probeaufnahmen mit anderen Stars, hier wurde auch ein Blick in die Dreharbeiten filmisch festgehalten, hier gibt es einen Wochenschau-Bericht von der Uraufführung, an der noch die letzten Überlebenden des amerikanischen Bürgerkriegs teilnahmen, hier existieren die Drehbuchunterlagen. Aber sonst, wenn man diese Methode für österreichische Filme anwenden wollte: die Originale der Sissy-Produktion, die vielleicht kein historisch relevantes Bild von Kaiserin Elisabeth und Franz Josef zeichnet, aber viel über den Zeitgeist der 50iger Jahre aussagt, dann stocke ich schon. Die Originale sind in München, manch schriftliche Unterlage findet man im Filmarchiv in Wien, aber die Rekonstruktion der Dreharbeiten - das alles ist wohl kaum möglich. Wir sind drauf und dran, die Endprodukte zu verlieren, geschweige denn die Entstehungsgeschichte dokumentieren zu können.

Und das gilt erst recht für Werbefilme, sie sind in den Ausstellungen der letzten Jahre immer der Hit. Werbung ist dann, wenn man sie nicht täglich mehrfach wiederkauen muß, höchst amüsant und faßt die Träume und Moden einer Zeit perfekt zusammen. Oft wird die Realität als abschreckendes Beispiel zur neuen Waschmaschine oder zum neuen Herd entgegengehalten. Oft führt die Werbung in eine Traumwelt, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat. Aber auch die Träume einer Generation sind für Historiker sehr entscheidend. Prof. Wolfram hat in seiner Eröffnungsrede beim Historikertag 1996 ein Beispiel des religiösen Aberglaubens des 10. Jahrhunderts beschrieben - was ist das anderes, als die Träume, Ängste und Sehnsüchte der Menschen von gestern.

Aber alles, was ich vom Film und vom Dokumentarfilm gesagt habe, gilt für Werbeclips noch viel mehr. Sie sind ganz auf die emotionale Wirkung ausgerichtet, werden daher im Entstehungsstadium bereits getestet und oft total geändert. Suchen Sie in unseren Medienarchiven nach Werbeclips, sie werden kaum Material finden (als wir im ORF die Serie "Werbung einst und jetzt"(6) gestaltet haben, mußten wir tatsächlich auf die Dachböden der großen Firmen wie Persil oder Manner gehen), und überhaupt nichts finden sie über die Entstehungsgeschichte dieser Clips.

Dieses Mißverständnis bei der Analyse geht sogar so weit, daß Aufarbeitung der Geschichte des Rundfunks, der Ravag - ja selbst des ORF in seiner Rechtsform seit 1957 - nicht in einer Weise möglich ist, wie sie vergleichbaren Institutionen in den einschlägigen Archiven gewährt werden kann. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat zwar noch immer ein Sendemonopol in Österreich, wenn auch schon längst kein Programm-Monopol, aber nicht einmal die Akten der Kuratoriums-Sitzungen werden ans Staatsarchiv oder ans Republik-Archiv geliefert.

Das fehlende Aktenarchiv des ORF ist übrigens heute eine große Hürde bei der Öffnung des ORF-Archivs zu neuen Märkten und zu neuen Techniken. Und dabei ist ein Spezifikum der audiovisuellen Medien ihre hohe urheberrechtliche Verquickung. Der hohe Kreativanteil und die hohen Kosten - und die große Populartität - haben dazu geführt, daß der Markt mit Lizenzen die letzte Wachstumsbranche der Weltindustrie geworden ist. Will man das audiovisuelle Gedächtnis eines Landes heutzutage nicht nur materiell retten, sondern auch für ein breites Publikum zugänglich machen, dann muß man diese Urheberrechts-Hürden bewältigen. Vermutlich wird es nur mit pauschalen Abschlagszahlungen an Verwertungsgesellschaften - ähnlich dem Bibliotheks-Groschen - gehen, wenn man die organisatorischen Fragen der Zusammenführung der audiovisuellen Sammlungen für Besucher geklärt hat.

