Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4. Nr. Juni 1998

Wissenschaftskommmikation der Literaturwissenschaften
zwischen China und Europa seit den 80er Jahren

Ye Tingfang (Beijing)

Wie allen bekannt, ist China lange Zeit ein in sich geschlossenes Land gewesen. Erst am Anfang dieses Jahrhunderts, nämlich nach dem Sturz der letzten feudalen Dynastie, begann die Wissenschaftskommunikation zwischen China und Europa, und sie kam in den 20er und 30er Jahren in Schwung. Durch Kriege und aus ideologischen Gründen ist aber diese Kommunikation im Zeitraum von der zweiten Hälfte der 30er Jahre bis zur zweiten Hälfte der 70er Jahre schwach gewesen. Erst am Ende der 70er Jahre begann diese Wissenschaftskommunikation sowohl auf dem Gebiet der Kultur als auch im Bereich der Literatur wieder in Schwung gebracht zu werden, da China endlich beschlossen hatte die strategische Leitlinie für "Türöffnung und Reform" durchzuführen. Seither haben die chinesischen und europäischen Literaturwissenschaftler immer mehr Möglichkeiten, sich zu treffen und verschiedene wissenschaftliche Fragen miteinander zu besprechen, sogar manche freundschaftlichen Beziehungen zur Zusammenarbeit herzustellen.

Durch die Wissenschaftskommunikation zwischen den chinesischen und europäischen Literaturwissenschaftlern werden unser Blickfeld erweitert und unsere Ideen erneuert. Da die Moderne in unserem Land nicht anerkannt war, hatten die meisten Literaturwissenschaftler für sie auch kein richtiges Verständnis. Mit den gegenseitigen häufigen Besuchen waren wir schnell in der Lage, die europäische Moderne richtig zu verstehen, sogar zu bewundern. Zum Beispiel war uns eigentlich die Darstellungsmethode des bedeutenden Romans Die Blechtrommel von Günther Grass fremd, weil sie so grotesk aussah. Im Jahre 1979 wurde Grass von der deutschen Botschaft zu einem Besuch in Peking eingeladen und ist mehrmals mit chinesischen Germanisten zusammengekommen. Nachdem wir über diesen Roman gesprochen hatten, interessierten wir uns für dieses Werk sehr, da man nun begriff, daß die Groteske, die der Autor beim Schaffen seines Romans benutzte, gerade als ein wunderbares Ausdrucksmittel gilt. Dieser Roman erweist sich würdig, als ein Meisterwerk des "Neuen Barocks" bezeichnet zu werden. Früher verstanden wir Franz Kafka auch wenig. Es ist der berühmte Literaturkritiker und Literaturhistoriker, Professor Hans Mayer, der es uns ermöglichte, diesen ungewöhnlichen Dichter zu beachten. Prof. Mayer war im Jahre 1980 zum ersten Mal in China. Bei der Vorlesung an der Pekinger Universität hat man ihm eine Frage gestellt: Welcher Dichter der deutschen Literatur in diesem Jahrhundert nach seiner Meinung am bedeutendsten sei? Da antwortete Hans Mayer unverzüglich: "Franz Kafka! – Dann Thomas Mann und Bertolt Brecht." Alle waren überrascht. Denn man meinte vorher, der erste Platz in der modernen deutschen Literatur sollte ohne Zweifel Thomas Mann gebühren, und Kafka sei nur ein Schriftsteller im dritten Rang der deutschen Literatur. Am nächsten Tag erzählte er bei uns an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften eine Anekdote über den marxistischen Literaturkritiker Georg Lukacs. Es geschah im Jahre 1956 in Ungarn. Nachdem die sogenannte reaktionäre Revolte durch die sowjetische Armee unterdrückt worden war, wurde der ehemalige Minister für Kultur, Lukacs, gefangen und über Prag nach Rußland gebracht und eine Zeit lang in einer Burg in Prag eingesperrt. Da war Lukacs, der bisher die Moderne immer als "Dekadenz" kritisierte, tief ergriffen und sagte: "Kafka ist doch ein Realist!" Danach wurde die Äußerung durch die chinesischen Presse bekannt und fand im chinesischen literarischen Kreis großen Widerhall. Von nun an wagte niemand mehr, Kafka einfach als dekadent zu bezeichnen und ihn zu verurteilen.

