Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 9. Nr. Mai 2001 Editorial


Zwischen 'posttheatralischer Dramatik' und 'postdramatischem Theater'.
Elfriede Jelineks Stücke der neunziger Jahre

Ingo Breuer (Köln)

Gerda Poschmann hatte unlängst in ihrer Studie zu neuesten Tendenzen in Drama und Theater angemerkt:

Der heutigen Vielfalt an Theatertexten [...] wird man durch Inbezugsetzung zu tradierten Vorstellungen nicht mehr gerecht. [...] Auch neuere Ansätze der Dramentheorie und -analyse, die auf Erkenntnisse moderner Sprach- und Handlungstheorie, Psychologie und Soziologie rekurrieren, basieren auf der Grundannahme, der Text bilde eine Welt zwischenmenschlicher Kommunikation ab und sei aus dieser Funktion der (heute keineswegs als realistisch vorausgesetzten) Widerspiegelung erklärbar.(1)

In seinem Buch Postdramatisches Theater hat Hans-Thies Lehmann entsprechend angemerkt, daß Wirklichkeit immer mehr durch zwischengeschaltete Schemata, medial vorfabrizierte Attitüden und Darstellungsmuster vermittelt wird.(2) Das heißt für das Theater: Es geht nicht mehr um eine Abbildung und ein Nachspielen vergangener Ereignisse, nicht mehr um Mimesis von Handlungen, sondern um die Mimesis von Diskursen und Gesten. Bereits bei Brecht und - stärker noch - in der Dramatik der 70er und 80er Jahre finden sich solche Phänomene, dort allerdings im Zeichen einer allgemeinen Medien- und/oder speziellen Ideologiekritik. In Brechts gestischer Darstellungsweise gerinnen Handlungen und Sprechen zu "Attitüden" und zu 'Dokumenten' von Ideologie, die er dramatisch dekouvriert. Im dokumentarischen Drama geht es häufig um die Entlarvung von medialer Verfälschung von Wirklichkeit, denen ein 'authentisches Sprechen' der Opfer gegenübergestellt wird - als quälende Erinnerung, die theatralisch präsentiert wird in den verbalen und körperlichen Zeichen von Versehrtheit, also z.B. im Stammeln, im kurzatmig-asthmatischem Sprechen oder im Vorzeigen körperlicher Behinderung, die alle auf die Verfolgungen und damit auf die Verfolger zurückverweisen. In dieser Tradition steht auch Jelineks Dramatik, doch sie radikalisiert diese Verfahren unter dem Einfluß der Wiener und Grazer Gruppe, der Diskursanalyse und des Poststrukturalismus, vor allem aber feministischer Positionen. Dabei sperren sich ihre Stücke insoweit gegen die Tendenzen, die Lehmann unter dem Sammelbegriff "postdramatisches Theater" beschrieben hat, als Jelinek zwar weitgehend eine 'Autonomie' der theatralischen Ebenen gestaltet, doch dem (Dramen-) Text eine zentrale Bedeutung beimißt: Der dramatische Diskurs erhält als 'hysterisches Sprechen' eine theatralische Dimension, die über das Gestische Brechts hinausgeht, aber die bei Brecht noch vorherrschende 'Deutungsebene' behält. Der Verzicht auf das 'Repräsentieren' in der neueren Ästhetik vollzieht Jelinek also nicht mit, sondern unternimmt den Versuch einer 'Modernisierung des Avantgardismus'.

 

