Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

5.9. Austrian Writers and the Unifying Aspects of Cultures
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Donald G. Daviau (Riverside)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Un passeur de frontières: Hermann Bahr und Frankreich.

Annette Daigger (Saarbrücken) [BIO]

 

Als Hermann Bahr (19.7.1863-15.1.1934) seine Reise nach Paris 1888 antrat, ermaß er noch nicht, welch wichtigen Einfluss dieser Aufenthalt für ihn und die österreichische Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts spielen würde. "Paris" wurde, wie er sagte, "zur Entscheidung meines inneren Lebens".(1) Hermann Bahr, nun 25jährig, hatte nach einigen Fehlschlägen (Verweis aus den Universitäten Wien und Czernowitz wegen seines politischen Engagements für die Christlich-Sozialen um Karl Lueger und Ablehnung seiner Dissertation über Karl Marx mit dem Titel Die Entwicklung vom Individualismus zum Sozialismus nun das politische und wirtschaftliche Leben verlassen, um sich ganz dem Schöngeistigen zu widmen. Als er im November 1888 in Paris eintraf, wurde er sofort in den Bann dieser Metropole gezogen. Der französischen Sprache einigermaßen mächtig, tauchte er ohne große Probleme in den Alltag dieser Stadt ein. Von seinem Vater erhielt er eine kleine finanzielle Unterstützung, die ihm ein billiges Zimmer und ein Essen am Tag ermöglichte. Er wählte ein einfaches Hotel im Quartier Latin nahe der Sorbonne (31, Boulevard Saint Michel), und ging völlig in dieser Pariser Welt auf: Honoré de Balzac lesend trat er auf seinen Balkon und erlebte aus dieser Perspektive das Pulsieren des realen Lebens. Er beschreibt wie die letzten Grisetten im Morgengrau mit ihrem Korsett in der Hand, das sie zum Cancan abgelegt und nicht wieder angezogen hatten, den Wunsch nach Gefährten laut in der Nacht schallen ließen. Bahr, aus Berlin kommend, erlebte hier in dieser Stadt, die im Gegensatz zu Berlin schon seit Jahrhunderten Zentrum der europäischen Kultur war, die höchsten Gefühle: "Ich habe niemals im Leben mehr gefroren und mehr gehungert als damals in Paris und bin nie wieder so rein glücklich gewesen: jeden Tag, wenn ich erwachte, war ich von neuem wieder ganz trunken vor Seligkeit, in Paris zu sein".(2) Die Stadt offenbarte ihm nicht nur die Entdeckung der Sinnlichkeit, sondern bot ihm auch das Fundament seiner literarischen Tätigkeit. Der Brief vom 25.11.1888, an seinen Vater adressiert, enthält fünfmal die Feststellung "ich gewöhne mich"(3) und enthüllt einen jungen Mann, der sich ganz dem Rausch dieser Großstadt ergibt, einem Rausch mit fruchtbarer Konsequenz: "diese herrlichste Stadt der Welt, in der man immer die Stimmung zur Arbeit hat",(4) dies war für einen zahlenden Vater sicher sehr beruhigend! Die Art und Weise, wie Hermann Bahr sich in dieser kurzen Zeit die literarischen Strömungen der Zeit aneignete und reflektierte, zeigen seine Feinfühligkeit und seine Bereitschaft, auf alles Neue einzugehen. Unvoreingenommen trat er in das französische kulturelle Leben ein und ließ sich zu Wogen der Begeisterung für dieses Land, diese Nation hinreißen: "In jedem Franzosen nimmt, was er in Gedanken und Gefühlen von den Vorfahren, nimmt die Mitgift von geistiger Vergangenheit mehr inneren Raum ein, als was er persönlich aus sich macht; die Nation herrscht in ihm über das Individuum vor."(5) Er fand sich sehr schnell in diesem neuen geistigen Raum zurecht. Obwohl er innerhalb seines eigenen Landes eine sehr deutsche Haltung eingenommen hatte, erkannte er, dass diese französische Identität mit einem über Jahrhunderte gleich bleibenden Begriff von Nation Eigenschaften hervorgebracht hatte, die viele Fragen überflüssig machten. Er illustriert dies mit einem satirischen Beispiel: "Nun holt sich der Franzose sein Pferd aus dem Stall seiner großen Tradition, da steht es schon dressiert bereit; wir aber vergeuden das halbe Leben damit, unseren Gaul erst zuzureiten".(6) Es lag wohl an seiner journalistischen Begabung, dass er die Fähigkeit und Feinfühligkeit besaß, die verschiedenen literarischen Richtungen richtig einzuschätzen und sich für diejenigen zu begeistern, die eine Erneuerung des literarischen Lebens andeuteten. Zum Beispiel erreichte die Krise des Naturalismus ihren Höhepunkt und gehörte zu den literarischen Debatten der damaligen Zeit in Frankreich. Sie schlug sich in der bahnbrechenden Schrift Bahrs Die Überwindung des Naturalismus nieder (1891). Obwohl der Naturalismus um 1890 in Frankreich als die beherrschende literarische Strömung erschien, hatte er heftige Gegner, unter denen sich Barbey d'Aurevilly in vorderster Linie befand. In einem Manifest "Le Manifeste des cinq contre la terre" in der Tageszeitung le Figaro von 18. August 1887 wurde Emile Zola wegen seines Romans La Terre heftig angegriffen und sogar als obszön dargestellt. Die fünf Urheber des Manifests waren Schüler Emile Zolas (Paul Bonnetain, J. H. Rosny, Lucien Descaves, Paul Marguerite und Gustave Guiches). Dem Naturalismus wurde von ihnen vorgeworfen, sich von der Linie der Realität zu entfernen und sich in einer minutiösen Beobachtung von Details zu verlieren, was dem Leben eine realiter nicht bestehende Brutalität unterstelle. Der Positivismus, das philosophische Fundament des Naturalismus, führe zu dem Irrweg, alles, was nicht genau erkannt und erklärt werden konnte, zu verneinen. Man war der Meinung, dass die Wissenschaft im Raum der wahrnehmbaren Phänomene bleiben solle. Neben dieser materiellen Realität sollte ein Raum geschaffen werden für eine unbekannte Welt voller Geheimnisse.

