Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Dezember 2002

Technologie und Zeit

Jorge Bauer [BIO] und Alfredo Bauer [BIO] (Buenos Aires)

 

Immer stärker fühlen wir, dass Themen, die scheinbar in getrennte Felder fallen, enger zusammenhängen und dass sie inhaltlich miteinander in Verbindung gebracht werden müssen. Technologie und Zeit sind in diesem Sinne ""große, mehrdimensionale Begriffe", deren gegenseitige Beziehungen verstanden werden sollen.

Seit Einstein sind im Rahmen der wissenschaftlichen Physik die Begriffe Raum, Masse und Zeit fest miteinander verbunden; man kann sie nicht getrennt behandeln, sondern jede Größe nur in Hinblick auf die anderen.

Die "offizielle Story" mit der bei unserem Studium vor nicht allzu vielen Jahren die erste Annäherung an diese Thematik startete, erzählt, dass der junge Einstein solch einen einheitlichen Zusammenhang fand, als er sich fragte, was man darunter versteht, wenn man sagt, zwei Ereignisse fänden gleichzeitig statt. Was bedeutet Gleichzeitigkeit für zwei Beobachter, wenn sie sich an verschiedenen Orten befinden und dazu noch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit unterwegs sind? Zum Beispiel, erklärte er, einer fährt in der Eisenbahn und der andere spaziert auf dem Bahnsteig umher. Wie wollen sie überhaupt feststellen und sich darüber verständigen, ob sie "gleichzeitig" dieselbe Meldung in einer Zeitung lesen und sich darüber ärgern?

Wenn wir heute als Einleitung zum Unterricht einer weiterhin transzendenten Thematik - der Relativitäts-Theorie - dieselbe Situation darstellen, würde uns jedes Kind sagen, dass "der Mann im Zug und der Mann am Bahnsteig sich doch mit ihren Mobil-Telefonen miteinander unterhalten und gemeinsam über die Nachricht ärgern könnten."

Das Verhältnis Raum, Masse, Zeit und die nicht leicht verständliche Gleichung, die Energie, Masse und Licht-Geschwindigkeit verbindet -

E = m * c2

- sind sicher deshalb berühmt, weil sie die Grundlage für all die Kern-Energie-Projekte und Atombomben geworden sind, die uns heute viel mehr Kopfzerbrechen als Erleichterungen schaffen.

Im platten Sinne kann es bei Technologie anscheinend nur eine einzige Gleichzeitigkeit geben. Das Auffallende besteht darin, dass dies in der Lebenspraxis allzu oft nicht zutrifft. Aus welchem Grund? Sicher weil die Ereignisse nicht nur in Raum und Zeit, sondern auch durch ihre kulturellen Kontexte bestimmt sind.

Bei vielem, was zur selben Zeit in der Geschichte stattfand, kam den Betroffenen eine solche Gleichzeitigkeit überhaupt nicht zur Kenntnis. Zwei Ereignisse, die die Entwicklung der Menschheit entscheidend bestimmten, fanden im selben Monat, in derselben Woche statt. Martin Luther weigerte sich auf dem Reichtag zu Worms im April 1521, seine Behauptungen zu widerrufen. Hernando de Magalhäs, der durch seine Weltumsegelung den praktischen Beweis für die Kugelgestalt der Erde erbrachte, wurde zur selben Zeit auf den Philippinen von Eingeborenen umgebracht. Ganz gewiss wussten die von beiden Ereignissen Betroffenen nichts voneinander.

Heute hingegen spüren wir, wie sich geographische Distanzen verkürzen. Immer schnellere Transport-Mittel und Informations-Übertragungen verbinden die Welt und ändern drastisch unsere Lebensweise. Millionen Menschen, die in verschiedenen Erdteilen leben, stehen durch das Computernetz, das es vor sehr kurzer Zeit noch gar nicht gab bzw. das höchstens einer Gruppe von Spezialisten zur Verfügung stand, miteinander in Verbindung. Dieser radikale Wandel bedeutet nicht nur eine quantitative, sondern eine grundlegend qualitative Veränderung. Diese gehetzte technologische Entwicklung wird uns in Zukunft gewiss immer mehr überraschen und verstören. Technologische Entwicklungen bestimmen nicht nur, wie produziert und gearbeitet wird, sondern im Grunde auch immer mehr, wie gelebt und wie - heute und in Zukunft - unsere Welt aussehen wird.

