Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. September 2005

Gemeinsame Ziele – unterschiedliche Wege?

Über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der deutsch-russischen Zusammenarbeit

 

Olga Rösch (Technische Fachhochschule Wildau)
[BIO]

 

„Weil die kulturellen Normen der sie umgebenden Gesellschaft allgemein anerkannt werden,
vergessen die Menschen oft, daß ihre Regeln willkürlich gesetzt sind.
Leicht verwechselt man kulturelle Normalität mit ethnozentrischer Überlegenheit.

Wenn Menschen aus verschiedenen Kulturen interagieren,
können auf vielen Ebenen Mißverständnisse entstehen.“

Robert Levine (2002:142)

1.  Über die Ziele
2.  Über „kulturell gepflasterte“ Wege
2.1   Zum Zeitgefühl
2.2   Hierarchien und Prestigedenken
2.3   Beziehungsorientierung und Kollektivismus
3.   Institutionelle Zusammenarbeit
4.   Schlussbemerkung

 

1. Über die Ziele

Das 21. Jahrhundert hat für die deutsch-russischen Beziehungen gut begonnen. Die Bemühungen auf beiden Seiten nach den Erschütterungen des 20. Jahrhunderts (Revolutionen, Erster und Zweiter Weltkrieg, Grenzverschiebungen, Kalter Krieg und Politische Wende), wieder zur Normalität in der Kommunikation zwischen Russland und Deutschland zu finden, mündeten u.a. in einer gemeinsamen Einrichtung, dem Petersburger Dialog im Jahre 2001. Der Königswinterer Konferenz, die seit 1945 Deutsche und Engländer näher brachte, nachgebildet, versteht sich der Petersburger Dialog als ein Forum für den Gedankenaustausch zwischen Deutschland und Russland und ist ein lohnender Versuch zur kulturellen Verständigung. Zweifelsohne geht es hier um gemeinsame Intentionen: Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur mit dem Ziel, die Entwicklung durch Austausch zu fördern. Freilich liegen unsere Ziele und Ambitionen, vor allem im politischen bzw. kulturpolitischen Bereich nicht wirklich gleich. So wäre hier z. B. die nicht gelingen wollende Enttabuisierung des Problems der sogenannten „Beutekunst“ ein Beleg dafür, ganz zu schweigen von der trennenden militärischen Bündniszugehörigkeit.

Da es hier nicht um größere politische Zusammenhänge geht, sondern um Zielsetzungen im kleineren Rahmen, z. B. Aufbau eines gemeinsamen Wirtschaftsunternehmens oder einer Hochschulkooperation, Planung und Durchführung eines Projektes oder Konzipierung einer Veranstaltungsreihe für Kulturaustausch – so kann davon ausgegangen werden, dass beide ein funktionierendes deutsch-russisches Gefüge anstreben, um materielle Gewinne, wissenschaftliche Erkenntnisse oder kulturelle Bereicherung zu erzielen. Welche Wege gehen wir nun, um gemeinsame Ziele zu erreichen?

In vielen Diskussionen zwischen Deutschen und Russen wird oft behauptet, dass Deutsche und Russen sich so gut kennen würden wie keine anderen Völker, da die Beziehungen seit vielen Jahrhunderten sehr intensiv gewesen wären. Als „Wissen“ wird oft das jeweilige Fremdbild aufgefasst, das zu Prognosen für fremdes Verhalten verleitet. Kennen wir die Wege des Anderen aber wirklich? Im thematischen Rahmen der Konferenz „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ liegt es nahe, vor allem die kulturelle Verankerung des jeweiligen Zeitgefühls bei Deutschen und Russen zu behandeln und einige andere Aspekte der kulturellen Unterschiede – hier allerdings nur punktuell – anzuschneiden.