Als Kafka-Forscher war ich auch von den Gesprächen mit Mayer sehr inspiriert. Im Jahre 1991 habe ich in Tübingen zweimal Mayer besucht. Als unser Gespräch sich einmal auf Franz Kafka bezog, sagte er: "Im Verlauf meiner Beschäftigung mit der deutschen Literatur sind mir zwei Dichter zugefallen "die außerhalb der Literatur zu uns gekommen sind, der eine heißt Georg Büchner, der andere heißt Franz Kafka. Nun sind die beiden schon literarische Klassiker geworden." Und nach seiner Meinung besteht der Beitrag von Kafka darin, daß "Kafka die deutsche Sprache geändert hat." Seine Auffassung ist auch sehr tiefgreifend. Wenn eine neue literarische Gestalt in Erscheinung tritt, wird sie meiner Meinung nach oft mißverstanden und als "Nichtliteratur" ablehnt. Aber sie wird mit der Zeit von immer mehr Lesern anerkannt und schließlich zu einer orthodoxen Literatur. Das bedeutet, daß sie "von Außen ins Innen der Literatur eingetreten ist." Diese Ansicht von Hans Mayer hat für chinesische Leser und Wissenschaftler doch eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Berichtigung der mißverstandene Moderne gespielt. Seit den 80er Jahren werden in China verschiedene literarische Theorien und Kenntnisse eingeführt. Einen Teil davon hat man aus Büchern geschöpft, den anderen Teil vor allem durch Wissenschaftskommunikation. Ich nenne ein Beispiel: Die Ästhetik der Rezeption, die sich schon seit der Mitte der 60er Jahre in Deutschland und Europa verbreitete, war uns bis Anfang der 80er Jahre immer noch fremd. Dann hat mein Kollege, Herr Zhang Guofeng, während seines Studienaufenthaltes in Deutschland die beiden Begründer der Rezeptionsästhetik, Prof. Jauß und Iser, in Konstanz besucht. Durch die Besprechungen mit den beiden Gelehrten hat er die Bedeutung dieser Lehre ziemlich gut erkannt. Der Einführung dieser Lehre durch Zhang wurde in China schnell Aufmerksamkeit geschenkt. Zugleich hatte Zhang auch mit Gadamen die Hermeneutik besprochen und mit Habermas die Theorie des Kommunikativen Handelns diskutiert.

Diese neuen Lehren hatten damals unseren Horizont erweitert. Ein anderes Beispiel bezieht sich auf den Barock. Früher meinten viele bei uns in China, daß der Barock sich nur in der Malerei und Architektur verkörperte. Nach mehreren Studienaufenthalten wußte ich, daß er in der Literatur auch seinen starken Ausdruck gefunden hat. Das führte dazu, das ich im letzten Jahr einige Professoren wie Albrecht Schoene, Wilfried Barner, Harald Steinhagen usw., die sich mit der Barockliteratur beschäftigen, kennengelernt hatte. Dann hatte ich, gestützt auf die in Deutschland gesammelten Materialien über Barock, in China den Aufsatz unter dem Titel Das Schicksal des Barocks veröffentlicht. Darin ist hauptsächlich die Barockliteratur in Europa dargelegt, die bei vielen Lesern Interesse erregt hat. Natürlich sind es nicht nur die chinesischen Gelehrten, die im Verlauf der Wissenschaftskommunikation zwischen China und Europa Vorteile haben. Nicht wenige chinesische Gelehrte machen Studienaufenthalte in Europa, um die chinesische Literatur zu unterrichten. Zum Beispiel haben die beiden Professoren, Herr Yan Baoyru und Zhang Yushu, hintereinander den Unterricht in der Fakultät für Sinologie an der Universität Bayreuth erteilt. Sie erläuterten die chinesische Literatur vom Anfang bis Gegenwart. Kein Wunder, es gibt immer mehr Menschen, die großes Interesse haben, die chinesische Sprache zu lernen.

