Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4. Nr. Juni 1998

Monolingualität, Multilingualität, Identität

D. Simo (Yaounde)
[BIO]

 

Monolingualität, Multilingualität, Identität. Diese drei Begriffe umschreiben ein aktuelles und zugleich altes Problemfeld, dessen Bedeutung nicht nur rein akademisch ist. Die durch die totale Vernetzung und Globalisierung bedingte Migrationswelle hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen mit den unterschiedlichsten Sprachen und Kulturen nicht nur flüchtig miteinander in Berühung kommen, sondern auf Dauer zusammenleben müssen. Eine wahrlich nicht ganz neue Erschienung, denn schon in der Antike, gerade am Mittelmeer, mussten viele Menschen in einem mehrsprachigen Kontext leben.

Seit dem 19. Jahrhundert scheint man aber in Europa das Leben in multilingualen Kontexten, wenn nicht für unmöglich, so doch für problematisch zu betrachten. Die verschiedenen nationalistischen Bestrebungen scheinen die Monolingualität zum Normalfall und zur Regel erhoben zu haben.

"Eine Nation in diesem Sinne ist eine durch die Sprache charakterisierte geistige Form der Menschheit (...)" (Humboldt Bd. 6/1, 125). Das schreibt Wilhelm von Humboldt 1827. Dieser Definition der Nation pflichteten nicht nur die Romantiker bei. Die Individualität der Nation bestimmt nicht einfach die Sprache, sondern steht umgekehrt unter ihrem Einfluss. Die nationale Kultur wird in der Sprache als deren Weltansicht greifbar, aber sie ist auch nur durch die durch die Sprache gesetzte Grenze möglich (vgl. Werlen 1989) "Obschon also grösstentheils das Werk der Nationen, beherrschen die Sprachen sie dennoch, halten die sie in einem Kreis befangen, und sind es, die ganz vorzüglich den Nationalcharakter bilden, oder bezeichnen" (Humboldt Bd 4, 247). Die Behauptung der Begrenztheit durch die durch die Sprache gesetzten Grenzen führt nicht zur Annahme der Notwendigkeit der Ausweitung dieser Grenzen durch Kontakte mit anderen Sprachen, sondern eher zur Behauptung der Notwendigkeit der Festigung dieser Grenze.

Der nationalistische Diskurs ging und geht immer noch davon aus, dass die nationale Sprache das Wesensmerkmal der Kultur der Nation darstellt, dass sich in ihr die Seele, der Volksgeist, die Identität der Nation ausdrückt. Und da diese Identität als etwas Absolutes, Unvollkommenes behandelt wird, wird sie auch als etwas Heiliges, Wertvolles betrachtet, das geschützt und in seiner Reinheit belassen werden soll. Wenn nun die Nation als monolinguale Sprachgemeinschaft verstanden wird, dann können multilinguale Situationen nur als Bedrohung der nationalen Identität, als etwas Negatives, betrachtet werden.

In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts entwickelten zwei amerikanische Anthropologen, nämlich Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf das sogenannte sprachliche Relativitätsprinzip. Die Sapir-Whorf-Hypothese versucht die Rolle, die die Sprache innerhalb einer bestimmten Kultur, sowie die Rolle, die sie bei der Beschreibung dieser Kultur spielt, zu bestimmen. Die erkenntnisleitenden Fragen formuliert Whorf wie folgt:

1) Are our own concept of "time", "space", and "matter" given in substancially the same form by experience to all men, or are they in part conditioned by the structure of particular languages
2) Are there traceable affinities between a) cultural and behavioral norms and b) large scale linguistics pattern
(Whorf 1956, 138).

Um diese Fragen zu beantworten, geht er, genauso wie Humboldt oder Sapir, vergleichend vor. Europäische Sprachen vergleicht er mit der indianischen Sprache der Hopi und kommt zu den folgenden Ergebnissen:

concept of "time" and matter are not given in substancially the same form by experience to all men but depend upon the nature of language through the use of which they have been developped. They do not depend so much upon any one system (e.g., tense or nouns) within the grammar as upon the ways of analysing and reporting experience which have become fixed in the language as integrated "fashion of speaking" and which cut across the typical grammatical classifications. (Whorf 1956, 158).