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2. Über „kulturell gepflasterte“ Wege nach oben

2.1. Zum Zeitgefühl

Vor mehr als 60 Jahren ermittelte der bekannte US-amerikanische Anthropologe Edward T. Hall einige Schlüsselelemente der Kultur, darunter auch das Verständnis von Zeit . Als eine Beschreibungsgröße ermöglicht sie, einige Grundmuster in den Verhaltensweisen von Menschen aus verschiedenen Kulturen zu erklären. Nach der Grundeinstellung zur Zeit unterschied Hall (1985:23ff) monochrone und polychrone Zeitsysteme, d. h. Systeme, in denen die Zeit eingeteilt oder zerteilt wird. Für Menschen, die vom monochronen Zeitgefühl geprägt sind, gilt als typisch, dass sie eins nach dem anderen tun, zeitliche Verpflichtungen (Termine, Zeitpläne usw.) ernst nehmen, auf Pünktlichkeit großen Wert legen, dafür aber wenig flexibel sind, Dienst und privat klar trennen, sich stark mit ihrer Arbeit identifizieren und die persönliche Sphäre des Anderen wahren. Für polychrones Verhalten der Menschen ist dagegen charakteristisch viele Dinge gleichzeitig zu tun, zeitlichen Verpflichtungen und Pünktlichkeit keine so große Bedeutung beizumessen, leicht Pläne umzustoßen und auch im Geschäftsbereich den zwischenmenschlichen Beziehungen eine hohe Priorität einzuräumen. Die Zusammenarbeit zwischen Menschen, die bei ihrer Tätigkeit aufgrund des jeweils anderen Zeitgefühls und daraus resultierenden Verhaltensweisen so unterschiedlich Prioritäten setzen, sei für beide Seiten mit „nervlichem Streߓ verbunden, resümiert Hall (vgl. ebd. S. 34).

Diese wohlbekannte und vielzitierte Unterscheidung in polychrone und monochrone Verhaltensweise passt beinahe lehrbuchmäßig auf den Umgang mit der Zeit bei Russen und Deutschen. So wird aus deutscher Perspektive immer wieder festgestellt, dass für Russen Zeit und Pünktlichkeit recht „dehnbare Begriffe“ wären und Termine bzw. Verabredungen keine Verbindlichkeiten darstellten (vgl. z. B. Baumgart/Jänecke, 1997:148ff, Löwe, 1997:189, Rothlauf, 1999:338f). Vor dem Hintergrund des Kulturvergleiches vor allem mit Deutschen reflektieren die Russen durchaus selbstkritisch über den differierenden Umgang mit der Zeit (Nabokova, 1998:145, Beljanko/Truschina, 1994:19). Die Deutschen dagegen, in ihrem monochronen Zeitgefühl gefangen, strukturieren streng die nahe und ferne Zukunft in Form von Zeitplänen, die unbedingt einzuhalten wären. So gelten die Deutschen in Russland seit alters her als pünktlich, zuverlässig und ordnungsliebend. Das (positive) Selbstbild der Deutschen in Bezug auf diese Eigenschaften weist hier weitgehende Übereinstimmung mit dem Bild der Deutschen bei den Russen auf. (vgl. ebd. und Rösch, 1998:61f, Nabokova, 1998:142f, v. Kursell, 2000:228) Auch auf der deutschen Seite trifft man oft auf selbstreflektierende Äußerungen zur eigenen Unflexibilität. Obwohl Selbst- und Fremdeinschätzungen in der Regel stark von einander abweichen, bleiben in der deutsch-russischen Kommunikationsgeschichte diese Charakteristiken über Jahrhunderte erstaunlich stabil. Dies vermittelt wahrscheinlich auf beiden Seiten den Eindruck, man kenne einander bereits viel zu gut.

Der jeweils unterschiedliche Umgang mit der Zeit äußert sich u. a. im Ablauf der Arbeitsbesprechungen: die deutsche Seite möchte ziemlich schnell „zur Sache kommen“, eine Entscheidung treffen, neue Termine festlegen und das Thema „abhaken“. Der „private Teil“ des Kontaktes wird hier ausgelagert. Aufgrund dieser Vorstellung kommt den Deutschen das Gesprächsverhalten der russischen Seite als sehr schwach strukturiert vor. In der deutschen Wahrnehmung reden die Russen viel wortreicher, holen weit aus, kommen nur auf langen Umwegen auf den Punkt, wiederholen sich oft und können nicht so schnell Entscheidungen treffen.

