Kulturwissenschaften und Europa
Cultural Collaboratory
Naoji Kimura: Japan – das Europa im Fernen Osten?
 
  
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Nach dem Zweiten Weltkrieg soll man im Westen vielfach vom Abendland gesprochen haben. Es war sicherlich eine Rückbestinnung auf die jahrhundertealte Tradition des sogenannten christlichen Abendlandes. Im Jahre 1931 hatte Theodor Haecker im Gegensatz zur faustischen Vorstellung eines Oswald Spengler auf Vergil als den Vater des Abendlandes hingewiesen. Im März 1945 entwarf Hermann Broch zwar in Amerika ein visionäres Bild vom Tod des Vergil, das aber im Laufe der Nachkriegsjahre, besonders nach der Adenauer-Ära, zusehends durch das Bild des auferstehenden, jedoch nicht mehr religiös betonten Europas ersetzt werden sollte. In der Tat entstand 1957 der Gemeinsame Markt in Europa oder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, und diese hat sich über die Europäische Gemeinschaft bis zur Europäischen Union mit dem Euro entwickelt.

Heutzutage scheint Europa zumindest geographisch ein scharf umrissener Begriff zu sein, wird es doch in den Wetterberichten des Westens meist eindeutig abgebildet. So umfaßt Europa in einer Brüsseler Tageszeitung Britische Inseln, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Niederlande, Mitteleuropa, Osteuropa, Portugal, Skandinavien, Spanien, die Türkei und die Schweiz. Es wird dabei von Afrika, Asien, Ozeanien und Amerika abgegrenzt. Dieses Europa entspricht also genau dem mittelalterlichen Weltbild, wie es sich vom Orient bis zum Okzident erstreckt. Aber abgesehen davon, daß es darüber hinaus ein geschichtlicher Begriff ist, sollte man seine geographische Lage als solche überprüfen, um zu begreifen, wie problematisch es sich im technisch-globalen Zeitalter erweist. Denn die britischen Inseln distanzieren sich seit jeher vom Kontinentaleuropa, während Mittel- und Osteuropa zum Osten hin weit offen sind. Außerdem beginnt Asien faktisch mit dem Orient, d.h. mit dem Nahosten und reicht über Indien bis zum Fernen Osten einschließlich Japans. Versteht man unter dem Kontinent im ursprünglichen Sinne das zusammenhängende Land, so kann man eigentlich Europa und Asien nicht voneinander trennen. Bekanntlich verband die sogenannte Seidenstraße Europa und Asien seit dem hellenistischen Zeitalter, und der gegenseitige mannigfaltige Kulturaustausch zwischen Ost und West hat auf diese Weise seit Jahrhunderten stattgefunden. Im Verlauf der Geschichte haben sich allerdings nicht nur verbindende wie der Aristotelismus, sondern auch trennende Faktoren wie der Islam oder die Kreuzzüge ergeben, die es anderswo näher zu analysieren gilt.

Im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise müßte man wohl vom komparatistischen Gesichtspunkt aus etwa drei charakteristische Faktoren ins Auge fassen, um Japan in einem analogen Sinne als das Europa im Fernen Osten bezeichnen zu können. Es sind räumliche, zeitliche und sprachliche Elemente, die Japan veranlaßt haben, sich in der Neuzeit mehr dem Westen als dem Osten zuzuwenden.

Die grundlegende Voraussetzung dafür ist, daß die Japaner sich das ganze Mittelalter hindurch die chinesische Klassik angeeignet haben, wie es die Europäer bei den alten Griechen und Römern taten. Es versteht sich von selbst, daß man sich gründlich mit der chinesischen Kultur beschäftigt haben muß, bevor man eine allgemeine Kulturtheorie aufstellt. Sonst kennt man nur die westliche Hälfte der Menschheit, falls man Amerika und Australien aus praktischen Gründen dem Europa zurechnet und Afrika trotz eines Augustinus kulturell nicht genügend beachtet.

1. Japan war wie Großbritannien lange ein Inselreich. Deshalb konnte es bei allen kulturellen Einflüssen aus China seine Selbständigkeit relativ gut bewahren. Durch die Insellage konnte es denn auch seine nationale Identität aufrechterhalten, als die Modernisierung weltweit in Form der Europäisierung einsetzte. Das Eigene wurde nicht durch das Fremde überlagert, und das Fremde wurde auch nicht zurückgewiesen, zumal das Christentum beider Konfessionen die einheimischen Religionen und somit altes Brauchtum nicht verdrängen konnte.

2. Japan ist wie Deutschland als eine verspätete Nation anzusehen. Vor der Meiji-Restauration im Jahre 1868 war es innenpolitisch 250 Jahre lang nach außen hin hermetisch abgeschlossen und zeigte in der Gesellschaftsstruktur widerstrebende Tendenzen auf. Diese Ambivalenz bestand einerseits in der Bestrebung, an dem mittelalterlichen Feudalsystem festzuhalten, und andererseits in der bürgerlichen Aufgeschlossenheit, die anglo-amerikanische Demokratie im Zuge der Französischen Revolution nach Möglichkeit einzuführen. Japans Fehltritte in der Außenpolitik sind letzten Endes auf die anachronistische Nachahmung des europäischen Imperialismus zurückzuführen.

3. Nach der Meiji-Restauration wandte sich Japan bewußt dem Westen zu, der ihm sowohl jenseits des Pazifischen Ozeans in Amerika als auch über den asiatischen Kontinent hinweg vor allem in Deutschland, Frankreich und England zu finden war. Freilich war die Sprachbarriere sehr hoch. Aber schon während der langwierigen Landesabschließung hatte man sich bemüht, mittels der einzig zugelassenen Fremdsprache Niederländisch europäische Medizin und Naturwissenschaft zu studieren. Später studierte man mit den englischen, französischen und nicht zuletzt deutschen Sprachkenntnissen fleißig alle Wissenszweige der westlichen Kultur. Nach dem Zweiten Weltkrieg lernen grundsätzlich alle Japaner auf der Mittel- und Oberschule mindestens sechs Jahre lang Englisch. Neuerdings beherrschen sie auch zu einem guten Teil die Computersprache und kommunizieren im Internet.

Durch diese Umstände sieht das japanische Gesellschaftsleben äußerlich sehr europäisch aus, obwohl die Privatsphäre im Familienleben immer noch japanisch ausgeprägt ist. Ihre Mentalität wie auch Denkweise sind trotz des großen anglo-amerikanischen Einflusses doch nicht ganz europäisiert worden. Es ist die Technik, die die Menschheit äußerlich vereinheitlicht, und solange sie europäischen Ursprungs ist, könnte man Japan vielleicht das Europa im Fernen Osten nennen.
 

Naoji Kimura (Tokio)
 
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