1. Das Theater der Palimpseste in Stecken, Stab und Stangl

Das Stück Stecken, Stab und Stangl wurde 1996 in Hamburg uraufgeführt und erhielt im selben Jahr von der Zeitschrift Theater heute den Preis "Stück des Jahres". Es spielt in der Fleischabteilung eines großen Supermarkts mit einem Bildschirm oder einer Leinwand für Projektionen. Die Figuren häkeln im Laufe des Stücks das komplette Bühnenbild zu: "Am Ende ist eine Handarbeitslandschaft entstanden", bei der auch die Schauspieler "mit Hüllen überzogen" sind (17).(3)
Es gibt keine Handlung (außer dem Häkeln) und keine traditionellen Dialoge. Wie in den früheren Stücken sind die Figuren nur Echokammern unterschiedlicher Diskurse. In ihren Repliken finden sich patriarchale und/oder faschistoide Ideologeme, ebenso Schlagworte des Bildungs- und/oder des Kleinbürgertums. Zugleich jedoch beinhaltet die Figurenrede die Kommentierung dieser Phrasen, so daß diese nicht nur per Mimikry destruiert, sondern auch durch eine Interpretation 'gerahmt' werden.
Anlaß des Stücks war die Ermordung von vier Roma in Burgenland im Februar 1995. Das Thema jedoch besteht im mehr oder weniger latenten Rassismus in Österreich, im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und nicht zuletzt in der Rolle von Kunst und Kultur, von Philosophie und Politik sowie der Medien in diesem Kontext: Sie erscheinen als Analogon zur "Häkellandschaft", in der eine äußerliche kleinbürgerliche Gemütlichkeit die tatsächliche Brutalität und Ignoranz gleichsam überdeckt. Damit führt Jelinek zwei Diskurs-Ebenen vor: erstens den 'wahren' Diskurs der Geschichte und zweitens die Überschreibung, Überdeckung und Übermalung dieses Diskurses. Damit gibt sich die Anlage des Stücks als dekouvrierter Palimpseste zu erkennen: als Archäologie und Rekonstruktion einer Ur-Schrift im Sinne der Diskursanalyse von Jelineks frühem Vorbild Roland Barthes. So spricht der Fleischer in der Schlußreplik:

Aber wo immer man reibt, kommt Ihr Fleischer zum Vorschein! Man muß nur ein bißchen rubbeln, und schon tauche ich auf! [...] Wenn sie dann immer noch nicht aufhören zu rubbeln, kommen Sie dorthin, wo alle begraben sind. [...] Dann wird es sich herausstellen, ob die Wahrheit einfach nur ein Ziel, eine Endstation Ihres Suchens gewesen sein wird, oder ob sie zu einem Aufruhr, einer Verweigerung führen wird [...]. Suchen Sie Freiheit, müssen Sie erst mal alles davor wegräumen. (68)

Kurz zuvor hatte ein Kunde bereits das Verdecken des Vergangenen angesprochen: "Überliefern ist zugleich Vergessen." (63) Es ist diese gesteuerte Politik des 'Vergessens', die szenisch und textlich vorgeführt und revidiert werden soll. Die Übermalung und Übertünchung einer Originalschrift, wie sie szenisch durch die Häkellandschaft, die das gesamte Bühnenbild und Personal sukzessive überdecken soll, umgesetzt wird, muß als szenische Gegenhandlung zur textlichen Entwicklung des Stücks verstanden werden: In einer chiastischen Bewegung korrespondiert die zunehmende Verdeckung der Bühne mit der textlich-inhaltlichen Dekouvrierung der behandelten Vorgänge, so daß der szenische Vorgang direkt an den diskursiven Vorgang gekoppelt bleibt. Damit ist das Stück allerdings - zumindest in diesem Aspekt - einem "postdramatischen Theater" mit seiner Autonomisierung der theatralischen Ebenen diametral entgegengesetzt.

 

2. Elektra und ihre Schwestern in Ein Sportstück

Eine ähnliche Strategie findet sich in Ein Sportstück von 1998, das ein Sportstadion zur Szenerie hat. Das Stück besitzt mehrere Ebenen. Erstens gibt es Chöre, die die Handlung unterbrechen, um zum Beispiel neueste Sportergebnisse zu verkünden; zweitens werden auf einem Bildschirm Sportereignisse übertragen; drittens gibt es zwei Fan-Gemeinden, die versuchen, das Absperrgitter zu durchbrechen und sich gegenseitig zu bekämpfen; und viertens gibt es die Vordergrundhandlung mit mehreren Geschichten aus den Bereichen Krieg und Sport, die nicht gespielt, sondern nur 'be-sprochen' werden.

Die einzige Handlung im Vordergrund besteht darin, daß "das Opfer" und Elfi Elektra mißhandelt werden. Während in Stecken, Stab und Stangl die Gewalt nur diskursiv vorgeführt wird, wird sie hier auch zu einer szenischen Parallelebene. Damit bildet sie eine Illustration und eine Kommentierung des Sprechtexts mit seiner latenten Gewalttätigkeit, die auch von der Achill-Figur angesprochen wird:

Heute wird die Sitzung unblutig abgehen. Lassen Sie Ihre Worte also zuhause, die können heute ruhig einmal mit den Kindern spielen, damit auch die sprechen lernen wie die Herren. (130)(4)