Im Vergleich der beiden Kulturen erscheint das polychrone Zeitgefühl für Russen und das monochrone für die Deutschen insofern als typisch. An Berichten aus der Praxis der Zusammenarbeit, über die „Reibungen“ und den „Stress“ auf beiden Seiten mangelt es nicht. Diese tiefenstrukturellen mentalen Programmierungen manifestieren sich auf der wahrnehmbaren Oberfläche, dem Verhalten, das von dem in der eigenen Kultur „Selbstverständlichen“ abweicht. Die fremdkulturellen Verhaltensweisen werden in die vertrauten Deutungsmuster „übersetzt“ und vom Standpunkt der eigenen Kultur (eher als defizitär) interpretiert. So werden z. B. in der Darstellung der Russen die Deutschen als berechnend und perfektionistisch, beschrieben, als stur „im Sinne von Engstirnigkeit und Beschränktheit“ beschimpft, was allerdings nach Meinung von Frenklin (1995:25f) keine Beleidigung, sondern „nur eine gewisse Gereiztheit“ ausdrücke. Die Russen werden von Deutschen dagegen als unberechenbar, unorganisiert und faul charakterisiert (vgl. v. Kursell: 2000:233).

Somit ist nicht nur das differierende Zeitgefühl ein Erschwernis in der bikulturellen Zusammenarbeit, sondern auch die jeweils ethnozentrische Interpretation des daraus resultierenden fremden Verhaltens. Die Zuschreibungen von Eigenschaften sorgen stets für diverse Irritationen und Missstimmungen. Das ist mit der Grund dafür, dass sich diese wenig erfreuliche Begleiterscheinung der interkulturellen Kontaktsituationen zu einem Untersuchungsgegenstand der Vorurteils-, Fremdbilder- bzw. Stereotypenforschung entwickelten. Den zahlreichen Fachpublikationen zu dieser Thematik ist zu entnehmen, dass die ethnischen Stereotype allzu oft unreflektiert als kulturelle Eigenheit des Anderen dargestellt und gehandhabt oder als Vorurteile gegeißelt, negiert, widerlegt usw. werden. Als ein kurioses Beispiel für die „Widerlegung“ der negativen Vorurteile könnte die Überschrift eines deutschen Zeitungsartikels über eine russische Baustelle vor dem Kreml verstanden werden : “Die Russen schuften rund um die Uhr, niemand säuft“ .

Die von der stereotypen Vorstellung geleitete Erwartung an das Verhalten des Anderen kann also bei Nichtübereinstimmung Irritationen verursachen. So kommt es nicht selten zu Situationen, in der sich die russischen Partner an der „deutschen Pünktlichkeit“ orientieren und auf zeitiges Erscheinen bei Verabredungen besonders achten. Die deutsche Seite rechnet dagegen damit, dass bei Russen „nicht so genau auf die Uhr geguckt wird“ und lässt sich Zeit. So erscheinen die „unorganisierten“ Russen zur Besprechung vorzeitig und die „pünktlichen“ Deutschen mit Verspätung. Auf der russischen Seite stellen sich Enttäuschung und auf der deutschen das Gefühl der Peinlichkeit ein. Allerdings die Stereotype für Konflikte verantwortlich zu machen wäre verkehrt.

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2.2. Hierarchien und Prestigedenken

Für die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Russen ist es wichtig festzuhalten, dass in beiden Kulturen eine unterschiedliche Akzeptanz von Hierarchien herrscht. Dies geht nicht nur auf die ca. 70 Jahre der Sowjetdiktatur zurück, wie es in der Literatur (vgl. z. B. Yoosefi/Thomas, 2003:33) oft dargestellt wird, sondern auch auf eine tiefere kulturelle Prägung in Bezug auf die Hofstedesche Kulturdimension Machtdistanz: In Russland werden die Hierarchien nach außen gelebt, die Mächtigeren sind mit Privilegien ausgestattet, die Macht konzentriert sich in wenigen Händen und diese Machtverteilung wird als die Voraussetzung für die Ordnung weitgehend akzeptiert und sogar gewünscht (der bekannte Ruf in Russland nach einer „starken Hand“ im Kreml). Die hohe Machtdistanz in einer Kultur ergibt bzw. begünstigt eine zentralistische Organisation des Staates. In Deutschland haben wir es mit flacheren Hierarchien zu tun, die eher als funktionale Rollenverteilung gesehen werden. In der Konsequenz entsteht hierzulande eine breitere Verteilung der Zuständigkeit bzw. der Verantwortung. Im größeren Rahmen ist es das föderalistische Aufbauprinzip des deutschen Staates, der aus dieser Mentalität bzw. kulturellen Prägung erwächst.

