Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

4.1. In/visible communities at and across borders
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Klaus-Jürgen Hermanik (Graz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


BERSISA und FAUST

Zeki Cemil Arda (Gazi Universität Ankara)
[BIO]

 

Einleitung

Ich möchte meinen Beitrag nicht mit einem Lobgesang für uns selbst, sondern mit einer Nachricht eines Auslandskorrespondenten beginnen, der die Annäherungen und Eindrücke des Publikums im Ausland über die Türken und die Türkei zum Ausdruck bringt:

"Während wir mit unserer adeligen und breiten Herkunft, gerechten und vertrauenswürdigen Menschen in unserem Land, das die Wiege der Zivilisationen ist, und ohne Unterschied der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion und Glaube zu machen, und nach dem Prinzip 'Freiheit im Lande, Freiheit in der Welt' auf einem Gebiet voller aufgewühlten Ereignisse jahrhundertelang unser Leben führten, wie bekommen die Menschen ausserhalb unseres Mutterlandes Informationen über die Türken und die Türkei überhaupt? Erhalten sie sie aus historischen Büchern, Dokumentarprodukten, touristischen Reisen, aus künstlerischen und kulturellen Veranstaltungen oder aus Zeitungen und Zeitschriften? Sie erhalten sie aus Filmproduktionen von Hollywood, welche übelgesinnt, von Rachsucht erfüllt, Groll hegend und mit sensationellen Ereignissen gefüllt sind."(1)

Also die globalen Kommunikationsmittel und Medienprodukte sind heute für sie die alleinige und einzige Informationsquelle über die Türkei und die Türken. Die Prinzipien und Ziele der Globalisierung sollten eigentlich den Menschen dieses einzigen Planeten die Möglichkeit bieten, um sich einander näherzubringen und zusammen ein glückliches, friedliches Leben zu führen. Aber ganz im Gegenteil üben die Filme und Fernsehprodukte in den Händen der Herrschaften ihre Funktion manipulativ aus. Wie traurig ist es, heute zu sehen, dass die Medien bei den Menschen sowohl gute wie auch böse Eindrücke erwecken. Roman- und Drehbuchautoren sowie Dramatiker können nicht mehr ganz objektiv sein und nicht mehr die 'Identität der Aufrichtigkeit' tragen, weil manche leicht manipulierbar sind und die Menschen nach ihrer persönlichen Lebensanschauung und dem subjektiven Gefühl schildern.

Warum wurde die Türkei heute gemeinsame Zielscheibe der Separatisten? Ein Land, das Tausende von Jahren 27 verschiedene Zivilisationen und Kulturen verbunden und ihnen Behausung geschaffen hat, und heute allen die Möglichkeit bietet, in Gerechtigkeit, Sicherheit und Vertrautheit, ohne Unterscheidung der Rasse, Religion und Sprache mit- und nebeneinander zu leben. Warum gibt es keine verbindende Initiative, dieses Land mit seiner reichen Kulturvielfalt an Europa anzuschließen? Die Literatur von heute übt leider nicht mehr die ehemalige Funktion aus, die Kulturen zu verknüpfen, wie damals die vom Orient mit jener vom Abendland. Warum existiert heute kein verbindender Geist und keine humanistische Annäherung im Sinne Goethes?

 

Die literarischen Beispiele Bersisa und Faust

Vor einigen hundert Jahren übten Schriftsteller, Prediger bzw. Theologen und Künstler, aber auch Politiker die verbindende Funktionen unter den Völkern und Kulturen aus. Hier möchte ich Beispiele aus der Geschichte geben: Zwei Schriftsteller und Denker, einer aus dem Abendland und der andere aus dem Orient bzw. der Türkei, Johann Wolfgang von Goethe und Sultan Veled, der älteste Sohn des berühmten Mystikers Mevlana Celalettin-i Rumi. Beide haben das gleiche Motiv, den gleichen Stoff in ihren Werken bearbeitet. Anders gesagt, beide haben die Kulturen der Völker im Orient und im Abendland mit ihren Werken verbunden. Es handelt sich hier um eine Motiv- und Stoffwanderung vom Orient nach Europa.