Beziehungen zwischen Technologien, ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft und ihren Einfluss auf gegebene Asymmetrien können wir anhand zahlreicher konkreter Beispiele darstellen, speziell im Verhältnis zu den sogenannten "neuen Technologien" - der Mikroelektronik, der Daten-Verarbeitung oder der Biogenetik. Versuchen möchten wir es heute mit Lebens-Situationen im Bereich der Technologie des "Recycling" (der Wiederverwertung). Paradigma des Technologen bei einer Themen-Auswahl ist die rationelle Begründung; heute möchten wir jedoch mit voller Absicht aus rein "emotionellen" Gründen eine komplexe Situation im Verhältnis zur " nachhaltigen Entwicklung " zu schildern versuchen.

Bilder, die wir in unserem lieben Buenos Aires tagtäglich zu sehen bekommen, berühren uns immer schmerzlicher. In unserem Land, das mit Recht den Ruf hat, die Kornkammer der Welt zu sein, das schon heute zehnmal mehr Menschen ernährt als die Zahl seiner Bewohner ausmacht, leiden 50 Prozent seiner Bevölkerung, d.h. 15 Millionen, buchstäblich Hunger, und der Unterernährungs-Index der Kinder erreicht eine Höhe, die vor drei oder vier Jahrzehnten noch unvorstellbar war. Gras, Erde, Wurzeln und anderes Unverdauliche wird von Kindern verschlungen, nur um etwas in den Magen zu bekommen..

Was ist geschehen? Keineswegs waren Natur-Katastrophen, an denen der Mensch unschuldig ist, die Ursache dieses schmerzlichen Phänomens. Die Bevölkerungszahl Argentiniens hat sich praktisch in den letzten Jahrzehnten nicht erhöht. Und neue Technologien haben die Erzeugung von Nahrungsmitteln (Getreide, Soja, Fleisch, Milch, Obst u.a.) gewaltig gesteigert. Ebenso erfolgte eine bedeutende Produktivitätserhöhung in der Industrie und bei den Dienstleistungen. Diese Verbesserungen hatten jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung keine positive Auswirkung. Der Verlust von Arbeitsplätzen sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie und in den Dienstleistungen erhöhten die Asymmetrien auf dramatische Weise.

"Cartoneros" (Altpapiersammler): so bezeichnet die Volkskultur Tausende Männer, Frauen und Kinder, die täglich im Stadtzentrums die Abfall-Behälter nach Karton, Papier, Metall und oft genug auch nach Essbarem durchsuchen. Der "Cartonero" ist vielleicht das Gegenstück zum Massenkonsum; wobei immer zahlreichere Dinge hergestellt und verbraucht werden, in immer kürzerer Zeit verwendbar bleiben, weil sie sich schneller abnützen oder überholt sind. Der "Cartonero", das Urbild der Primitivität, koexistiert und konkurriert in Buenos Aires mit hochmodernen, technifizierten Unternehmen für Müllabfuhr und Recycling, die eine Flotte von Lastwagen, automatischen Kehr-Maschinen und Logistik mit drahtloser Daten-Verarbeitung besitzen.

Wir sind weit davon entfernt, in eine antitechnologische Einstellung von der Art der Maschinen-Stürmer des 19. Jahrhunderts. zu verfallen, können auch einen "modernen Francis Bacon Nachfolger" nicht wiedersprechen, wenn er äußert, dass Technologie und Wissenschaft den Menschen das Leben verlängert, den Schmerz mildert, Krankheiten heilt, die Fruchtbarkeit des Boden steigert, den Seemann neue Werkzeuge zur Verfügung stellte, die Kräfte der Muskeln erhöhte, die Distanzen verkleinerte usw. Wir fragen uns nur immer wieder, als Technologen und als Menschen, was es bedeutet, eine "Welt an sich" in eine "Welt für uns" zu verwandeln; und zugleich auch, was unter "für uns" und was unter "wir" zu verstehen ist. Das Beunruhigende besteht darin, dass die Technologie die Asymmetrie nicht nur vermindern, sondern auch gewaltig bzw. gewaltsam steigern kann.