In der deutsch-russischen Zusammenarbeit erweisen sich diese unterschiedlichen Prägungen dann als störend, wenn z. B. Verhandlungen geführt und Entscheidungen getroffen werden müssen. Letztere werden in Russland eher „von oben“ getroffen, ohne die Mitarbeiter in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Dies ist auch mit ein Grund für die häufig fehlende (und von der deutschen Seite auch beklagte) Eigeninitiative und Eigenverantwortung der russischen Kollegen. Die deutschen Mitarbeiter sind mit mehr Kompetenzen in ihrem Zuständigkeitsbereich ausgestattet als die Mitarbeiter der entsprechenden Ebene auf der russischen Seite. (Man vergleiche nur den Aufgabenbereich eines deutschen und russischen Sachbearbeiters!) Aufgrund der ungleichen Entscheidungsbefugnisse auf der Arbeitsebene laufen die Verhandlungen mit Russen oft „ins Leere“, wenn der oberste Chef nicht anwesend ist.

Die stärkere Hierarchisierung der Arbeitswelt in Russland als Folge der vergleichsweise hohen Machtsdistanz äußert sich auf der Arbeitsebene auch in dem von deutschen Gepflogenheiten differierenden Umgang mit der Kritik. Verbesserungsvorschläge „nach oben“ – mögen sie noch so konstruktiv formuliert sein – werden in Russland als Affront verstanden und deshalb gemieden. Und die Kritik „nach unten“ hat das Signal einer Bestrafung und wird meistens ziemlich passiv, ohne Widerspruch (jedenfalls in der Öffentlichkeit) erduldet. Denn es ist in Russland ein allgemein anerkanntes „Privileg“ eines Chefs, die Mitarbeiter zu loben oder zu rügen, ohne sich dabei Mühe geben zu müssen, den Ursachen von Fehlverhalten auf den Grund zu gehen. Die Hierarchie in den Beziehungen manifestiert sich im Russischen sprachlich auch im Anredeverhalten: So gilt es als kein Verstoß gegen gutes Benehmen, wenn ein Chef seinen Mitarbeiter per Du anredet und zur Antwort ein Sie erwartet (vgl. Rösch, 1996).

In diesem Zusammenhang soll noch erwähnt werden, dass in Russland mit einem anderen Typ von Chef gerechnet werden muss. Der russische Chef wird im Unterschied zu einem deutschen die Distanz zu den Mitarbeitern viel deutlicher zeigen, einen autoritäreren Stil pflegen, sich Statussymbole wie teures Auto, persönlichen Fahrer, sehr großes Arbeitszimmer, Luxusartikel usw. zulegen und diese auch zur Schau stellen. Dies alles gehört in Russland obligatorisch zum Image eines Chefs und signalisiert Macht bzw. Einfluss, was an sich schon Respekt von anderen abverlangt. Man muss in Russland „nicht nur der Chef sein, sondern ihn auch spielen“, stellen Yoosefi/Thomas richtig fest (2003:56). So hat ein deutscher Chef vom gleichen Rang nicht selten Schwierigkeiten in Russland, richtig eingeordnet zu werden und erleidet oft mangels entsprechenden Machtgehabes Ansehensverlust. Auch der in Deutschland gewohnte konsultative Führungsstil und demokratische Habitus, der eher auf Nivellierung von hierarchischen Strukturen abzielt, führt bei Russen zu Irritationen in Bezug auf das Rollenspiel „Chef – Untergebener“.