In dieser Zeit der Debatten um die Bewegung des Naturalismus entdeckte Frankreich die russische und skandinavische Literatur. Turgenev, Dostoiewski, Tolstoi wurden besonders durch zwei bahnbrechende Arbeiten bekannt: Ernest Dupuy: Les grands maîtres de la littérature russe (1885) und Melchior de Vogüé: Le Roman russe (1886). Bei den Skandinaviern hob man Ibsen und Bjoernson hervor. Jules Lemaître, der französische Kritiker, den Bahr hoch schätzte und für sich als Vorbild betrachtete, vertrat den Standpunkt, dass diese Literaturen Frankreich das zurückgaben, was sie vorher von ihm empfangen hatten: den sentimentalen Idealismus der französischen Romantiker und die genaue Beobachtung der ersten Realisten. Die Originalität dieser neuen Bewegung lag aber in der Vernetzung dieser beiden Elemente, die bis dato in der französischen Literatur getrennt waren. Diese Elemente waren natürlich durch ein anderes Denken verändert und bereichert worden. An den Idealismus knüpfte sich ein religiöser Sinn des Mysteriösen und an den Realismus ein Sinn für die natürliche Komplexität der Dinge. Diese Öffnung der literarischen Szene konnte Bahr nur bestärken in seiner Vermittlerrolle zwischen verschiedenen Kulturen und ihm den Weg weisen für seine zukünftige Tätigkeit.