Nicht die Erfahrung strukturiert die Sprache also, sondern umgekehrt; die Sprache strukturiert die Erfahrung. Aus dieser Erkenntnis kann gefolgert werden, daß die Sprache sowohl die kognitiven Prozesse wie Perzeption, Kategorisierung und Interpretation als auch das emotionale Verhalten bestimmt. Die Sprache wird zu einem Bezugssystem erhoben, in welchem sich das Denken, aber auch das Fühlen einordnet. Ein konsequentes sprachliches Relativitätsprinzip schließt die Möglichkeit der Existenz unterschiedlicher Kulturen in derselben Sprache aus, aber auch die Möglichkeit der Kommunikation über Sprachgrenzen hinweg, er schließt auch die Möglichkeit der Übersetzung aus. Insofern wird es durch die Geschichte und durch die Erfahrung widerlegt. Aber nicht alles ist falsch in dieser Theorie.

Durch das sprachliche Relativitätsprinzip wird die Bedeutung der Sprachen, aller Sprachen, unterstrichen, denn in diesen Sprachen werden wichtige unersetzliche Erfahrungsmodi der Welt gesehen. Ihre Vielfältigkeit wird zum Ausdruck der Vielfältigkeit der menschlichen geistigen Möglichkeiten, zum Beweis dafür, dass der Mensch seinem Leben unterschiedliche Richtungen geben kann. In diesem Sinne werden die verschiedenen Sprachen als ein Reichtum der Humanität betrachtet, der gegen Bestrebungen aller Glothophagen, dass heißt Sprachfresser oder Sprachzerstörer (vgl. Calvet 1974) beschützt werden soll. Das sprachliche Relativitätsprinzip war also sehr wichtig bei der Infragestellung des Universalitätsanspruchs des westlichen Weltbildes und seiner imperialistischen Machenschaften. Zum Programm der Kolonialherrschaft gehörte es, den Kolonisierten die Sprache des Kolonialherrn aufzuoktroyieren und ihre Sprache als Ausdruck ihrer Inferiorität zu deklarieren und zu marginalisieren. Die Kolonialherrschaft hat viele Sprachen zum Verschwinden gebracht. Die Sprachenfrage war daher eine wichtige Problematik bei der Dekolonisation. Es ist kein Zufall, wenn der große Theoretiker der afrikanischen Dekolonisation, Frantz Fanon sein erstes Buch, "Peau noire, masque blanc" mit dem Kapitel "le noir et le language" beginnt. Die Sprache der Kolonialherren wird als das gefährlichste Mittel der Kolonisierung der Köpfe angesehen, und eine Kulturrevolution wird gefordert, die den einheimischen Sprachen ihre Bedeutung und ihre Funktion im Alltag und in der Öffentlichkeit wieder geben sollte (vgl. Diop 1979). Dass eine solche Revolution fast nirgends Wirklichkeit geworden ist, ist ein anderes Thema.

Das sprachliche Relativitätsprinzip förderte diese Rückbesinnung auf die bedrohten lokalen Sprachen und begründete Versuche, den epistemologischen Imperialismus des Westens dadurch zu konterkarieren, dass genuine einheimische Denksysteme durch die Analyse der Sprache sichtbar gemacht werden (Ntumba 1980, Kagame 1955 und 1976). Diese Versuche zeigen deutlich, welche Rolle die Sprache in der Auseinandersetzung zwischen Afrika und Europa gespielt hat und immer noch spielt. Diese Auseinandersetzung hat aber nirgendwo in Afrika zu einer totalen Ablehnung fremder Sprachen geführt. Auch die Sprachen der Kolonialherren wurden nicht gebannt. Letzten Endes kann die Position der meisten afrikanischen Vordenker als eine Ablehnung der imperialistischen Monolingualität interpretiert werden.

Aber das sprachliche Relativitätsprinzip konnte auch als nationalistisches, chauvinistisches Argument verwendet werden, um Abkapselung und Ausgrenzung zu begründen. Das Relativitätsprinzip kann auch das Prinzip der Verschiedenheit als Prinzip der Antinomie auffassen und dadurch ein Denken in Disjunktionen fördern, das eine Unmöglichkeit der Verständigung zwischen den verschiedenen Sprachen und Kulturen postuliert. Der Neorassismus rekurriert inzwischen auf solche Argumente.