 

These Nr. 4:
Die Abteilung Dokumentation und Archive des ORF als Nukleus eines audiovisuellen "Nationalarchivs".

Ich möchte nun doch auf den Aufholprozeß im Detail eingehen, den wir im ORF in den letzten 15 Jahren begonnen haben und sicher noch einige Jahre fortsetzen müssen. Bereits im dritten Jahr nach Start der Serie "Österreich II" war klar, daß das neue Historische Archiv des ORF eine Plattform zwischen Mediengestaltung (Medienfabrik) und fehlender wissenschaftlicher Aufarbeitung werden müßte. Das galt etwa für die Tatsache, daß hier die verschiedenen "Aggregatszustände des audiovisuellen Gedächtnisses" parallel gesammelt und computermäßig erfaßt wurden: Filme, Photos, Töne, Akten und Augenzeugenberichte, das alles wurde minutiös gesammelt und so gut es noch ging quellenkritisch bewertet. Die Mitarbeiter des Historischen Archivs kamen auch aus der Zeitgeschichte und den wenigen Pionieren für die Erschließung audiovisueller Quellen wie Prof. Gerhard Jagschitz oder Doz. Georg Schmid in Salzburg, sie kamen aus der Publizistik und Theaterwissenschaft, sie kümmerten sich um Urherberrecht und Technikgeschichte und begannen auch, ORF-Historie zu studieren ("60 Jahre Radio" als Programm- und Ausstellungsschwerpunkt im Jahr 1984).(7)

Gleichzeitig begannen dieses erste Dutzend audiovisueller Dokumentare den Kontakt zu allen nationalen und internationalen Dachorganisationen herzustellen - die Arbeitsgemeinschaft Audiovisueller Archive (AGAVA) gehört genauso dazu wie der Studienkreis für Rundfunk und Geschichte, der von seiner Gründung her auch Österreich als Forschungsgegenstand miterfaßte. Es gab erste Lehrveranstaltungen - etwa mit dem Publizistik-Institut in Salzburg und Ende der 80er-Jahre die erste Wahlpflichtveranstaltung "Audiovisuelle Quellenkunde" im Rahmen der dreijährigen Spezialausbildung für Archivare im Institut für Österreichische Geschichtsforscher. Vor zehn Jahren wurde die Pionierleistung des Historischen Archivs auch im ORF anerkannt. Ich bekam mit meinem jungen Team (Herbert Hayduck, Andreas Kafka, Uta Tschernuth u.v.a.) die Leitung des großen Traditionsarchives des Fernsehens übertragen. Hier hatte die Computer-Erschließung auch im Jahr 1987 nicht wirklich begonnen. Man arbeitete mit Tintenmatrizzen und Rohrpost und das größte Problem war die Raumnot.

Zu diesem Zeitpunkt war das ORF-Fernseharchiv bereits auch international ein Anachronismus - aber als ich auf internationaler Ebene nach modernen Vorbildern suchte, entdeckte ich, daß durch die rasante technische Entwicklung eine verspätete Reform ein großer Vorteil war: Der ORF verfügt seit nunmehr neun Jahren über eines der modernsten Medienarchive der Welt, hat eine Computer-Applikation, in der an die 200 Millionen Suchbegriffe in Sekundenschnelle vernetzt werden, und die Flexibilität und Leistungsstärke dieser Institution zeigt sich erst so richtig in den letzten zwei bis drei Jahren - seit das Schlagwort von der "digitalen Revolution" nicht nur eine Phrase, sondern Alltagsrealität zu werden beginnt. Meine nunmehr zeitweise 130 Mitarbeiter, die nach dem Motto 1/3 Auswertung im klassischen dokumentarischen Sinn mit Spezialgebiet, 1/3 Serviceleistung für Kollegen aus den Redaktionen und 1/3 Kreativarbeit (etwa durch Gestaltung von Sendereihen wie "ZiB da capo" oder neuerdings von CD-ROM-Programmen) ihre Arbeitszeittafel gestalten können, gehören zu jenen, die im ORF an vorderster Front bei allen Innovationen arbeiten. Meine Mitarbeiter haben wesentlichen Anteil an der Neuentstehung einer EDV-Auskunftsmaske für Urheberrechtsfragen, wir bedienen den ORF bei der Erschließung von neuen Geschäftsfeldern und wir haben ein erstes "Digitalisierungsstudio" eingerichtet, in dem unsere Photos oder Filme mit Texten und Musik versehen und als CD-ROM publiziert werden.