Das Stück ist also geprägt durch Gewalt in Text und Handlung - und zwar so stark, daß der Eindruck einer universellen Gewalt entsteht. Dennoch existiert im Stück ein Gegendiskurs auf textlich-diskursiver und auf szenisch-theatraler Ebene: Es ist die Ebene der Opfer, so daß selbst eine Figur "Opfer" auftritt. Jelinek unternimmt den Versuch einer Re-Politisierung des Feminismus, was sich an einigen zentralen Frauenfiguren und an theatralischen Aspekten im Dramentext ablesen läßt. So sind es vor allem die weiblichen Opfer, die hier in den Blick geraten. Am Schluß von Ein Sportstück tritt "Die Autorin" auf, die sich laut Regieanweisung "von Elfi Elektra vertreten" lassen kann - also durch eine der Hauptfiguren des Stücks. Ihre Replik besteht aus einer ausführlichen Reflexion über die Autorin Jelinek, einschließlich zahlreicher autobiographischer Elemente, z.B. der Tod des Vaters. Wesentlich erscheint ihre Aussage: "[...] nur unter Stöhnen lernen die Menschen" (187), in der eine Bemerkung Nietzsches anklingt:

[...] vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen als seine Mnemotechnik. "Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis" - das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. [...] Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es für nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen [...].(5)

Das szenische Vorführen der Leiden als Vorstellen einer Mnemotechnik stellt für das Stück zugleich einen metadiskursiven Kommentar dar, indem das Stück als inszenierter Lernprozeß markiert wird. Allerdings bleibt die Vermittlung dieses Lernprozesses nicht auf die Ebene des Szenisch-Theatralischen beschränkt. Die Abbildung von Gewalt geschieht durch eine gewalttätige Theatralität, die sich auf die Sprache ausdehnt. Damit wird Elfi Elektras Replik über Gewalt und Gedächtnispolitik selbst zu einem 'gewalttätigen Darstellungs-Akt' und zu einem theaterästhetischen Kommentar über diesen Vorgang. Franz Norbert Mennemeier hatte die "Sprach-Montagen Jelineks" als "Tortur-Werkzeuge" innerhalb eines "Greuel-Theater[s]" bezeichnet,(6) und in einer Art 'gesprochener Szenenanweisung' äußert die Figur "Die Autorin":

Ich sehe, Sie wollen längst applaudieren, doch mit meinem schrillen Rufen halte ich Sie zurück. Mein Gebrüll übertönt die Menge. Sie haben schon lange Schweigen geboten, und ich will immer noch, daß mich alle hören sollen. (187)

Die Gegenposition wird durch die Figur "Anderer" formuliert:

Wir brauchen keine einigende Idee mehr, keine Emotion, keine Pläne! Wir brauchen die stumme pantomimische Geste, den stummen Blick [...] und, wie es so oft geht, mit unglaublicher Raschheit [...] treten wir an, laufen wir los [...]. Das ist noch gar nichts! Daß wir ihre Mörder werden, ist allen Umstehenden in kürzester Zeit bewußt gewesen [...]. (177)

Was wie eine Beschreibung "postdramatischer Theatralität" beginnt, erweist sich als Aussage eines Mörders und wird - durch diese Kombination - zu einer Chiffre für ein Theater des Vergessens als performativer Event von Mord-Komplizen, zu dem auch Frauen beitragen können. "Die Frau" sagt:

Erfolggekrönte Dichterinnen halten uns Vorträge. [...] Dann sagen sie, was sie zu sagen haben: Mut, Trauer, Betroffenheit, Multikulturalität. [...] Ein sirrender Herd- und Heimchenton erklingt (19).

Und an späterer Stelle heißt es:

verfestigte Feindbilder, Realitätsverzerrung gewinnen als Bedingung meiner militärischen Entscheidung, ab sofort nur die Opfer zu Wort kommen zu lassen, an Bedeutung. Ich sage also gar nichts mehr (117).

Hierbei handelt es sich um eine polemische Wendung gegen eine vor allem in den 50er und 60er Jahren vieldiskutierte ästhetische Position 'nach Auschwitz', wie sie paradigmatisch Theodor W. Adorno formuliert hatte: Er hielt die Werke Becketts für das Idealbeispiel des 'Schreibens nach Auschwitz', da der "Grenzwert" seiner Dramen das "Schweigen" sei: "Die Worte klingen wie Notbehelfe, weil das Verstummen noch nicht ganz glückte, wie Begleitstimmen zum Schweigen, das sie stören."(7) Bei Jelinek liegen das Schweigen Becketts und Adornos, der Betroffenheitskult von Dichterinnen und die Performance der Mörder und ihrer Komplizen offenbar auf der gleichen Ebene.