Der Rassismus hat seine biologische Terminologie längst zugunsten einer kulturalistischen differenzialistischen Sprache ausgetauscht. Der neorassistische Diskurs stützt sich nicht mehr auf Begriffe wie Rasse, Vererbung, sondern auf Termini wie Kultur, Differenz. Anthropologische und sprachliche Relativitätsprinzipien werden dann bemüht, um die Gefährlichkeit interkultureller Kontakte zu begründen, und einen Ethnopluralismus zu unterstützen, der die Idee der "getrennten Entwicklung", der Vermeidung von Kulturkontakten und Kulturmischungen propagiert.

Der französische Politologe Pierre-André Taguieff hat in einer umfangreichen Studie dargelegt, wie sich dieser Prozess in Frankreich vollzieht. Der Nationalrassismus proklamiert das Recht, anders zu sein (le droit à la différence), plädiert aufgrund dieses Rechtes für die unbedingte Aufrechterhaltung, Verteidigung oder Wiederherstellung von Volksgruppen mit ihren partikularistischen Charakteristiken, und malt die schreckliche Perspektive eines totalen Verlustes von Kollektividentititäten. Die spezifischen tradierten Kulturen oder die differenziellen Erbschaften werden zu absoluten Größen erhoben, die in ihrer Reinheit konserviert werden müssen. Die Ideologie der Differenz, so Taguieff, muß als radikaler Ausdruck von zwei Ideologemen, die in Europa inzwischen vorherrschend geworden sind, betrachtet werden: Einerseits die postmoderne Hypostasierung des Individuums mit der narzistischen und hedonistischen Fokussierung auf das Sich, das Eigene; andererseits das Recht zur Selbstbestimmung der Völker. Beide Ideologeme haben eines gemeinsam: Sie lehnen universalistische Postulate ab. Diese werden als imperialistische Ideologien, als Rechtfertigung der Vernichtung von Kollektividentitäten, als Rechtfertigung der Überfremdung denunziert. Gegen die Abstraktion des Universalismus erhebt sich ein Fundamentalismus der reinen Identität und der Differenz.

Natürlich ist dieser Universalismus, gegen den reagiert wird, kein Phantom. Der humanistische Universalismus implizierte sowohl in seinem Diskurs als auch in seiner Praxis ein Telos, in dessen Namen partikulare Identitäten negiert, Grenzen ignoriert, Unterschiede getilgt wurden. Nach einer einheitlichen Menschheit wurde gestrebt, die nach dem europäischen Modell imaginiert wurde. Das Ergebnis kennen wir: eine unaufhaltsame Einbettung oder Subsumtion aller Kulturen unter das westliche Gesellschaftsmodell, eine kontinuierliche Vereinnahmung aller Völker.

Solange die Bewegung von Europa ausging und die Auswirkung vor allem bei Anderen zu spüren war, solange nur einige Abenteurer, Beamte und Emigranten an der Peripherie reale Kontakte mit den Anderen hatten, solange die Beziehung zu den exotischen Anderen sich auf Kriegsschauplätze, auf Plantagen, in Missionsschulen weit weg in den Kolonien und unter klaren hierarchischen Strukturen abspielten, solange wurde das ganze Unternehmen bewundert, gelobt, und unterstützt – auch wenn es immer wieder kritische Stimmen gab. Aber seit es eine Rückbewegung gibt, seit die verschiedensten kulturellen, religiösen und sprachlichen Gruppen, im Zuge der durch dieses ganze Abenteuer ausgelösten Mondialisierung sich ihrerseits in den europäischen Metropolen anzusiedeln begonnen haben, und eine gewisse Resistenz gegen die totale Vereinnahmung zeigen, seitdem entdeckt man in Europa wieder die Vorzüge der Verschiedenheit. Der Kult der Verschiedenheit wird dann zum Vorwand genommen, um Abkapselung, narzistische und hedonistische Beschäftigungen mit sich zu legitimieren. Da erfreute sich die Ideologie der Heterphobie-Heterophilie, das heißt die Ideologie des Hasses des Anderen, die einhergeht mit der Zelebrierung des Rechts auf die Differenz, einer starken Reaktivierung. Die Deutschen bekunden ihr Recht, anders als die Türken zu sein, die Franzosen pochen auf ihr Recht, anders als die Maghrebiner zu sein und leiten daraus die Notwendigkeit ab, die anderen in ihre Heimat zu schicken, damit sie dort sie selbst bleiben, und die Deutschen oder die Franzosen unter sich bleiben und nicht durch kulturell Fremde überfremdet werden oder ihre Identität verlieren. Das nennt Taguieff Nationalrassismus.