Die geografische, historische und kulturelle Bedeutung der Türkei gilt heute noch und soll mit sämtlichen bunten Kulturen in Zukunft als Vermittler zwischen drei Kontinenten fortdauern. Die türkische Kultur, die zuvor schon in Beziehungen mit China, Indien und Persien Erfahrungen gesammelt hatte, fasste im Jahre 1071 in Anatolien und dann in Thrazien bzw. im Balkangebiet Fuss. Dadurch lernte die türkische Nation das kulturelle Erbe der Zivilisationen in Anatolien und am Balkan kennen und schuf daraus eine neue Kultursubstanz, weil die Türken Verbindendes in ihrer Mentalität haben, das sie mit fremden Kulturen leichter und aufrichtiger umgehen ließ. Diese neue Kultursubstanz trug den Namen Osmanische Zivilisation, die fast 700 Jahre überdauerte. Dabei hatten die Osmanen die Gelegenheit, die Kulturen und Zivilisationen europäischer Länder aus der Nähe kennenzulernen.

Goethe hatte umgekehrt die Gelegenheit, die Kultur und Zivilisation des türkischen Reiches und des Orients kennenzulernen. Darüber gibt es genügend Informationen in der europäischen Literatur. Unter dem gegenseitigen Austausch von beiden Kulturen schrieb er seinen 'West-Östlichen Divan' (1819) und den 'Faust' (1808), und dadurch verbindet er die Kulturen des Abendlandes mit denen des Orients. Das gemeinsame Thema über das 'Bündnis mit dem Teufel' wird in der Szene 'Prolog im Himmel' des 'Faust I' von Goethe dargestellt, die eigentlich vier Heiligen Schriften (Thora, Psalter, Evangelium und Koran) gemeinsam ist. Die berühmte Figur des Dr. Faustus der europäischen Literatur existierte schon vorher in der orientalischen mystischen Literatur mit anderen Namen: Bersisa. Dieses Motiv wanderte durch bzw. über die türkische Literatur nach Westen in die europäische mystische und später in die weltliche Literatur ein.(2) Die Literatur sowie die Kulturgüter kennen keine politischen Grenzen und sie üben immer eine verbindende Funktion aus.

Man weiss nicht genau, wo die eigentlichen Wurzeln von Goethes Faust liegen bzw. wer zuerst den Faust-Stoff behandelt hat. Der in Wolfenbüttel abgefasste Text wurde im Predigtstil geschrieben. Johann Spies hatte 'Faust' zum ersten Mal gedruckt und veröffentlicht. Er erklärte sein Ziel mit folgenden Worte: " ... dass ich dieselbige als ein schrecklich Exempel des Teuffelischen Betrugs, Leibs und Seelen Mords, allen Christen zur Warnung, durch den öffentlichen Druck publicieren und fürstellen wollte."(3)

In den literarischen Werken zielt man öfters auf eine lehrhafte Wirkung. Die Figur Faust in der europäischen Literatur und die von Bersisa in der orientalischen Literatur dienen dem gleichen Zweck, der oben durch die Worte von Spies ausgedrückt ist: Ein Beispiel zu geben vom teuflichen Betrug.

 

Die Texte

Durch einen glücklichen Zufall fand ich im Jahre 1978 zwei Texte aus der türkischen mystischen Literatur, die ich nun vorstellen möchte, da darin Gemeinsamkeiten mit den europäischen Faust-Stoffen zu entdecken sind.

Mevlana Celalettin-i Rumi (Belh 1207 - Konya 1273), der bedeutenste Mystiker, Dichter und Denker sowie Gründer des Ordens Mevlevi (Tanzende Derwische) des l3. Jahrhunders im Orient war in der ganzen damaligen Welt sehr bekannt. Sein ältester Sohn Sultan Veled, eigentlich Bahaaddin Veled (Karaman 1226 - Karaman 1312) war als Sultan al-Ulema (Sultan der Gelehrten) bekannt. Er hat die Predigten von Mevlana und seine eigenen Gedanken im Buch 'Maarif' veröffentlicht.(4) Darin befindet sich ein Text mit dem Titel 'Alim ve Takva Sahibi Bersisa' (Wissenschaftler und Sufi).

Der zweite Text ist eine Predigt und trägt denselben Titel wie jener in Maarif. Abdullah Aydýn, Prediger und Koranlehrer in Istanbul, hat das Buch 'Nura Doðru'(5) veröffentlicht, das diese zweite und gleichsam neuere Version des Bersisa enthält. Sowohl in den Faust-Texten wie auch in den Bersisa-Texten bearbeitet man das gleiche Motiv: 'Das Bündnis mit dem Teufel' und die tragische Geschichte des vorbildlichen Wissenschaftlers zeigen vergleichsweise grosse Ähnlichkeiten.