Gegen die pantomimische Stille nach dem (deklarierten) Ende der grands réçits, gegen das freundlichen Sirren und gestische Schweigen stellt Jelinek also das Brüllen und den schrillen Mißton, kurz: eine 'hysterische Sprechdramaturgie', wie sie in der Elektra-Figur grundsätzlich angelegt ist.
Mit der Figur Elfi Elektra verweist Jelinek auf die Hysterikerin in Hugo von Hofmannsthals Elektra, und diese darf laut Szenenanweisung in der letzten Replik den Auftritt der Autorin ersetzen, so daß hier eine Identifikation von Autorin und Elektra stattfindet. Zudem findet sich gegen Ende des Stücks eine Anspielung auf Medusa - diejenige Figur, die dem Heft 108/109 der Zeitschrift Alternative, das sich als wesentliche Quelle für Jelineks Positionen zur Hysterie erwiesen hat, den Titel "Das Lächeln der Medusa" geliefert hatte:(8)

TAUCHER: [...] Zum Beispiel meine Schwester Elfi Elektra [...]. Ihr Problem ist, daß für sie nur sichtbar zu sein scheint, was in sich etwas Verborgenes birgt. Jeden Stein dreht sie um, weil sie unbedingt ein Schlangennest finden will. Ihr Sport besteht eben darin, nichts Verbergendes an seinem Platz lassen zu können. (168)(9)

In einer Variante der Sage begräbt der Mörder Perseus das Haupt der Medusa, das in den geläufigen Abbildungen Schlangen statt Haare trägt, was Robert von Ranke-Graves folgendermaßen kommentierte:

In der zweiten, einfacheren Version der Mythe bekämpft Perseus eine lybische Königin, enthauptet sie und begräbt ihr Haupt auf dem Marktplatz von Argos. Dies kann nur eine Eroberung Libyens durch Argos, die Unterdrückung des dort vorherrschenden matriarchalen Systems und eine Verletzung der Mysterien der Göttin Meith bedeuten.(10)

Jelineks Elektra-Figur befände sich damit auf der Suche nach einer vergrabenen matriarchalen Ordnung, was für die mythologische Figur nicht zutrifft. Das Leitbild der Hysterikerin stünde also für die Erinnerung an eine nicht-patriarchale Ordnung und - durch die Elektra-Autorin-Parallele - im Foucaultschen Sinne für die Archäologie als ein dichterisches Verfahren. Es geht ihr nicht um einen weiblichen Essentialismus, sondern um eine Verbindung von weiblicher Geschichte mit einer politischen und sozialen Geschichte, indem der feministische Diskurs stets mit einem antifaschistischen gekoppelt bleibt. Der Taucher, der mit seinen Kollegen kurz zuvor "die sehr widerstrebende Elfi Elektra [...], vielleicht in einem Netz", hinter sich her geschleift hatte, will "raus aus dem Individuum und rein in die Masse": "So viele junge Männer und keiner von uns ein Rätsel."(11) Die Masse im Sport, die Jelinek mit derjenigen im Nationalsozialismus assoziiert, steht den Intentionen der "widerstrebende[n]" Elfi Elektra, die "nichts als Widerspruch" höre,(12) gegenüber. Die Hauptfigur verkörpert damit den Widerstand gegenüber der männlichen Unterdrückung und der Suche nach einer faßbaren Wahrheit, die für Jelinek am ehesten in einem feministischen Marxismus zu finden ist.

3. Die hysterische Schreibweise: Jelineks Elektra-Modell

Das 1976 erschiene Doppelheft der Zeitschrift Alternative spielte nicht nur für Jelinek, sondern für die feministische Diskussion in Deutschland und Österreich eine zentrale Rolle. Es trug den Titel Das Lächeln der Medusa und enthielt Beiträge z.B. von Julia Kristeva, Hélène Cixous und Luce Irigaray. In der Auseinandersetzung mit Jacques Lacans Formel "La femme n'existe pas" versuchten diese Autorinnen den Ort des Weiblichen innerhalb einer phallozentrischen und logozentrischen Ordnung zu bestimmen. In einem System, das das Weibliche erstens nur als 'Leerstelle' und zweitens nur als männliche Zuschreibung von vermeintlichen Attributen der 'Weiblichkeit' (Natürlichkeit, Sexualobjekt usw.) kennt, sahen die Autorinnen trotz aller Unterschiede im Detail zwei Wege: Erstens eine Archäologie des Weiblichen, die immer die Gefahr eines Essentialismus enthält, und zweitens die 'Mimikry' des patriarchalen Systems: In Irigarays Modell geht es unter anderem darum, "die männliche diskursive Ordnung mimend, sie spiegelnd, noch einmal zu durchqueren und sie zu parodieren, indem man sie bewußt kopiere, verschiebe und travestiere."(13) Vorbild solcher parodistischer und travestierender Spiegelungen ist das Bild der 'Hysterikerin', über die Catherine Clément schrieb:

Die Hysterikerin greift die Erinnerungen der anderen Frauen auf, macht sie sich zu eigen [...]. Die Hysterikerin, die ihren Körper in der Vergangenheit erlebt, die ihn in ein Theater für vergessene Szenen verwandelt, ist Zeugin einer verlorenen Kindheit, die als Leiden überlebt.(14)

Entsprechend verwendete Jelinek bereits in ihren Dramen der 70er und 80er Jahre Hysterikerinnen, so in Clara S. und vor allem in Was geschah, als Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. Dort spricht die Eva-Figur, die als Kommentatorin fungiert und die einzig positiv gezeichnete Figur des Stücks darstellt:

EVA: die einige Zeit geschwiegen hat, fängt plötzlich an zu schreien, sie steigert sich in eine Hysterie hinein, bis man sie festhalten muß. Ich bin auch eine Frau. Ich bin eine Frau wie Nora hier! Ich hüpfe mit kleinen Freudenschreien umher, ich wirble umher, bis man meine Gestalt kaum noch auseinanderdividieren kann, ich hänge mich dem Nächstbesten schmeichelnd um den Hals [...], ich benenne die Räuber in der Reihenfolge ihres Auftretens: Deutsche Bank AG, Berliner Disconto Bank AG, Dresdner Bank AG, Bank für Handel und Industrie AG, Bank für Gemeinwirtschaft AG, Hypotheken- und Wechselbank AG, Landesbank Girozentrale, Vereinsbank [...] ... die Arbeiterinnen beugen sich über sie, verdecken sie und reden mitleidig auf sie ein, der Vorarbeiter bleibt abseits und raucht eine Zigarette, Nora sitzt unbeweglich da. Pause.(15)

Jelineks besondere Variante des Hysteriekonzepts wird hier deutlich. Erstens verzichtet sie weitgehend auf die psychoanalytische Deutung in Anlehnung an Freud und Lacan. Zweitens bietet sie nicht nur eine Mimikry phallozentrischen Sprechens und ein Körper-Theater "für vergessene Szenen", sondern bettet im hysterischen Anfall eine Kapitalismuskritik ein. Dabei geht es nicht nur, wie in Hofmannsthals Elektra, um das Dekouvrieren vergangener Handlungen, sondern auch um eine marxistisch inspirierte Anklage großer Konzerne. Damit zieht sie implizit eine widersprüchliche Linie von der marxistischen Kapitalismuskritik zu einer feministischen System- und Diskurskritik oder genauer: Sie versucht, eine marxistische Variante neuerer feministischer Ansätze zu konzipieren.

Es geht nicht nur darum, das phallozentrische Diskurssystem zu dekonstruieren, sondern einen 'wahren Geschichtsdiskurs' zu etablieren: einen historisch-materialistischen Diskurs, der geschlechterübergreifend bzw. geschlechterunspezifisch gedacht ist, aber die Diagnose einschließt, daß die Frau im Kapitalismus einen Warencharakter erhält. Dieses Denksystem verbindet auf problematische Weise eine Geschichte des Kapitalismus mit einer Geschichte des Patriarchats. Luce Irigaray schrieb entsprechend:

Wir können nicht dabei stehen bleiben, nur einen bestimmten Gesellschaftstypus [...] in Frage zu stellen, denn alle Gesellschaftsformen sind in dem Maße 'kapitalistisch', wie sie auf der Ausbeutung der Frau beruhen.(16)

So weist sie auch darauf hin, "daß die marxsche Analyse der Ware [...] als Analyse der Ausbeutung der Frau im Rahmen unserer soziokulturellen Ordnung verstanden werden kann".(17) Etwas pauschaler heißt es bei Hélène Cixous:

Kulturtheorie, Gesellschaftstheorie, sämtliche Symbolsysteme - Kunst, Religion, Familie, Sprache - überall macht die Analyse die gleichen Schemata sichtbar. [...] Allgemeines Kampffeld. Jedesmal wird ein Krieg ausgetragen. Der Tod ist immer am Werk.(18)