Humanistische universalistische Gleichheits- und Einheitslehren, die seit dem Zweiten Weltkrieg in der europäischen öffentlichen Meinung vorherrschend waren, weisen immer mehr identitarische Postulate auf. Und diese Postulate ersetzen das Prinzip einer weltweiten Monokulturalität durch das Prinzip von lokalen Monokulturalitäten. Und sie bedeuten noch einmal Ausgrenzung, Narzismus, Arroganz, Hierarchisierung.

Die Verteidigung von Volksgruppenidentitäten, die ein erklärtes Programm von Völkern aus der Peripherie des europäischen Zentrums war, also eine Resistenz- oder Defensivstrategie darstellte, erfährt dadurch, daß sie zum Programm von politischen Kräften in Europa wird, eine Umwandlung in eine offensive Strategie und bekommt somit eine neue Bedeutung. Sie wirkt antithetisch zu einer forcierten Globalisierung, sammelt aber zugleich alle durch diesen Prozess angestauten Frustrationen und Verunsicherungen zu einer Sprengkraft, die leicht mobilisiert werden kann.

Nicht nur in Hinblick auf die Beziehung zu den außereuropäischen Volks- und Sprachgruppen werden solche Bestrebungen zu einer Gefahr für das Zusammenleben von Menschen. Sie verstärken auch innerhalb Europas, also zwischen den verschiedenen europäischen Staaten und in den Staaten selbst den traditionell latent bestehenden Nationalismus und Chauvinismus. Auf diesen Prozess kann hier nicht eingegangen werden. Aber angemerkt werden soll, dass neben zentripetalen Bewegungen wie der europäische Einigungsprozess auch zentrifugale Bestrebungen zu beobachten sind. Hier sei nur auf die verschiedenen Kriege in Osteuropa und auf dem Balkan verwiesen, aber auch auf das Baskische, Korsische, irische Problem usw. verwiesen. Nationalistische, rassistische und ethnozentristische Ideologien erheben die Monolingualität immer mehr zur Norm oder zum Ziel.

Über die Multilingualität in diesem Kontext zu sprechen ist nicht leicht. Denn Multilingualität verstanden nicht nur als Existenz von verschiedenen Sprachen, sondern auch als Interatkion zwischen ihnen, als ihr Zusammenwirken auf Menschen wird schnell assoziiert mit Problemem, mit Identitätskrise, mit Identitätsverlust. Der Belgier Quaghebeur hat die Schwierigkeit der übrigen Europäer, sich überhaupt vorzustellen, dass die Belgier eine belgische Identität haben könnten, oder eine Sprache zu finden, um diese Identität zu formulieren, beschrieben. Er schreibt nämlich:

Wie lässt sich von diesem Volk sprechen, das aus vielen Volksgruppen besteht? Wie lässt sich von dieser gemeinsamen Kultur, die trotz dreier Sprachen existiert und klare Sensibilitätsnuancen zuläßt, sprechen? Wie kann man von alldem sprechen, da wir normalerweise aufgrund unseres Wesens und aufgrund unserer angenommenen Abweichung von der Norm, die die letzten drei Jahrhunderte der europäischen Geschichte gestiftet hat, kein Existenzrecht besitzen? Wir sind doch nach dem gesunden Menschenverstand der europäischen Nationen, die den Kontinent durch nationalistische Begeisterungen, die alle begründet und jedoch vergänglich waren, verheert haben, wird sind doch nach diesem gesunden Menschenverstand ein Widersinn. Ein europäischer gesunder Menschenverstand, der auch heute noch auf dem Balkan wütet. Warum fällt es allen so schwer, uns das Recht auf eine Identität anzuerkennen? Wenn nicht, weil seit Jahrhunderten in Europa eine Äquivalenz zwischen Sprache, Kultur und manchmal Religion besteht?" (Quaghebeur 1995, 173; Übersetzung von Simo)