Bei seiner Ankunft im November 1888 in Paris blühte das kulturelle Leben von Kunst und Literatur wie selten zuvor. Diese Epoche, die unter der Bezeichnung "La belle époque" in die Geschichte eingegangen ist, war reich an vielfältigen Talenten, sei es in der Literatur, der Malerei, der Musik - eine Aufbruchstimmung beseelte die Geister. Kunst wie Literatur erblühten in verschiedenste Richtungen. Zum Beispiel gab es in der Malerei selten in einem derart begrenzten Zeitraum eine solche Vielzahl von bedeutenden Repräsentanten - und die große Mehrheit von ihnen weilte in Paris. Claude Monet (1840-1926), der durch sein Bild "Impression soleil le vent" von 1874 den Begriff "Impressionismus" prägte, Manet, Degas, Cézanne gehörten eine Zeit lang dieser Bewegung an, dann die Nabis mit Bonnard und Vuillard, die der Malerei ein dekorative Funktion zuwiesen; dies war auch die Zeit Gauguins (1848-1903) und Van Goghs (1853-1890), die durch ihr Genie eine unverkennbare Malerei prägten. Ab dem Jahr, in dem sich Gauguin in der Bretagne in Pont Aven niederließ, emanzipierte er sich von den Impressionisten. In den 80er Jahren sprach man von Van Gogh als dem Rimbaud der bildenden Kunst. In der Malerei verstieß er ständig gegen die Realität, die er als Einschränkung seiner Ausdrucksmöglichkeiten betrachtete. Er verlangte von dem Bild einen Raum der Freiheit für seine Ängste. Van Gogh wie auch Rimbaud werden aufgefasst als "un moi écorché vif" - als "ein lebendigen Leibes geschundenes Ich".

In der Literatur dieser Zeit findet man verschiedene Kunstrichtungen, die zeitmäßig fast parallel zueinander verlaufen und sich gegenseitig abgrenzen oder in einander übergehen. Neben dem Naturalismus, mit seinem großen Vertreter Emile Zola, der den Begriff "le roman experimental" geprägt hat (Der Dichter geht von der Beobachtung aus, gefolgt von Experimentieren - er handelt wie ein Arzt oder Biologe. Das soziale Gefüge ist beherrscht von dem Gesetz des Überlebenskampfes und dem Prinzip der natürlichen Selektion), stehen die Symbolisten um die Gruppe der Parnassiens. Die letzteren - Théodore de Bainville, Théophile Gautier, Leconte de Lisle, Catule Mendès, Francois Coppée, Sully Prudhomme - setzten sich für das Gesetz der Form ein, wehrten sich gegen die Exzesse des Ichs, standen für eine Mystik der Schönheit und für die Achtung der Arbeit. Bahr angeregt von dem Vorwort Théophile Gautiers zu den Fleurs du Mal von Charles Baudelaire fand bei ihm "die Bahn der Schönheit" und das Vokabular seines Glaubens an die Kunst: "C'est à la fois par la poésie et à travers la poésie, par et à travers la musique que l'âme entrevoit les splendeurs situées derrière les tombeaux".(7) Paris wurde der Ort, den er mit dem wichtigsten Prinzip seiner Schreibkunst in Zusammenhang brachte. Dort erfuhr er die Wichtigkeit der Form, die ihm Modus seines Schreibens werden sollte: "Paris gab meinem Gestirn ein neues Licht: das Geheimnis der Form ging mir auf, über dem Reich der Erscheinungen enthüllte sich ein Höheres und daß ich daran teilnehmen kann, hier in der Zeit schon teilnehmen an diesem ewigen sein, ja einen Glanz von ihm einlenken auf mich, war mir fortan gewiß".(8) Diese Hingabe an die Form findet man im Skizzenbuch 11 des Jahres 1889, wo er in einer Art Hymne die Schönheit der Form lobt: "Ein vollkommener Satz, ein blühendes Wort, ein Geschmeide [...] ist doch das einzige auf der ganzen Welt, das ewig".(9)