Die "Solidarität zwischen Logozentrismus und Phallozentrismus" müsse dadurch durchbrochen werden, daß die Stimme im Schreiben anwesend sein müsse, wodurch Sprechen und Schreiben "außer Atem" gebracht werde: Der Text 'keucht', er wird zum Schweigen gebracht und dann wieder durch "Schreie zerrissen", wodurch der "Schmerz" gezeigt werde, "den das mündliche Wortergreifen der Frau auslöst".(19) Diejenige, die dies praktiziert hätte, sei die Hysterikerin, die "'Herrin' der Signifikanten".(20) Daraus resultiert bei Irigaray eine doppelte 'Mimesis' der Hysterie: erstens die parodistische Reproduktion männlicher Weiblichkeitszuschreibung als Mimikry und zweitens die Mimesis als 'Produktion', als Archäologie des 'Weiblichen'. Die Theatertexte Jelineks bieten also erstens die Montage von 'phallozentrischen' Ideologemen und Phrasen, zweitens den Versuch einer Archäologie und Rekonstruktion weiblichen Sprechens und drittens den Konflikt dieser Mimesis-Verfahren als Kollision von (weiblicher) Stimme und (männlichem) Text.

In einer Regieanweisung im Sportstück wird die Usurpation weiblichen Sprechens durch männliches Denken und Sprechen denn auch szenisch vorgeführt: "Die Texte, die folgen, werden von Männerstimmen irgendwie gesprochen [...], während die auf der Bühne Anwesenden", zu denen auch die Figur "Die Frau" zählt, "die Lippen synchron dazu bewegen oder auch nicht" (17).

Das Vorführen von medialen, vorfabrizierten Wirklichkeitsmustern, das Hans-Thies Lehmann als ein Charakteristikum des "postdramatischen Theaters" ansieht, findet sich in Form der 'hysterischen' Mimikry von Diskursen und Gesten aus der patriarchalischen und kapitalistischen (und kleinbürgerlichen) Geschichte auch bei Jelinek, doch zugleich sperrt sich Jelinek partiell gegen diese Theatertradition. Lehmann sah als Wendepunkt die Jahre um 1980 an, in denen ein 'doppelter Distanzierungsschub' stattgefunden habe: "von der politischen Aussage im engeren, von der dramatischen Literatur im weiteren Sinn".(21) Gerade dies ist bei Jelinek nicht der Fall: Sie wendet sich gegen die Entpolitisierung kultureller Praxis und feministischer Theorie, und auch die radikale Wendung zu Happening und Performance vollzieht sie nicht mit, sondern kommentiert diese kritisch, während sie solche formalen Mittel zugleich benutzt. Jelinek setzt die szenischen und literarischen Mittel der Avantgarde ein, und zugleich sind ihr die Vereinnahmung dieser Mittel als beliebige Spielelemente der Postmoderne und Popkultur bewußt, so daß sie den kritischen Impetus des 'Avantgardistischen' eher durch die textliche-diskursive Ebene als durch das leicht zu vereinnahmende Theatralische zu erhalten sucht. So vermerkte Franz Norbert Mennemeier mit nostalgisch-hochkulturellem Gestus, aber in der Sache richtig:

Die sogenannte Postmoderne ist zum Teil dadurch gekennzeichnet, daß sie revolutionäre Errungenschaften der historischen Avantgarde handhabbar, populär und am Ende billig macht. [...] Vor allem in der speziell entfesselten Warenästhetik der Musik- und Videoclips [...] wird die unersättliche Libido des Konsumenten [...] mit Hilfe jener "chocs" aufgestachelt, die [...] Charles Baudelaire als ein Nicht-Gewöhnliches, Besonderes auszumachen bestrebt war.(22)

Während im weiten Bereich der "postdramatischen Theatralität" gerade der Körper, das Gestische, Mimische und der Raum eine Dominanz gegenüber dem als 'logozentrisch' gescholtenen Diskurs einnehmen, vollzieht sich hier also eine gegenläufige Bewegung. Wenn Linda DeMerrit über Ein Sportstück vermerkt, "Jelinek's theatre is non-theatrical"(23), so trifft dies zu, da der Text einen anti-theatralischen Impetus besitzt, doch bedeutsamer dürfte die bewußt eingesetzte Spannung zwischen Drama und Theater in Richtung einer Aufwertung des 'Dramatischen' sein. Der Schauspieler verkörpert also keine Personen und Figuren, sondern wird zur Sprechmaschine und zum Sprachrohr von Diskursen: "Jelineks Theatersprache löst sich vom konkreten Schauspiel-Aussagekörper ab".(24) Und entsprechend äußerte Jelinek: "Ich will kein Theater"(25) oder auch:

Nicht eine Person oder sechs Personen suchen einen Autor, sondern das Sprechen sucht eine Hülle. [...] Ich will dem Theater das Leben austreiben. Ich will kein Theater. [...] Der Zuschauer soll auf der Bühne nicht sehen, was er hört. Die Disparatheit von Gebärde, Bild und Sprache öffnet die Möglichkeit des freien Assoziierens. Ich setze nicht Rollen gegeneinander, sondern Sprachflächen.(26)

Damit entläßt sie den Körper des Schauspielers aus der Pflicht zur Verkörperung, so daß sein mimisch-gestisches Spiel als autonome Ebene neben dem Sprechtext verläuft. Die "Disparatheit" der theatralischen Ebenen zählt zu den Eigenschaften des "postdramatischen Theaters", doch intendiert Jelinek, den Text als Moment des ästhetischen Widerstands gegen eine inhaltslose Theatralität einzusetzen. Wenn sie "kein Theater" will, bedeutet diese umgangssprachlich gewählte Formulierung, daß jeglicher Unterhaltungswert vermieden werden soll, aber sie bedeutet keinen völligen Verzicht auf 'Inszenierungen'. Auch wenn dies Brechts Verteidigung der 'kulinarischen' Momente im Theater teilweise widerspricht, stehen diese Äußerungen dennoch Brecht näher als zum Beispiel den Traditionen, die an Antonin Artaud anknüpfen, nur daß bei Jelineks besonders medienkritischeren Variante im Vergleich zu Brecht eine größere Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit 'sinnlicher Erkenntnis' zu besteht. Die Wirklichkeit wird als derart durch patriarchale und mediale Diskurse und Bilder geprägt vorgeführt, daß Jelinek die 'hysterische' Mimikry als einzige Methode zur Destruktion solcher Fertigteile des Bewußtsein praktiziert. Die Überwindung dieser kritisch-reproduktiven Mimikry zeichnet sich allein auf der Ebene der Form ab, da das Drama als Widerstand gegen die Institution Theater explizit bezeichnet und eingesetzt wird. Daraus resultiert eine geradezu anachronistische Dominanz des Texts, die aus der Beibehaltung eines marxistisch-feministischen Deutungsrahmens in Kombination mit einem künstlerischen und politischen Avantgardekonzept resultiert.

© Ingo Breuer (Köln)

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NOTES

(1) Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen: Niemeyer, 1997 (Theatron; 22). S. 5 und S. 7. Vgl. auch Matthias Müller: Zwischen Theater und Literatur. Notizen zur Lage einer heiklen Gattung. In: Deutsches Drama der 80er Jahre. Hg. von Richard Weber. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1992. S. 399-430, hier S. 407-412.

(2) Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren, 1999. S. 420.

(3) Elfriede Jelinek: Stecken, Stab und Stangl. Eine Handarbeit - Raststätte oder Sie machens alle - Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt, 1997. Nach dieser Ausgabe in diesen Kapitel die Seitenzahlen (in Klammern) im Text. Das Stück Stecken, Stab und Stangl erschien zuerst 1995 und wurde 1996 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt. Für die neueren Stücke existiert noch kaum Sekundärliteratur. Grundsätzlich orientiere ich mich vor allem an der Darstellung von Marlies Janz: Elfriede Jelinek. Stuttgart: Metzler, 1995. - Siehe auch: Maja Sibylle Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek. Tübingen, Basel: Francke, 1996 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater; 15). - Anette Doll: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek. Eine Untersuchung ihrer literarischen Intentionen. Stuttgart: M und P Verlag für Wissenschaft und Forschung, 1994. - Allyson Fiddler: Rewriting Reality. An Introduction to Elfriede Jelinek. Oxford (UK), Providence (USA): Berg, 1994. - Corina Caduff: Ich gedeihe inmitten von Seuchen. Elfriede Jelinek - Theatertexte. Bern u.a.: Lang, 1991.

(4) Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Reinbek: Rowohlt, 1989. Nach dieser Ausgabe im folgenden die Seitenzahlen (in Klammern) im Text.

(5) Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral. In: Ders.: Werke. Hg. von Karl Schlechta. Sonderausgabe nach der 5. Auflage 1966. 5 Bände. München: Carl Hanser, 1980. Band IV, S. 761-900, hier S. 802 (II.3).