Auf der Äquivalenzliste Quaghebeurs steht die ethnische Gruppe nicht, weil seine Kritik vor allem gegen die Franzosen gerichtet ist, die längst das Jus sanguini Prinzip zugunsten des Jus soli Prinzips aufgegeben haben. Im Gegensatz zu Deutschland ist in Frankreich die Zugehörigkeit zu selben ethnischen Gruppe kein Kriterium der Zugehörigkeit zur selben Nation. Aber auch in Frankreich herrscht eine monolinguale Auffassung der Nation. Belgien erscheint daher als ein unmöglicher Fall, der notwendigerweise nur ein prekäres Dasein fristen kann. Die multilinguale Situation in Belgien wird daher als ein Handicap betrachtet, weil sie von der durch die europäische Geschichte der letzten Jahrhunderte geprägten Norm abweicht.

Der Belgier wendet sich gegen solche Vorstellungen und vermag plausibel zu zeigen, daß die Belgier trotz mancher Spannungen doch wohl eine unverwechselbare Identität entwickelt haben, die von der Identität der Bürger aus monolingualen Staatsnationen abweicht, aber umso interessanter, umso wichtiger ist. Es handelt sich also um einen anderen Typus von Identität, der von denen nicht wahrgenommen werden kann, die nicht über eine adäquate Sprache verfügen, um sie zu erfassen.

Eine der Hauptcharakteristiken der belgischen Identität besteht darin, so Marc Quaghebeur, dass sie von den üblichen vereinheitlichen Schemen abweicht. Sie ist vor allem polyphonisch. Innerhalb derselben Sprache und zwischen den Sprachen herrscht eine Interkulturalität, weil diese Sprachen sich nicht auf einen harten Kern zurückziehen, sondern nach Synthesen streben. In einem Land, wo eine Einheit herrscht, die oft durch die Zerstörung alles Abweichenden erkämpft wurde, lebt man anders als in einem zusammengesetzten Land, wo verschiedene Kulturen zusammenleben. In einem solchen zusammengesetzten Land ist alles anders als homogen, auch wenn in manchen Köpfen das Ideal der Vereinheitlichung weiter herrscht. In so einem Land weiß jeder, dass der Andere existiert, und dass er unumgänglich ist.

Die belgische Identität, wie sie hier beschrieben wird, schafft eine Ich-Struktur, die dem Subjekt ermöglicht,

den besonderen Anforderungen interkultureller Begegnungs- und Kommunikationssituationen gerecht zu werden, Diskrepanzen und Unsicherheiten, die aus dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Strukturmodelle und Handlungsmuster resultieren, zu ertragen und trotz ungewisser bzw. den eigenen Handlungsdispositionen widersprechender Verhaltenserwartungen handlungsfähig zu bleiben (Sternecker 1992).

Natürlich ist eine solche individuelle Identität ein Idealfall. Auch in Belgien reagieren sicherlich viele Menschen in interkulturellen Situationen sehr unsicher und diese Unsicherheit fördert ethnozentrische Reaktionen zutage, die auf bekannte Stereotypen und Vorurteile zurückgreifen. In multilingualen Kontexten, ob in Afrika oder in Europa, erlebt man immer wieder, dass Mitglieder der jeweiligen Gruppen sich ständig verdeutlichen, dass sie auf der Grundlage unterschiedlicher Hintergrundannahmen operieren, und daraus Trennungslinien zwischeneinander ziehen. Gerade dieses Verhaltensmuster führt zu ethnozentrischen Hypostasierung der Unterschiede. Daraus resultiert die verhängnisvolle Spirale wechselseitiger Zuschreibungen von negativen Eigenschaften, die oft in Bürgerkriege münden.