Bei der freundlichen Beziehung der Wissenschaftskommunikation zwischen den chinesischen und europäischen Gelehrten kann man oft die nötigen wissenschaftlichen Materialien bekommen. Prof. Zhang erhält ständig von den oben erwähnten Freunden solche Bücher, wie Der Akt des Lesens von Iser, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik von Jauß, Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck von Habermas, Die Aktualität des Schönen und Erläuterungen zur Diskursethik von Gadamer usw. Ich selbst kann auch viele ähnliche Beispiele nennen, von denen zwei besonders zu betonen sind. Zuerst muß ich hier für die Freundlichkeit von der Rentnerin in Tübingen, Frau Ingeborg Weber, meinen herzlichen Dank aussprechen. Sie war die ehemalige Bibliothekarin an der Universität Tübingen. Nachdem wir uns im Jahre 1981 kennengelernt hatten, kümmerte sie sich immer um meine Kafka-Forschung und besorgt immer die Bücher über Kafka für mich. Um die Samm1ung des Kafka-Symposions zum 100. Geburtstag so rechtzeitig wie möglich kaufen zu können, erkundigte sie sich danach überall. Unvergeßlich ist das, was im Sommer 1994 geschah. Damals gab ich, beauftragt durch einen Verlag, sämtliche Werke Kafkas im Chinesischen heraus. Die Arbeit war im wesentlichen fertig. Aber ich war immer noch beunruhigt: Im Band mit den Briefen Kafkas an die Eltern vom Jahr 1922 bis 1924 blieb immer noch eine Lücke. Und über diese Briefe (insgesamt 32 Stück) habe ich schon erfahren, daß sie schon im Jahre 1986 in Prag gefunden und 1993 vom Fischer Taschenbuch Verlag herausgegeben wurden. Leider hatte ich das Buch noch immer nicht bekommen. Eines Tages habe ich ein Büchlein erhalten, das von Frau Weber geschickt wurde. Als ich das Paket aufschnürte, war ich ganz freudig überrascht. Es war eben das Buch, das ich nötig hatte! Dabei fühlte ich, wie wichtig die ehrliche Freundschaft in der Wissenschaftskommunikation ist! Ein anderes Erlebnis hatte ich 1994, im Frühling. Als der stellvertretende Chefverleger des Diogenes Verlages in Zürich, Herr Rudolf Bettschart, von einer chinesischen Lehrerin gehört hatte, daß ich Dürrenmatt-Forscher war und Dürrenmatt persönlich besucht hatte, brachte er sofort seine Freundlichkeit zum Ausdruck, mir Bücher zu schicken. Bald erhielt ich eine Menge Bücher (53 Exemplare), von denen 36 Exemplare Dürrenmatts Werke waren, die anderen zur Dürrenmatt-Sekundärliteratur gehörten. All diese Bücher waren kostenlos. Ich war wieder sehr freudig überrascht. Außerdem hatte mir dieser Verlag ermöglicht, einen Studienaufenthalt von 4 Monaten in der Schweiz zu machen. Nun besitze ich vielleicht die beste Grundlage für die Dürrenmatt-Forschung in China.

Seit der Erschließung und Reform hat China mit vielen wissenschaftlichen Institutionen aus verschiedenen Ländern Beziehungen zur wissenschaftlichen Kooperation und Kommunikation hergestellt. Allein unsere Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften hat schon mit entsprechenden Institutionen aus 20 europäischen Ländern Verträge abgeschlossen, die jeweils von den durch die Verträgen angebotenen Chancen Gebrauch gemacht haben. Zugleich gibt es viele Universitäten und Hochschulen, die mit den ebenbürtigen Einheiten die Partnerschaften hergestellt haben. Zum Beispiel besteht diese Beziehung zwischen der Pekinger Universität und der Freien Universität Berlin. Solche Beziehungen sind für die Wissenschaftskommunikation ganz günstig. Die Erfolge, die die Germanisten von den beiden Universitäten bei Zusammenarbeiten erzielt haben, sind offensichtlich. Nach den Vertrag waren vier deutsche Literaturwissenschaftler, Bernd Balzer, Horst Dengler, Hartmut Eggert und Gunter Holtz verpflichtet, das Buch (Die deutschsprachige Literatur in der BRD) zu schreiben. Dann wurde das Buch von vier chinesischen Professoren und Professorinnen, Herr Fan Dacan, Zhao Dengru, Ni Chengen und Bau Zhixin ins Chinesische übersetzt. Jetzt sind die beiden Bücher bei mir oft auf dem Schreibtisch. Sie sind uns chinesischen Germanisten sehr nützlich.

Mit der weiteren Erschließung und Reform Chinas wird sich die Wissenschaftskommunikation der Literaturwissenschaft zwischen China und Europa weiter entwickeln - glaube ich.

© Ye Tingfang (Beijing)

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