(6) Franz Norbert Mennemeier: Montage und Menschenbild: Brecht, Benn, Jelinek. In: Montage in Theater und Film. Hg. von Horst Fritz. Tübingen, Basel: Francke, 1993 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater; 8). S. 53-82, hier S. 75 und S. 80.

(7) Theodor W. Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen. In: Ders.: Noten zur Literatur. 4. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1989. S. 281-321, hier S. 304. Allerdings sollte es zu denken geben, daß es sich für Adorno "um jenes Schweigen" handele, das "schon im Shakespeareschen Beginn des neueren Trauerspiels als Rest definiert war." Damit verliert dieses "Schweigen" bei Adorno die vermeintliche Qualität einer spezifischen ästhetischen Antwort auf Auschwitz und wird zu einer grundsätzlichen Eigenschaft neuzeitlicher Literatur.

(8)Zur Bedeutung dieses Hefts der Zeitschrift Alternative siehe auch Sigrid Weigel: 'Frauenliteratur' - Literatur von Frauen. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von Rolf Grimminger. Band 12: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. München, Wien: Hanser, 1992 und München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1992. S. 245-276, hier S. 251f.

(9) Nur hingewiesen sei auf die Tatsache, daß bereits in Clara S. der Sport als Bestandteil einer zerstörerischen techno- und phallokratischen Ordnung eine Rolle spielt, und an die Gegenüberstellung von Noras gebändigtem, gymnastischem und Evas hysterisch-mänadischem Tanz in Jelineks Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte.

(10) Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutungen (1955). 34.-38. Tausend (1. Auflage 1984). Reinbek: Rowohlt, 1992 (Rowohlts Enzyklopädie; 404). S. 219 und S. 221.

(11) Jelinek: Ein Sportstück (a.a.O.), S. 168, Regieanweisung auf S. 167.

(12) Jelinek: Ein Sportstück (a.a.O.), S. 169.

(13) Jutta Osinski: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt, 1998. S. 157.

(14) Catherine Clément: Hexe und Hysterikerin. In: Alternative 19 (1976), Heft 108/109, S. 148-154, hier S. 150. Vgl. zu den Hysteriekonzepten in der feministischen Theorie vor allem Lena Lindhoff: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart: Metzler, 1995 (Sammlung Metzler; 285). S. 122-178. Vgl. weiters Marianne Schuller: Im Unterschied. Lesen, Korrespondieren, Adressieren. Frankfurt/Main: Neue Kritik, 1990. S. 13-45 und S. 81-94.

(15) Elfriede Jelinek: Theaterstücke. Hg. von Ute Nyssen. Köln: Prometh, 1984. S. 54.

(16) Luce Irigaray: Neuer Körper, neue Imagination. Interview mit Martine Storti. In: Alternative 19 (1976), Heft 108/109, S. 123-126, hier S. 126.

(17) Ebd.

(18) Hélène Cixous: Schreiben, Feminität, Veränderung. In: Alternative 19 (1976), Heft 108/109, S. 134-147, hier S. 135f.

(19) Cixous: Schreiben, Feminität, Veränderung (a.a.O.), S. 143.

(20) Ebd., S. 145.

(21) Lehmann: Postdramatisches Theater (a.a.O.), S. 291.

(22) Mennemeier: Montage und Menschenbild (a.a.O.), S. 53.

(23) Linda DeMerrit: Text and Performance. The Drama of Elfriede Jelinek. URL: http://webpub.allegheny.edu/employee/l/ldemerit/jelineksport.htm (o.J., Zugriff am 13.09.2000).

(24) Corinna Caduff: Kreuzpunkt Körper: Die Inszenierungen des Leibes in Text und Theater. Zu den Theaterstücken von Elfriede Jelinek und Werner Schwab. In: Das Geschlecht der Künste. Hg. von Corinna Caduff und Sigrid Weigel. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 1996 (Literatur - Kultur - Geschlecht; 8). S. 154-174, hier S. 173.

(25) Elfriede Jelinek: Ich möchte seicht sein. In: Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Hg. von Christa Gürtler. Frankfurt/Main: Neue Kritik, 1990. S. 157-161, hier S. 157. Auch unter URL: http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/SEICHT.HTM (Zugriff am: 04.05.2001)

(25) Elfriede Jelinek: Ich will kein Theater - Ich will ein anderes Theater. In: Theater heute 1989, Heft 8, S. 30ff., hier S. 31f.


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