Das russische Konzept der Rolle ‚Chef' enthält gegenüber dem Mitarbeiter einige moralisch gebilligte „Sanktionen“, die in Deutschland eher als „Entgleisung“ gewertet werden würden. So dient z. B. die öffentliche Kritik an einem Untergebenen im ruppigen Ton und ohne Rücksicht auf dessen Würde der Stärkung der eigenen Autorität und gilt weitgehend als Nachweis für die Bemühung, „Ordnung im Laden“ zu schaffen. Beispielhaft war ein gemeinsamer Auftritt von Boris Jelzin als Präsident Russlands und Viktor Tschernomyrdin als Ministerpräsident im russischen Fernsehen im Jahre 1998. Nach einer abermals fehlgeschlagenen Aktion, die Wirtschaft des Landes in kurzer Zeit aus der Notlage zu führen, wurde Tschernomyrdin öffentlich zur Verantwortung gezogen, und zwar durch eine Art „Spektakel“: In der eingespielten Filmsequenz lief Jelzin laut tadelnd und wutschnaubend in einem der riesigen, prunkvollen Zimmer des Kremlpalastes auf und ab während Tschernomyrdin stillschweigend in der Pose eines schlechten Schülers einsam am riesigen Tisch saß und den „Reuigen“ spielte. Die Szene sollte dem durch Krisen geplagten russischen Volk signalisieren, der Präsident habe die Lage im Griff und arbeite an der Beseitigung der Missstände.

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2.3 Beziehungsorientierung und Kollektivismus

Auch die kollektivistische Prägung der russischen Gesellschaft ist mit ein Grund dafür, dass die Kritik, die die deutsche Seite an der Sache übt, auf der russischen Seite als Kritik an der Person, bzw. „an den Russen“ verstanden wird. Im Unterschied zu individualistischen Kulturen, zu der Deutschland gehört, steht bei Russen die Beziehungsebene auch im Geschäftsbereich im Vordergrund. Dienst und privat gehen für das russische Empfinden schlecht zu trennen. Die bei uns verpönte „Vetternwirtschaft“ ist dort eine logische Folge der kulturell bedingten Prioritätensetzung: die Verwandten und Bekannten genießen auch im Geschäftsbereich Vorzug. Die zwischenmenschlichen Beziehungen haben in Russland grundsätzlich einen höheren Stellenwert als bei uns. Sie müssen bei neuer Bekanntschaft schnell geklärt sein, sie müssen aber auch stimmen, oder es gibt zu schnell Feindschaften. Freundschaften werden ebenfalls schnell geschlossen und der Übergang zur Du-Form gilt ohne jede Absprache als Zeichen der Zuneigung (vgl. Rösch, 1996). Das Zeigen von Gefühlen gehört in Russland zu kommunikativen Konventionen. So erscheinen die Russen in der deutschen Wahrnehmung als kontaktfreudig, gastfreundlich und leidenschaftlich. In der Wahrnehmung der Russen werden die Deutschen dagegen als zurückhaltend, distanziert und gefühllos empfunden. Und dabei leben wir nur im Wertesystem einer individualistischen Gesellschaft!

Dem kollektivistischen Komment der „face-to-face“- Gesellschaft folgend erwarten die russischen Geschäftsleute von der deutschen Seite mehr körperlich-physische Präsenz in den gemeinsamen Vorhaben, da die Geschäftsabläufe in Russland viel stärker als in Deutschland personengebunden sind. Die Erfahrung, dass die Wege einer nach deutscher Vorstellung geordneten Zusammenarbeit in Russland (besonders in der Provinz) zu keinen durchschlagenden Erfolgen führen, wenn man in die Beziehungen nicht investiert, bewegt die deutsche Seite früher oder später dazu, den persönlichen Kontakt zu intensivieren.

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3. Institutionelle Zusammenarbeit

Die Arbeitsorganisation ist immer ein Ausdruck der jeweiligen Mentalität. Und wenn die „Ordnung der Dinge“ nicht übereinstimmt, so bereitet uns dieser Zustand Schwierigkeiten, zumindest am Anfang. Diese beginnen mit der strukturellen Nichtübereinstimmung: So findet z. B. ein deutscher Unternehmer in Russland ein unkompatibles Rechtssystem vor. Das betrifft vor allem das Wirtschaftsrecht, das Recht auf Grund und Boden, das Kreditsystem u.a. Auch die Struktur der Industrie mit ihren großen Kombinaten, die z. T. noch von der Nomenklatur gesteuert werden, erweist sich als hemmend. Eine unergründliche Verteilung der Verantwortung (Machtstrukturen), und eine unbekannte Qualifizierung des Personals (Welches Wissen und Können kann man von einem dort studierten Fachmann erwarten?), nicht nachvollziehbare Kommunikationskanäle für die Informationsübermittlung, undurchschaubare Verwaltungsstrukturen auf der kommunalen und regionalen Ebene, eine andere (als die deutsche), unberechenbare Bürokratie – das alles zusammen macht die Kooperation mit Russen schwierig, d. h. aus deutscher Sicht sind die Rahmenbedingungen in Russland „nicht optimal“.