Die Verherrlichung der Form, die ihm in Paris so bewusst wurde, begrenzte sich für ihn nicht nur auf die Literatur, sondern fand auch ihren Widerhall in der Malerei. Der Held seiner Pariser Romans Die gute Schule ist Maler. Hermann Bahr entdeckte in Paris den französischen symbolistischen Maler Pierre Puvis de Chavannes (1824-1898), der auch Adept der Verherrlichung der Form war. Puvis de Chavannes, Zeuge des symbolischen Einflusses auf die Malerei, stand für einen neuen Begriff der Form in der Malerei. Seine großen allegorischen Kompositionen, die er für das Pantheon und die Sorbonne entwarf, spiegeln diese Einstellung. Auf einem blassen Hintergrund, ohne Tiefe werden die Gestalten und die natürlichen oder architektonischen Motive als Wertsymbol oder ewiger Augenblick zu lesen sein. Die Welt reduziert sich nicht nur auf die Materie, sie ist zuerst die Vorstellung, die wir von ihr haben, markiert von Zeichen, die wir ihr geben. Über Puvis de Chavanne äußert er sich in himmlischen Tönen in seinem Skizzenbuch: "Vor Puvis de Chavanne könnte ich Jahre weilen, in andächtiger Bewunderung versenkt vor so viel unfasslicher Größe [...]. Es ist Gedicht. Oder es ist eine Symphonie."(10)

Bahr, wie man durch seine verschiedenen Eintragungen in seinen Skizzen oder Notizbüchern sieht, beschränkte sich nicht nur auf die Literatur, sondern war für die Malerei und die Musik ebenfalls empfänglich. Sein Geist war für alle Anregungen offen. So stieß er in Paris in diesen verschiedenen künstlerischen Strömungen unvermeidlich auf eine Gruppe von Symbolisten, die das Programm des Symbolismus zu einer Art von Anarchie und exzessiver Hoffnungslosigkeit trieb: die Dekadenten. Die Symbolisten hatten den Standpunkt, dass die Welt nicht zu Materie reduziert werden könne. Sie bestünde zuerst aus der Wahrnehmung, die wir von ihr haben, aus Zeichen, die wir geben. Auf der poetischen Ebene bedeutet dies, die Idee wird der Realität oder der Materie vorgezogen, Suggestion steht vor Repräsentation. Die Dekadenten überspannten diesen Bogen bis zum Äußersten. Bahr, der auf das Neue ausgerichtet war, sah in dieser Bewegung eine neue Form der Kunst und machte sich zum Vermittler der Ideen der französischen Dekadenten im deutschsprachigen Raum. Hier nimmt er die Rolle eines Fährmanns über die Grenzen hinweg: eines "passeur de frontières" ein.

Wie ist nun aber dieses Wort "Dekadenz" im Rahmen der französischen Literatur zu definieren? Wie eben schon erwähnt, war die Dekadenz keine literarische Schule sondern eine Stilrichtung, eine überspitzte Haltung, die ganz auf die Betonung der Nerven ausgerichtet war. Sie war eine Reaktion gegen den Geist des Rationalismus, der in dieser Zeit das intellektuelle Leben in Frankreich beherrschte. Für viele war die eisige Welt des Rationalismus, ohne metaphysische Dimension und ohne geistiges Streben, lähmend für ihre schöpferische Inspiration. Schon 1873veröffentlichte Barbey d'Aurevilly, um dagegen zu wirken, eine Schriftenreihe über religiöse Philosophen und Schriftsteller und Villiers de l'Isle-Adam kritisierte diese rein rational-wissenschaftliche Haltung, die vor allem die Naturalisten vertraten. Der Philosoph Henri Bergson (1859-1941) schlug in seinem Essay Essai sur les données immediates de la conscience neue Beziehungen zwischen Mensch und Welt vor. Das Ich und die Welt sollten sich in einem sofortigen Einklang verbinden. Eine Reihe von Arbeiten forderte diese Geisteshaltung ein. Z. B. veröffentlicht Edouard Dujardin 1887 den Roman Les Lauriers sont coupés, wo der innere Monolog die subjektive Narration trägt. Die innere Erfahrung ersetzt die Erzählung eines Lebens. Die Ereignisse werden aus der Sicht des Bewusstseins betrachtet.