Und auch die internationalen Kooperationen nehmen ständig zu, mehrere EU-Projekte laufen bereits ( wir wurden wegen unserer hohen technischen Innovationsfreudigkeit "hineingebeten"). Die FIAT und ICA bringen ständig internationale Gäste nach Wien (im März 1997 war eine Woche lang eine hochrangige chinesische Delegation zum Studium moderner audiovisueller Archive in Wien), aber auch Gäste aus Paris, Moskau oder Washington studieren das Netzwerk der Abteilung Dokumentation und Archive des ORF, die hoffentlich eines Tages zur Gründung eines audiovisuellen Nationalarchivs führen wird.

Im Grunde wird nämlich von uns in der - noch - Monopolsituation des ORF mit unseren vielfältigen wissenschaftlichen Aktivitäten kaschiert, daß Österreich im Ganzen gesehen, noch immer Entwicklungsland des Medienzeitalters ist. Wenn man die INA (Institut National Audiovisuelle ) oder das Staatliche Medienarchiv in Stockholm mit der österreichischen Situation vergleicht, dann wird man verstehen was ich meine. Hier sind die Bestände des audiovisuellen Zeitalters in eine Institution ausgelagert, die mit dem Staatsarchiv vergleichbar ist. Der ORF als produzierender Großbetrieb, als größte Medienfabrik des Landes, hat weder die datenschutzrechtlichen noch kapazitätsmäßigen Möglichkeiten, die solche Institutionen aufweisen. Dennoch ist die Frage berechtigt, ob der rasche technische Fortschritt nicht die Gründung eines solchen großen öffentlich zugänglichen Medienarchivs überflüssig macht. Schließlich arbeiten wir etwa bei den EU-Projekten an den technischen Möglichkeiten für die Einspeisung von bewegten Bildern über die Datenautobahn in jeden Haushalt. Wenn man die entsprechenden technischen und urheberrechtlichen Probleme löst, wird also ein virtuelles Medienarchiv von jeden Heim-PC aus benützbar werden. Doch bis dahin ist noch einiges zu leisten: etwa die Aufholjagd bei der Rettung der torsohaften Überlieferung oder die Adaption des Urheberrechtes und vieles mehr.

© Peter Dusek (Wien)

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Anmerkungen

(1) Medienkoffer zur Österreichischen Zeitgeschichte I-IV, herausgegeben von Peter Dusek, Gerhard Jagschitz, Herbert Steiner und Erika Weinzierl, Wien 1980-1988.

(2) Peter Dusek u.a. Das Historische Archiv als Plattform zu Wissenschaft und Schule; in: Zeitgeschichte, 12. Jahrgang, Dezember 1984, Heft 3, Seite 100ff.

(3)  Gründung 1884. Vergleiche Alphons Lhotsky, Die Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Wien 1954.

(4) Alphons Lhotsky, Quellenkunde des Mittelalters, 2. Auflage, Wien 1991.

(5) Eine Legende entsteht: Vom Winde verweht, ORF-Erstausstrahlung 15.9.1992.

(6) Werbung einst und jetzt. Eine ORF-Serie 1989.

(7) ORF-Broschüre 1984.


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