Nun möchte ich die beiden oben genannten Bersisa-Texte vergleichend und in deutscher Übersetzung darstellen:

"Denn er war einer von den Ungläubigen (Koranvers 2,Teil32)(6). Genauso wie er war auch Bersisa unter den Kindern von Israel., Gottes Knecht und Gläubiger. Seine Frömmigkeit und Takva (Angst vor dem Sündenfall) verbreitete sich im Osten und im Westen. Aus allen Gebieten wurden ihmWasser zum Segnen geschickt, damit der Kranke es trinkt und geheilt wird."

Die Identität von Bersisa wird in der zweiten Version von Aydin detaillierter dargestellt:

"Damals war ein Mensch, namens Bersisa. Dieser Mann war ein Wissenschaftler ohnegleichen und er hatte einen guten Ruf in der Gegend und gleichzeitig war er ein frommer Mensch. Er hatte sich von der Gesellschaft und den Menschen zurückgezogen und lebte in einer Ecke seines Hauses. Er lehrte seine vor ihm niederkniende Hundertschaft von Schülern und nach dem Unterricht betete er zu Allah. Seine Frömmigkeit war ebenso vorbildlich in der Gegend, so dass die wissensdurstigen und frommen Leute ihn als Vorbild hatten, und sie versuchten ihn nachzuahmen".

Der vorbildliche Mensch Bersisa wird genauso wie Faust zur Zielscheibe des Teufels; in der ersten Version von Sultan Veled lautet es beispielsweise:

"Aber der vor Eifersucht blinde Teufel auf der Lauer kaute Eisen vor Gram und konnte keinen Ausweg finden. Eines Tages sagte er zu seinen Söhnen: 'Einer von euch kann mich von diesem Gram befreien!' Einer von seinen Söhnen sagte, indem er sich aufrichtete: 'Ich werde dich glücklich machen, indem ich Rache nehme.' Der Vater-Teufel sagte darauf: 'Dann würdest du mein geliebter Sohn und Licht meines blinden Auges sein'."

In der zweiten Version "entschließt sich der Teufel mit voller Kraft das Zentrum der Burg der Frömmigkeit anzugreifen und das heilige Licht im Herzen des Menschen auszulöschen."

Die Geschichte von Bersisa setzt mit dem Bündnis des Teufels fort, und die sowohl in Goethes 'Urfaust' und Faust dargestellten Folgen der Ereignisse liest man auch in dem Text von Sultan Veled:

Nach der mühseligen Suche fand der Teufelssohn die unbeschreiblich schöne Tochter eines Sultans. Der Teufelssohn gerät in den Kopf des Mädchens, machte sie verrückt und krank. Der Sultan rief all seine Ärzte und Philosophen zusammen. Keiner von denen konnte sie behandeln und heilen. Der Teufel kam in der Gestalt eines Geistlichen und sagte: 'Wenn Sie möchten, dass dieses Mädchen von dieser Krankheit befreit und geheilt wird, bringen Sie es zu Bersisa.' Bersisa betete. Der Teufel verließ das Mädchen; als das Mädchen wieder gesund war, blieb sie eine Weile dort bei dem Gläubigen. ... Schließlich entwickelte Bersisa Neigung zu dem Mädchen und liebte sie; sie wurde schwanger. Der Teufel kam in der Gestalt eines Menschen zu Bersisa. Er fand ihn nachdenklich und fragte: 'Warum bist du nachdenklich?' Bersisa erzählte ihm, was geschah. Der Teufel sagte: 'Du bringst das Mädchen um, und sagst, sie wäre gestorben und ich hätte sie begraben.' Der Teufel kam in der Gestalt eines anderen Menschen zu Sultan und sagte: 'Das Mädchen ist wieder gesund. Gehen Sie und holen Sie es'.

Die Geschichte von Bersisa endet bei Sultan Veled so:

In der Tat war sie wie eine giftige Schlange, die giftiger als die anderen Schlangen und Skorpione ist. Es gab dafür nur eine Strafe, ihn aufzuhängen. Er seufzte: 'O weh! Ein großer Galgen wurde aufgestellt und ein Strick wurde daran gebunden. Als die Schlinge um seinen Kopf war, erschien sofort der Teufel in seiner echten Gestalt und sagte: 'All diese Sachen habe ich mit Dir zusammen getan und ich habe immer noch einen Ausweg für Dich in der Hand - bete mich an, dann wirst Du erlöst.