1883 veröffentlichte Paul Bourget Essais de psychologie contemporaine über Baudelaire, Taine, Renan und Stendhal, in denen die Merkmale der Neurosen thematisiert werden: Angst, Nervosität, Neigung zu Melancholie und Pessimismus. Die Resonanz dieses Buches war sehr groß, denn die psychologische Dimension stand zum ersten Mal im Vordergrund, was die Diskussion heftig belebte. Ein Jahr später erschien das Buch Huysmans A Rebours, ein Höhepunkt des Phänomens der Dekadenz (im gleichen Jahr 1884 veröffentlichte Zolas seinen Roman Germinal). Der Held von A Rebours, Des Esseintes, ein junger Adeliger, ermüdet und gelangweilt von dem Leben seines Standes, zieht sich in einem Landhaus in der Nähe von Paris aus der Welt zurück und lebt nur noch in einer künstlich geschaffenen Welt sinnlicher Genüsse, die seine überspitzten verfeinerten Sinne ansprechen. Bahr wird in seinen Erinnerungen Selbstbildnis den Tribut, den er Huysmans schuldig war, begleichen: "Auf alles, auf mein neues Verhältnis zur Kunst, auf meine Vorliebe für artistische, ja fürs Artifizielle nicht bloß in der Kunst, sondern als Lebensstil, hat damals Huysmans stark eingewirkt durch A Rebours. Dieser Roman war schon 1884 erschienen und, als ich in Paris ankam, indessen ein Brevier der suchenden Jugend geworden."(11) Die Neurosen, die Des Esseintes erleidet, werden von physischen und sexuellen Symptomen begleitet. Dieser Held des Fin de siècle thematisiert nicht nur die Erstarrungen, die Gefühllosigkeit, die Mattheit und die giftigen und perversen Neurosen, sondern ist in seiner Groteskheit und Pathetik ein Symbol für die Angstgefühle. Er ist der Typus des Dekadenten par excellence.

Das Wort "décadence", nicht nur von Verlaine durch den berühmten Vers aus dem Gedicht "Langueur": "Je suis l'Empire à la fin de la décadence" geprägt, fand schon 1834 in dem Titel der Studien von Désiré Nisard Etudes de moeurs et de critique sur les poètes latins de la décadence (Paris, Hachette) seinen Widerhall. Nisard führt die Dekadenz auf einen Mangel an Inspiration zurück, die durch eine Anhäufung von Wissen überdeckt wird. Diese negative Konnotation ist im Roman Huysmans nicht so direkt ersichtlich. Das "Mal de vivre" de Des Esseintes, durch überreizte Nerven und hohe Empfindlichkeit gezeichnet, steht als Symbol der Décadence. Dass Huysmans im deutschen Raum so bekannt wurde, ist wohl auf Bahr und seine Kritiken zurückzuführen. Der Boden der Rezeption einer solchen Gestalt wie Des Esseintes war schon durch die Endzeitstimmung des Fin de siècle bereitet. Des Esseintes verkörperte für eine ganze Generation dieses "Mal de vivre". Bahr verarbeitete schon in seiner Pariser Zeit den Einfluss Huysmans in seinem Roman Die gute Schule. Der Held, diesmal ein junger Maler, schildert in einem inneren Monolog seine Seelenzustände. Er, ebenso Außenseiter wie Ästhet, entfernt sich von der Allgemeinheit, der er sich überlegen fühlt, und sucht verzweifelt die vollkommene Farbe auf seiner Leinwand festzuhalten, ohne die Wahrheit zu opfern. Als ihm dies nicht gelingt, versucht er durch erotische Spiele, die ans Sadomasochistische grenzen, seine Schaffenskrise zu überwinden. Es gelingt ihm nicht, seine Geliebte heiratet einen reichen Bankier, der ihm seine Bilder abkauft, und er wird zu einem anständigen groben Bourgeois. Die Widmung des Romans, in französischer Sprache verfasst, ist sehr sinnlich und aussagekräftig: "A ta chair qui me l'a donné je rends ce livre de souffrance." Eine andere Erzählung wäre ohne A Rebours und seine Verbreitung im deutschsprachigen Raum nicht zu verstehen: Der Tod Georgs von Richard Beer-Hofmann, wo Traum und Wirklichkeit ineinander gleiten und besonders die geheimnisvolle und verschlüsselte Tempelszene weisen Parallelen zu A Rebours auf: die Überhäufung von Farben, Düften und erotischer Konnotation, sowie die fremd anmutenden Räume sind dem Kapitel von A Rebours, wo Des Esseintes vor zwei Bildern Gustave Moreaus steht ("Salomé" und "L'apparition") und in tiefe Grübelei versinkt, sehr ähnlich. Sinnliche Bewegungen, Rausch, Düfte, Farben, entblößte Körper versetzen Des Esseintes wie im Traum Pauls in Der Tod Georgs in ein "Paradis Artificiel".