Während eine gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen Personen aus unterschiedlichen Kulturen zur Entwicklung einer Inter-Kultur führt, d. h. zu einem Team, dessen Mitglieder einen hohen Grad an kultureller Sensibilität und Handlungskompetenz entwickeln, bleibt die Kontaktanbahnung und Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Institutionen ein aufwändiges Unterfangen. Als eine bekannte Form der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern ist hier auch die Hochschulkooperation zu nennen, die ebenfalls eine Form der institutionellen Zusammenarbeit darstellt. Im Unterschied zu Geschäftsbeziehungen in der Wirtschaft mit dem permanenten zeitlichen und finanziellen Druck bei fest terminierten Projekten, bieten die äußeren Bedingungen einer Hochschulkooperation einen unvergleichbar günstigeren Rahmen für eine konfliktarme Zusammenarbeit. Dennoch sorgen die jeweiligen kulturellen Prägungen für einige Missverständnisse. Im Folgenden soll vor dem Hintergrund der besprochenen kulturellen Differenzen zwischen Deutschen und Russen nur auf einige Momente der deutsch-russischen institutionellen Zusammenarbeit eingegangen werden. Angesprochen werden vor allem einige „Selbstverständlichkeiten“ auf beiden Seiten, die für die andere Seite zumindest erklärungsbedürftig sind.

Die Spezifik der Arbeitsweise von Institutionen in beiden Ländern soll unbedingt beachtet werden. Im Unterschied zu Russland verläuft in Deutschland die Kommunikation zwischen den Institutionen (besonders die schriftliche) in wesentlich geregelteren Bahnen, die Verwaltungsvorgänge bzw. Amtswege sind generell eindeutiger definiert und im geringeren Maße von Personen abhängig. Der Stellenwert der Papiere (Verträge, Abmachungen, Gesprächsnotizen) ist in Russland mit dem in Deutschland wenig vergleichbar. Die jeweiligen Konventionen haben jedoch ihre Berechtigung im eigenen Lande. Sie sind Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung und in gewisser Weise Ausdruck der Mentalität. In der Zusammenarbeit zwischen Institutionen aus verschiedenen Kulturen kommt es zur Nichtübereinstimmung zunächst in den Erwartungen an die Partner.

Auf die Problematik der unterschiedlichen Einstellung zur institutionellen Kooperation in den deutsch-russischen Hochschulkooperationen verweist Rathmayr (1999) in ihrer Untersuchung zum kulturspezifischen Hintergrund der Argumentationen. Es ist in interkulturellen Interaktionen nämlich sehr oft der Fall, dass (besonders in einer Konfliktsituation) die Argumente einer Seite von der anderen nicht verstanden werden, weil sie auf unterschiedliche Schlusspräsuppositionen, d. h. kollektiv vorausgesetzte Überzeugungen zurückgehen, die nur in einer dieser Kulturen ihre Geltung haben. Die Schlusspräsuppositionen können auf der „sprachlichen Oberfläche“ auch als Redensarten und Sprichwörter formuliert sein. Rathmayr kam in ihrer Analyse eines Falles einer nicht gut gelungenen russisch-österreichischen Hochschulkooperation zu folgenden Feststellungen:

Die russische Seite geht offenbar von der allgemeinen Überzeugung aus: „Wenn es eine funktionierende institutionelle Arbeit geben soll, muss es gute persönliche Kontakte geben.“ „Zusammenarbeit wird nur dann funktionieren, wenn sich die Verantwortlichen regelmäßig treffen.“ (vgl. Rathmayr, 1999:157). Bei der Klärung der unbefriedigenden Situation stütz t en sich die russischen Partner auf das Sprichwort: «Лучше один раз увидеть, чем сто раз услышать» ( = Lieber einmal sehen, als hundertmal hören) . Aus österreichischer Sicht gebe es dazu „keinerlei diesbezügliche Notwendigkeit“, meint Rathmayr. Mehr noch, diese Voraussetzung erscheine österreichischen Partnern „mehr als fragwürdig“. Denn in Österreich (wie auch in Deutschland) seien „institutionelle Abläufe in viel geringerem Maße personengebunden“ (vgl. ebd. S. 157). Ein Brief, Fax, e-mail oder Anruf genügen, um Probleme zu besprechen.

Die Schlüsse, die Rathmayr aus der Analyse mehrerer interkultureller Gesprächs- bzw. Verhandlungssituationen zieht, sind folgende: Die Kooperationspartner müssen sich darüber in Klaren sein, dass die Argumentation „vor dem Hintergrund gemeinsam anerkannten Wissens“ funktioniert (vgl. ebd. S. 165). Da dieser Wissensbestand von Kultur zu Kultur differiert, müssen die Partner bemüht sein, die Schlusspräsuppositionen explizit zu machen, um Informationsdefizite auf beiden Seiten auszugleichen und Gründe für unterschiedliche Bewertungen des Problems aufzuzeigen.

Die unterschiedlichen Haltungen und Erwartungen in der Frage der institutionellen Kooperation hängen vielfach mit dem unterschiedlichen Stellenwert der persönlichen Beziehung im Geschäftsleben zusammen. Wie bereits oben erwähnt wird in der russischen Kultur als einer im Vergleich zur deutschen kollektivistischen dem persönlichen Kontakt ein wesentlich höheres Gewicht beigemessen. In Deutschland ist dagegen die Trennung der Dienst- und Privatsphäre im Vergleich zu Russland sehr stark ausgeprägt. Dies gehört ebenfalls zur Hintergrundinformation, über die die Kooperationspartner verfügen sollten.

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4. Schlussbemerkungen

Für die Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Russen ist die Kenntnis über die unterschiedliche mentale Programmierung in Bezug auf Zeitgefühl, Machtdistanz und Kollektivismus eine durchaus brauchbare Information. Der Vergleich zweier Kulturen hinsichtlich der Arbeitsorganisation beantwortet allerdings die Frage nach der „besseren“ Arbeitseffizienz der einen oder der anderen Seite noch lange nicht. Zum Ziel kann man auf unterschiedlichen Wegen gelangen, allerdings ist der gemeinsame Weg eher steinig. Es ist eher davon auszugehen, dass die Vertreter einer bestimmten Kultur in ihrer eigenen Kultur viel effizienter sind als in einer Fremden. Die Wahrnehmungen des Anderen in der interkulturellen Kontaktsituation hat bekanntlich nur bedingt mit Objektivität, Wahrheit und Richtigkeit zu tun. Es ist immer unsere „kulturelle Brille“, mit der wir die Welt und den kulturell Fremden sehen.


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Anmerkungen:

1. Hall, Edward T.: „The Silent Language“, Westport/Conn, 1959. Es wird nach deutscher Textvariante von 1985 (s. Literaturverzeichnis) zitiert.

2. Der Begriff Termin kann auf der sprachlichen Ebene auch als Ausdruck eines kulturspezifischen Umgangs mit der Zeit in der russischen und der deutschen Kultur betrachtet werden. Ein entsprechendes Wort existiert im Russischen nicht und kann je nach Kontext unterschiedlich übersetzt werden. Das ist eine - vom Deutschen aus gesehen - lexikalische Lakune, d.h. eine Lücke im Wortschatz.

3. Der Begriff wird von Geert Hofstede gebraucht in: „Interkulturelle Zusammenarbeit: Kulturen – Organisationen – Management“, Gabler Verlag, 1993, S. 18ff.

4. s. z.B. Rösch, Olga (Hrg.) (2000): „Stereotypisierung des Fremden. ...“

5. zitiert nach R. Loew /A. Pfeifer (2000:249): „Zur Bestätigung und ‚Entkräftung' von Stereotypen ...“

6. Die Begriffe Machtdistanz, Kollektivismus und Individualismus werden hier als Kulturdimensionen im Sinne von G. Hofstede (1993) gebraucht.