In der zweiten Version von Aydin empfiehlt der Teufel, dass Bersisa eine grosse Sünde begehen sollte, damit er später insbrüstiger beten und sich bereuend erlösen liesse. Die Empfehlung des Teufels ist wie in Goethes Faust: Ein illegaler Verkehr mit einer Frau. Als Bersisa diesen Vorschlag des Teufels ablehnt, bietet er ihm an 'jemanden umzubringen'.Darauf antwortete Bersisa auch mit 'Nein'. Dann macht er ihm einen weiteren Vorschlag: 'Trink Alkohol!' Bersisa ist damit einverstanden. Sie gehen zusammen in eine Gaststube. Bersisa genießt Alkohol und wird betrunken. Dabei bemerkt er eine bildhübsche Frau, die ihm Alkohol verkauft. Unter der Wirkung des Alkohols verliebt er sich in die Frau und begeht die Sünde des Ehebruchs. Sie wird schwanger und Bersisa wird zum Tod verurteilt. Die Geschichte von Bersisa endet in beiden Texten mit dessen Hinrichtung. Er wird nicht 'erlöst'.

In Goethes Faust ist die Annäherung 'humanistisch' und Faust wird am Ende 'entschuldigt' und 'erlöst'. Man kann diese Rettung damit erklären, dass hier der Teufel der eigentlich Schuldtragende ist und nicht Dr. Faustus.

Goethe hatte wohl den Stoff des Urfaust mit grossem Interesse gelesen und sich daraufhin entschlossen, daraus ein Drama zu schaffen. Er könnte auch das orientalische Motiv schon gekannt haben. Das Volksbuch 'Doctor Faustus' wurde im Jahre l587 veröffentlicht. Man weiß wohl, dass der sogenannte Georg Faustus ('junior') zuvor im Jahre 1540 gestorben ist. Nach seinem Tode wurde seine Geschichte ein beliebter Stoff der europäischen Literatur.

Mevlana Celalettin-i Rumi (1207-1273) war zugleich der erste Lehrer seines Sohnes, Sultan Veled (1226-1312). Sultan Veled hat sein Buch Maarif in den Jahren 1284-1296 geschrieben. Er studierte in Damaskus arabische Sprache und Literatur und Islamwissenschaften. Er kannte daher auch die persische Literatur. In seinen Gedichten verwendete er mitunter auch griechische Wörter. Demnach ist das Buch 'Maarif' mit dem Bersisa-Stoff ca. 290-300 Jahre vor dem Erscheinen des Urfaust im Jahre 1587 veröffentlicht worden. Das Bersisa-Motiv und seine Geschichte als ein beliebter Stoff der türkisch-orientalischen Literatur soll über Griechenland nach Europa eingewandert sein. Damit verband es die Kulturen des Ostens mit jenen des Westens. Sultan Veled hatte außerdem viele Ordensschüler aus der ganzen damaligen islamischen Welt und er hatte Kontakte zu den zeitgenössischen Denkern, Mystikern und Philosophen, die den Bersisastoff und das -motiv als Kulturvermittler nach Europa weitergeleitet haben könnten. Nur der Name des Teufelbündners Bersisa wurde später geändert. Er wurde unter dem Namen Doktor Faustus in Europa bekannt. Wir erkennen hiermit in Sultan Veled und in Johann Wolfgang von Goethe die wichtigsten Verbinder der beiden Kulturen.

© Zeki Cemil Arda (Gazi Universität Ankara)


ANMERKUNGEN

(1) Dogan Uluc, Uyanin Beyler, In: Hürriyet vom 16.12.1990, S. 11.

(2) Robert Petsch (hrsg.), Das Volksbuch vom Doctor Faust, Max Niemeyer Verlag, Halle 1911, S. XI und XLIII.

(3) Das Volksbuch von Doktor Faust, Klett Verlag, Stuttgart 1981, S.8.

(4) Sultan Veled, Maarif, übersetzt: Meliha Anbarcioglu, Milli Egitim Bakanligi Yayinlari, Ankara 1966, S.162-167; siehe auch Handschr. Nr.3 MEB.;Vgl. Handschr.in Konya Musem Nr.149.

(5) Abdullah Aydin, Nura Dogru, 4.Aufl. Istanbul o.D.
Diese Predigt hörte ich in Yený Foca/Izmir im 1978. Vgl. Ferdinand Josef Schneider, Goethes 'Satyros' und der Urfaust ' Halle 1949; siehe Kur'an-ý Kerim, A'raf Suresi, Ayets 11-18.

(6) Dieser Text wurde zur Erläuterung des Wortes 'Ungläubiger' herangezogen. In: Koran, in Sure 2, der Vers 32 wird als Beispiel gegeben.


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Zeki Cemil Arda (Gazi Universität Ankara): BERSISA und FAUST. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_01/arda15.htm

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