Ungleich stärker aber als Huysmans wirkten die Schriften Maurice Barrès auf Hermann Bahr: "Noch näher als Huysmans aber ging mir Maurrice Barrès, kein Dichter meiner Generation hat so tief auf mich gewirkt [...] ich fühle den inneren Zusammenhang so stark, mir war Barrès [...] gleich so vertraut, wirklich fast wär's ein Zwillingsgeist von mir [...] alle Stichworte meines inneren Lebens fand ich bei ihm".(12) Vollkommene Identifikation drückt sich hier aus. Besonders die Schriften aus der erste Beschäftigungsphase Barrès erweckten die ganze Bewunderung Bahrs. Die Trilogie Sous l'oeil des barbares (1888), Un homme libre (1889) und Le jardin de Bérénice fand seine Anerkennung. In seinem Skizzenbuch 9 notiert er sogar Sätze aus Un homme libre: "Je veux accueillir tous les frissons de l'univers, je m'amuserai de tous mes nerfs".(13) Maurice Barrès, fast gleichaltrig mit Bahr, war zuerst intensiv mit der Beschäftigung und Kultivierung seines Ichs befasst, bis er durch religiöse Pilgerfahrten eine Bereicherung seiner starken und originalen Persönlichkeit fand. Barrès begriff sehr schnell, dass die individuelle Seele nicht ohne die Einbettung in eine kollektive Seele zu denken wäre. Von einer fast anarchischen Individualität ging er zu einem traditionalistischen Nationalismus über. Erstaunt kann man feststellen, wie leicht er in sich gegensätzliche Tendenzen vereinte: Romantischer Enthusiasmus und klassische Regularität, engstirniger Nationalismus und breit gefächerter Kosmopolitismus, die philosophische Spekulation der Gedanken und einen praktischen Sinn für die Tat. Ihm dankt Bahr eine unvergessliche Nacht in seiner Dachwohnung in Paris beim Lesen seiner Schriften, die ihn geistig aufjubeln ließen und ihm wiederum den Weg zum klaren Geist und die Liebe zur strengen Formel bescherten.

Aber der entscheidende Punkt für Bahr war wohl der Einfluss Barrès auf seine Konzeption der Identität Österreichs: "durch seine Wendung zum Regionalismus, sie half auch mir, mich auf Österreich zu besinnen, auf mein Vaterland, à l'arbre dont je suis une des feuilles".(14) Bahr, der in seinen jungen Jahren deutschnational war und für die Angliederung Österreich an Deutschland plädierte, fühlte sich nun in seinem Österreichertum bestärkt. Diese Anerkennung seiner Wurzeln führte aber bei Bahr nicht zu einem engstirnigen Nationalismus, wie es später bei Barrès der Fall wurde, sondern zum Verstehen der Traditionen und der kulturellen Eigenständigkeit seines Landes. "In jener Stunde ist in mir aus meinem deutschesten Gefühl durch reinste Selbstbesinnung der Österreicher geboren worden zum siebzigsten Geburtstag Bismarcks."(15)