Kontakte mit den Anderen sind immer Momente einer Krisenerfahrung mit oft routinierten abwehrenden Bewältigungsstrategien. Dies hat nicht unbedingt mit einer unwandelbaren Natur des Menschen zu tun, sondern mit Gewohnheiten, mit Traditionen, mit Erzählungen. "Das Anderssein wird vor allen anderen rituell begangen und pointiert" (Eller 1997, 364). So auch der Umgang mit dem Anderen. Der Umgang mit dem Anderen hängt von der Vorstellung, die man von dem Anderen und von dem Leben mit dem Anderen hat, ab. Die abwehrende Strategie ist nicht unvermeidlich. Eine andere Bewältigungsstrategie ist nicht nur denkbar, sondern existiert. Das oben beschriebene belgische Modell stellt ein Beispiel dar, wo die Krisenerfahrung, die durch den Kontakt mit den Anderen und die Erfahrung des Andersseins hervorgerufen wird, nicht durch die Verfestigung und Verteidigung einer gegebenen Identität gelöst wird, sondern durch Umstrukturierung der Wir- und der Ich-Struktur. Weil das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturgruppen eine permanente und unvermeidliche Wirklichkeit ist, ist es unerlässlich, die Grundvoraussetzung des Gelingens eines interaktionistischen Modells genau zu untersuchen, denn die abwehrende Bewältigungsstrategie, wie verbreitet sie auch sein mag, vermag nicht auf Dauer den Herausforderungen, die eine vernetzte und globalisierte Welt darstellt, zu begegnen.

Die Erziehungswissenschaftlerin Petra Sternecker hat in Anlehnung an die von der Psychologie entworfenen vier Grundqualifikationen sozialen Handelns universale Persönlichkeitsmerkmale herausgearbeitet, deren Mobilisierung eine erfolgreiche Bewältigung interkultureller Interaktions- und Kommunikationsprozesse ermöglichen könnte. Diese vier Merkmale sind: die Empathie, die Rollendistanz, die Ambiguitätstoleranz und die kommunikative Kompetenz (Sternecker 1992).

Als Einfühlungsvermögen gegenüber dem Interaktionspartner ermöglicht die Empathie die kognitive Vorwegnahme seiner Handlungsdispositionen und Verhaltenserwartung. Nur so kann die interkulturelle Kommunikation als "alternierender Prozess zwischen der Berücksichtigung anderskultureller Handlungsdeterminanten und dem Einbringen eigener Handlungsabsichten" funktionieren (Sternecker 1992, 164).

Die Rollendistanz ist die Fähigkeit, "die eigenen Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster in ihrer kulturellen Bestimmtheit zu erfassen" (Sternecker 1992, 164f), d.h. sich sozusagen von "außen" betrachten zu können. Dadurch verlieren die eigenen Werte und Normen ihren Selbstverständlichkeitscharakter und können kritisch betrachtet, relativiert, verworfen oder verteidigt werden. Diese Fähigkeit ermöglicht die Überwindung dichotomer Denkmodelle und die Herstellung einer gemeinsamen Verständigungsbasis in Interaktionsprozessen.

Die Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, die Inkompatibilitäten, die in der Struktur der sozialen Handlungsgefüge angelegt sind, zu tolerieren, d.h. Widersprüche zu akzeptieren, aber auch "die im Aufeinandertreffen unterschiedlichen kulturellen emotionalen Unsicherheiten und kognitiven Destabilisierungen zu ertragen" (Sternecker 1992, 166).

Die kommunikative Kompetenz setzt die anderen Fähigkeiten voraus, erfordert aber auch die Kenntnis der Sprache oder der Sprachen der Interaktionspartner und die Fähigkeit, einen Ausgleich zwischen der rationalen Ebene und der emotionalen herzustellen. Sie ist auch die Fähigkeit, im Kommunikationsprozess kulturbedingte Kommunikationsstörungen mit dem Interaktionspartner zu thematisieren.

Diese Grundfähigkeiten sind nicht leicht zu mobilisieren. Ihre Mobilisierung erfordert von den Individuen und von den Gruppen viel Energie, aber vor allem Einsicht in ihre Notwendigkeit. Sie führt notwendigerweise zur Infragestellung oder neuen Betrachtung der bequemen bis dahin unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, die die Alltagsrituale und das individuelle Verhalten beeinflussen. Sie führt auch zu der Zulassung des Anderen und zu dem Bewusstsein, dass man "nicht die ganze Wahrheit vertritt und daß die (eigene) Form des Daseins nur einen Teil des Menschseins ausmacht" (Böhme 1985, 288). Dadurch kann eine Identität entstehen, die allein die Herausforderungen des nächsten Jahrtausends zu bewältigen vermag. Allein eine solche Identität ist imstande, dem ethischen Postulat, das Julia Kristeva für die Zukunft formuliert hat, zu genügen, nämlich, daß jeder er selbst bleibt, seine eigene Kultur nicht vergisst, aber sie zugleich so relativiert, daß sie mit anderen Kulturen leben und alternieren kann (Kristeva 1988). Diese Identität ist von einer fundamentalistischen monosprachlichen Identität weit entfernt, sie bedeutet auch nicht den totalen Verlust der eigenen ursprünglichen Identität durch Nivellierung oder Angleichung; sie bedeutet vielmehr ein Oszillieren zwischen den Sprachen und Kulturen. Sie bedeutet auch die Entstehung von Räumen der Hybridisierung und des Synkretismus.