Etliche Philosophen des 18., 19., und 20. Jahrhunderts haben darauf hingewiesen, dass der Ablauf der Geschichte zwar keiner "Bestimmung" unterliegt, wohl aber sich unter gewissen "Bedingungen" vollzieht.. Unser menschlicher Beitrag sollte darin bestehen, innerhalb der gegebenen Umstände die zivilisierteste Variante in Technologie und Kultur zu fördern

Wir haben uns in obigen Sätzen mehrmals auf Wissenschaft und Technologie bezogen, ohne von beiden Begriffen eine Definition vorzulegen. Begriffsdefinitionen von "Technologie" sind in der Literatur sehr häufig zu finden und es fällt nicht leicht, bei einem so vielschichtigen Konzept eine kurze, sinnreiche hervorzuheben. Vielleicht können wir jedoch andeuten, dass hinsichtlich der Beziehung Wissenschaft/Technologie bei "Technologie" das "Gewusst wie"(Know-how) hervorgehoben ist, bei "Wissenschaft" hingegen das "Gewusst warum"/weshalb" (Know-why) - also wie die Dinge sind und warum sie so sind. Erinnert sei an Isaac Asimows Satz: "Am Anfang war die Neugier."

Bei Technologie ist der Grundgedanke das Know-how im Sinne von "Wissen angewendet auf praktische Zwecke" (knowledge applied to practical purpose). Technologie-Entwicklung und Technologie-Einsatz läuft heute unter der Methodologie der "ständigen Verbesserung" im Rahmen des herrschenden Qualitätsparadigmas. Technologie wird in erster Linie auf das "Gewusst wie" in der Herstellung von greifbaren Produkten (Waschmaschine, Auto, Flugzeug, Computer, Mobiltelefon usw.) angewendet, das heißt: auf harte Gegenstände = "harte Technologie", die indirekt die Lebensweise und Kultur beeinflussen. Immer steigende, direkte Auswirkungen sind in den Effekten der sogenannten "weichen Technologien" (Management, Qualität, Kommunikation, Simulation - Virtualität, u.a.) zu erkennen.

Wenn wir Technologie unter dem Begriff des "Gewusst wie" als systematische und übertragungsfähige Kenntnisse mit Anwendung auf praktische Zwecke verstehen, ist es vielleicht auch denkbar, über eine "Technologie des Friedens" zu sprechen, als kollektive Herausarbeitung und Systematisierung der Elemente für die Verwirklichung und Verbreitung einer "Culture of Peace". Kultur des Friedens, wie es in zahlreichen Dokumenten des INST und der UNESCO zum Ausdruck kommt, "nicht nur negativ als Abwesenheit von Krieg, sondern positiv als aktive Form des Zusammenlebens" im Kleinen und im weltausgedehnten Dorf.

Als Techniker, Technologe und Technologie-Lehrer identifizieren wir uns mit dem Satz der argentinischen Epistemologin und Philosophin Esther Diaz: "Ich kann Technologie-Wissenschaft auch in ihren Grundlagen nicht losgelöst von Körpern, von Wünschen, von der Macht, von der Ethik, von Frauen und Männern begreifen."

© Jorge Bauer und Alfredo Bauer (Buenos Aires)

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LITERATURHINWEISE

Arlt, Herbert: Kulturwissenschaft - transdisziplinär, transnational, online. Zu 5 Jahren INST-Arbeit und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschungen. 2., überarb. u. erw. Aufl. St. Ingbert: Röhrig, 2001.

Diaz, Esther (editora): La Posciencia, El conocimiento Cientifico en las postrimería de la modernidad (Die Wissenschaftlichen Kenntnisse in den letzten Jahre der Modernität). Buenos Aires: Editorial Biblos, 2000.

Ciapuscio, Hector P.: El Fuego de Prometeo - Tecnología y Sociedad (Das Feuer des Prometeus - Technologie und Gesellschaft). Argentinien: 1994.

Ferraro, Ricardo A. y Lerch, Carlos: Que es que en tecnología? (Was ist Was in Technologie?). Ediciones Granica, S.A., 2001.

Bauer, Jorge: Escritos para "Mesa Redonda Debate: Robotica y derechos humanos, el derecho a un trabajo digno,dignamente remunerado" (Schreiben zur Rundtisch-Debatte zum Thema: Robotik und Menschenrechte, das Recht auf eine anständige Arbeit, und einen würdigen Arbeitslohn). Archiv des Verfassers.

Fischer, Ernst Peter : Aristoteles, Einstein und Co. Eine kleine Geschichte der Wissenschaft in Porträts. Piper, 2000.

Diario Clarin 24.11.2002: La maldita paradoja del granero del mundo. (Die verdammte Wiedersinnigkeit der Kornkammer der Welt).


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Jorge Bauer und Alfredo Bauer (Buenos Aires): Technologie und Zeit. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/bauer14.htm.

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