Bahrs Pariser Aufenthalt wäre für die österreichische Literatur irrelevant gewesen, wenn nicht seine Eindrücke, seine Reflexionen über das kulturelle Leben in Paris, ihn dazu veranlasst hätten, sie in brisanten Artikeln zu verarbeiten. Bahr war vor allem ein begabter Journalist, dotiert von einem feinen Sensorium, das ihm ermöglichte die verschiedenen Wellen der Zeit aufzuspüren. Er verdient "mit vollem Recht die große Anerkennung, die ihm für seine bedeutende Rolle bei der Einführung der literarischen Dekadenz in Deutschland und in Österreich in der Zeit zwischen 1887 und 1897 zugestanden war".(16) Erstaunlich ist, wie er sich innerhalb einer so kurzen Zeit eine Übersicht über das Pariser Kulturleben aneignete! Des Französischen einigermaßen mächtig nützte er seine Zeit, wie seine Tagebücher belegen, in Cafés zu gehen, dort die hiesigen Zeitungen zu lesen. Diese Lektüre muss für ihn sehr lehrreich gewesen sein, denn seit 1881 herrschte in der Zeitungslandschaft Frankreichs Pressefreiheit. Alles konnte gedruckt werden. Geschult an dem französischen Kritiker Jules Lemaître, den er überaus schätzte, verfasste er wichtige Essays, wie Zur Kritik der Moderne (1890) und Die Überwindung des Naturalismus (1891). Der Kritiker Jules Lemaître vertrat zu dieser Zeit in Frankreich den Begriff des "critique impressionniste". Für Lemaître galten in der Untersuchung literarischer Werke nur die Impressionen, die man dabei empfand. Er lehnte jegliche lehrende Intention ab, ob philosophische oder literarische. "Ce ne sont que des impressions sincères notées avec soin" (Jules Lemaître. Etudes et portraits littéraires. Les Contemporains. Société francaise d'imprimerie et de librairie). Bahr richtete sich in seinen kritischen Texten ganz nach dieser Konzeption: Die persönlichen Eindrücke, die beim Lesen eines Textes entstehen, sollten die Grundlagen der Kritik bilden.

Als Bahr nach Wien zurückkehrte, noch ganz im Sog seiner Pariser Erfahrungen, übernahm er nicht nur die Rolle eines Vermittlers sondern auch die des geistigen Förderers jüngerer Talente, indem er ihnen zur Veröffentlichung verhalf. Er verteidigt vehement eine neue Kunstrichtung in der Literatur wie in der Malerei. Um ihn finden sich Namen wie Hugo von Hofmannsthal, Felix Dörrmann, Leopold Andrian, Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Namen die für das "Jung Wien" stehen, für den Anschluss der österreichischen Literatur an die Weltliteratur. Dass die französische Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts über die Vermittlung von Hermann Bahr grenzüberschreitende Einflüsse ausübte, ist nicht zu leugnen. Das "Jung Wien" verwandelte aber diese Nähe in eine eigenständige schöpferische Auffassung, ob in der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik. Die Metropole Paris brauchte lange Jahre, bis sie dies in breiteren Kreisen anerkannte, leider hat es einen französischen Pendant zu Bahr nicht gegeben und erst die große Ausstellung "Paris-Vienne" im Centre Pompidou im Jahre 1986 sensibilisierte die Öffentlichkeit für das enorme Potential des geistigen Lebens Österreichs um die Jahrhundertwende.

© Annette Daigger (Saarbrücken)


ANMERKUNGEN

(1) Bahr, Hermann: Selbstbildnis. Berlin: S. Fischer, 1923, S. 215.

(2) Ebda, S. 219.

(3) Bahr, Hermann: Briefwechsel mit seinem Vater. Hrsg. Adalbert Schmidt. Wien: Bauer, 1971.

(4) Ebda, S. 213. Brief vom 9.2.1889.

(5) Selbstbildnis, S. 220.

(6) Ebda, S. 221.

(7) Selbstbildnis, S. 227f.

(8) Ebda. S. 241f.

(9) Bahr, Hermann: Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte, Bd. 1885-1890. Hrsg. Moritz Csaky. Wien: Böhlau, 1994, S. 147.

(10) Ebda., S. 154.

(11) Selbstbildnis S. 237.

(12) Ebda, S. 239.

(13) Bahr, Hermann: Tagebücher, S. 298.

(14) Ebda, S. 239.

(15) Ebda, S. 185f.

(16) Daviau, Donald G.: Der Mann von Übermorgen. Hermann Bahr 1863-1934. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1984, S. 71.


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Annette Daigger (Saarbrücken): Un passeur de frontières: Hermann Bahr und Frankreich.. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_09/daigger15.htm

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