In Kamerun haben wir 236 einheimische Sprachen und zwei Fremdsprachen, die als Lingua franca und offizielle Sprachen fungieren, nämlich Englisch und Französisch. Haben wir dadurch eine ideale Situation zur Entstehung der oben beschriebenen Identität? Leider nicht. Die Realisierung einer solchen gelassenen Beziehung zwischen den Sprachen setzt eine totale Symmetrie zwischen den Sprachen voraus. In Kamerun dagegen sind die Fremdsprachen zugleich auch Kolonialsprachen und genießen dadurch immer noch eine Vorrangstellung. Ein Großteil der Bevölkerung hat also zu ihr eine Exterioritätsbeziehung, und wird dadurch vom öffentlichen Leben fast ausgeschlossen. Das schafft Frustrationen. Das schafft Ausgrenzung. Auch die Beziehung zwischen den Kolonialsprachen ist eine gespannte, weil Französisch favorisiert wird. Das schafft auch Frustrationen, die sich in Rückzugsbewegungen und Verteidigungsversuchen einer anglophonen Identität manifestieren. Eine höchst merkwürdige Konstellation, die aber historisch erklärbar ist.

Trotz dieser gespannten Situation ist eine Identität entstanden, die manche als eine akkulturierte betrachten, die aber im Grunde eine hybride oder eine synkretische ist. Sie unterscheidet sich von der monolingualen Identität in Europa, entspricht aber nicht ganz dem Ideal einer multilingualen Identität, die die Symmetrie und nicht die Hierarchie voraussetzt und fördert.

© D. Simo (Yaounde)

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Bibliographie

Böhme, Gernot 1985: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Frankfurt/M, Suhrkamp Verlag

Calvet, J.L. 194: Linguistique et colonialisme. Paris, Payot

Diop, Cheik Anta 1979: Nations nègres et culture. Paris, Présence Africaine

Eller, Oliver 1997: Wie anders sind die anderen. Zur Konstruktion von Ost- und Westdeutschen. In: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Stuttgart, Klett Verlag. Heft 4

Humboldt, Wilhelm von: Wilhelm von Humboldt Werke. Hrsg. Von Albert Leitzmann. Berlin
Bd4 (1820-1822) 1904
Bd6/1 (1827-1835) 1907

Kagame, A. 1956: La philosophie bantu-rwandaise de l’etre. Bruxelles, Académie Royale des Sciences coloniales

Kagame, A. 1976: La philosophie bantou comparée. Paris, Présence Africaine

Kristeva, Julia 1988: Etrangers à nous-meme. Paris, Fayard

Ntumba, Tshimalenga 1980: Denken und Sprechen: ein Beitrag zum "linguistischen Relativitätsprinzip" am Beispiel einer Bantusprache. Frankfurt/M, Diss. Phil.

Sternecker, Petra 1992: Kulturelle Identität und interkulturelles Lernen. Opladen, Leske und Budrich

Taguieff, Pierre-André 1987: La force du préjugé. Essai sur le racisme et ses doubles. Paris, Découvertes

Quaghebeur, Marc 1995: Culture(s) belge(s), identité et société. In: Y a-t-il un dialogue interculturel dans les pays francophones? Actes du colloque international de l’AEFECO. Vienne, Cahiers francophones d’Europe Centre-orientale. Tome 2

Werle, Iwar 1989: Sprache, Mensch und Welt. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Whorf, Benjamin Lee 1956: Language, Thought and Reality. Selected writings. Hrsg. Von John B. Caroll. Cambridge, Mass/New York/London


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