 

Literatur:

Baumgart, Annette/Jänecke, Bianka (1997): „Russlandknigge“ , R. Oldenbourg Verlag München Wien 1997, 252 S.

Frenklin, Anatolij (1995): „Die Deutschen aus russischer Sicht“, Mitschka Verlag, Leinfelden-Echtedingen, 1995, 216 S.

Hall, Edward T., Hall, Mildred R.: „Verborgene Signale. Über den Umgang mit Japanern“ , Hamburg 1985.

Hofstede, Geert : „Interkulturelle Zusammenarbeit: Kulturen – Organisationen – Management“, Gabler Verlag, 1993, 328 S.

Kursel, Gregor v .: „Respekt, Überheblichkeit und Klischees – Wie Deutsche und Russen einander sehen. Erfahrungen aus dem interkulturellen Training und dem Geschäftsalltag“, in: Rösch, Olga (Hrg.) „Stereotypisierung des Fremden. Auswirkungen in der Kommunikation“ Wildauer Schriftenreihe Interkulturelle Kommunikation Band 4., Verlag News&Media Berlin 2000, S. 223-242.

Levine, Robert : „Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen“ Pieper Verlag, München 2002, 8. Auflage, 320 S.

Loew, Roswitha/ Pfeifer, Anke (2000:249): „Zur Bestätigung und ‚Entkräftung' von Stereotypen in deutschen Pressetexten über Russen und Polen“ , in: Rösch, O. (Hrg.) „Stereotypisierung des Fremden. Auswirkungen in der Kommunikation“. Wildauer Schriftenreihe Interkulturelle Kommunikation Band 4., Verlag News&Media Berlin 2000, S. 243-258.

Löwe, Barbara (2002): „Kulturschock Russland“ , Reise Know –How Verlag Peter Rumpf, Osnabrück, 2002, 264 S.

Nabokova, Natascha (1998): „Probleme der deutsch-russischen Kommunikation auf Messen in Moskau“ , in: Rösch, O. (Hrg): Interkulturelle Kommunikation in Geschäftsbeziehungen zwischen Russen und Deutschen. Wildauer Schriftenreihe Interkulturelle Kommunikation, Bd. 1. Verlag News&Media 1998. S. 141-148.

Rathmayr, Renate (1999): „Der kulturspezifische Hintergrund im institutionsgebundenen Diskurs: russisch-deutsche Argumentation“. In: Geißner,H./ Herbig,A.F./ Wessela,E. (Hrsg.)Wirtschaftskommunikation in Europa. Business Communication in Europe. Attikon Verlag Tostedt, Beiträge zur Wirtschaftskommunikation Bd. 18, 1999, S. 149 – 170.

Rösch, Olga (1996): "Anredeformen im Russischen: soziale Domänen und soziale Bedeutungen" , in: Fremdsprachenunterricht. Die Zeitschrift für das Lehren und Lernen fremder Sprachen. Berlin, 1996/4, S. 292-297.

Rösch, Olga (1998): „Mit Stereotypen leben? Wie Deutsche und Russen sich heute sehen“ , in: Rösch, O. (Hrg): Interkulturelle Kommunikation in Geschäftsbeziehungen zwischen Russen und Deutschen. Wildauer Schriftenreihe Interkulturelle Kommunikation, Bd. 1. Verlag News&Media 1998. S. 141-148.

Rösch, Olga (Hrg.) (2000): „Stereotypisierung des Fremden. Auswirkungen in der Kommunikation“ , Wildauer Schriftenreihe Interkulturelle Kommunikation Band 4, Verlag News&Media Berlin, 2000.

Rothlauf, Jürgen (1999): „Interkulturelles Management“ , R. Oldenbourg Verlag München Wien 1999, 430 S.

Yoosefi, Tatjana /Thomas, Alexander : „Beruflich in Russland. Trainingsprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte“ , Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2003, 133 S.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Olga Rösch (Wildau, Deutschland): Gemeinsame Ziele – unterschiedliche Wege? Über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der deutsch-russischen Zusammenarbeit. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/roesch14.htm.


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