Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. März 2006
  6.2. Die Entdeckung der Welt in Literatur und Wirklichkeit / The Discovery of the World: Fiction and Reality
Herausgeber | Editor | Éditeur: Helmut F. Pfanner (Nashville, Lochau)

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Auf den Spuren Georg Forsters: Die deutschen "48er" Emigranten in Australien

Gerhard Fischer (University of New South Wales, Sydney)
[BIO]

 

Unter den Auswanderern, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Australien kamen, waren einige liberale und demokratische Intellektuelle, die man als politische Emigranten bezeichnen kann, da sie Deutschland in erster Linie aus Enttäuschung über das Scheitern der Revolution von 1848 verließen. Der prominenteste unter ihnen war vermutlich Hermann Püttmann (1811-74), ehemals Redakteur der KölnerZeitung, ein bekannter Autor und Herausgeber von Werken der "revolutionären sozialistischen Literatur", ein Förderer der Autoren des Jungen Deutschland, befreundet mit Heine, Gutzkow und Weerth. Zu seinem Kölner Bekannten- und Kollegenkreis in den 40er Jahren gehörten auch Marx und Engels. Püttmann traf erst 1855 nach einem längeren Zwischenaufenthalt in England in Melbourne ein, wo er bald als Autor, Herausgeber von Zeitungenund Zeitschriften eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft der deutschsprachigen Einwanderer der Kolonie Viktoria einnahm.(1)

Nicht weniger prominent war Carl Wilhelm Ludwig Mücke (1815-98). In Büden bei Magdeburg geboren, hatte sich Mücke vor seiner Auswanderung als Autor und Pädagoge, als Journalist und Herausgeber populärwissenschaftlicher Sachbücher einen Namen gemacht. Er hatte klassische Philologie und Naturwissenschaften in Bonn und Berlin studiert. Sein besonderes Interesse galt der Propagierung eines neuen Curriculums, in dem wissenschaftliche und technologische Themen einen breiteren Platz einnehmen sollten. In seiner Tätigkeit als Direktor des "Norddeutschen Volksschriften Vereins" konzentrierte sich Mücke auf die Publikation von Sachbüchern, die einem Lesekreis von Handwerkern und Arbeitern in populärer und allgemein-verständlicher Form die rapiden Fortschritte in Wissenschaft und Technologieentwicklung während der industriellen Revolution vermitteln sollten. Als Herausgeber der Pädagogischen Jahrbücher, einer Zeitschrift für Kinder, verfolgte er das gleiche Ziel für jüngere Leser. 1847, ein Jahr vor seiner Auswanderung, verlieh ihm die Universität Jena in Anerkennung seiner Verdienste als Pädagoge den Doktortitel. Einunddreißig Jahre später folgte die Universität Adelaide, die ihn mit einem M.A. ehrte, dem höchsten akademischen Grad, der zu dieser Zeit in Australien vergeben werden konnte.

Mücke war der Kopf einer Berliner Auswanderergruppe bürgerlicher Intellektueller aus dem liberal-demokratischen Lager. Die Gruppe um Mücke wurde vor allem durch ihre publizistische Tätigkeit wichtig für die politische Meinungsbildung der südaustralischen German Community; ihr Sprecher Mücke war der spiritus rector der deutschsprachigen Einwanderer. Die von Mücke in Verbindung mit seinen Schwiegersohn Basedow herausgegebene Australische Zeitung blieb bis zum ersten Weltkrieg das wichtigste Organ der deutschsprachigen Presse in Australien.(2)

Auch Ludwig Becker, 1808 in Offenbach am Main geboren, gehört zu den australischen 48ern. Becker lernte das Handwerk eines Buchbinders und studierte gleichzeitig Lithographie in Frankfurt. Eine Bekanntschaft mit dem Zoologen Johann Jakob Kaup weckte sein Interesse für die Naturwissenschaften, und er gewann bald Ansehen als Illustrator wissenschaftlicher Werke, so der Gallerie der Amphibien seines Freundes Kaup. Daneben arbeitete Becker als Karikaturist und Maler, unter anderem am Hof des Großherzogs von Hessen-Darmstadt. Die Geste des Aufruhrs und des Protests, der satirischen Kritik an provinzieller Enge und staatlich-bürokratischer Bevormundung, die für Beckers "Australisches Lied" - eine humorvolle Comic Strip-Geschichte über einen Auswanderer von Hamburg nach Melbourne und dessen erste Erfahrungen in Australien - charakteristisch sind, weisen ihn als Vertreter und Anhänger der liberal-demokratischen und bürgerlich-revolutionären Bewegung aus. (3) Becker war Mitglied der Royal Society of Victoria, die 1860 die "Burke and Wills Expedition" zur Erforschung des Carpentaria-Golfs im tropischen Norden des Kontinents organisierte, von der keiner der Teilnehmer - darunter auch Becker - zurückkehrte. (4)

Warum gingen Leute wie Becker, Püttmann oder Mücke nach Australien? Es gab sicher vielfältige individuelle Motive, aber es ist anzunehmen, dass politische Erwägungen, d.h. die Entscheidung für ein Land, das als englische Kolonie eine freiheitlich-bürgerliche Grundordnung und damit die Möglichkeit zu ungehinderter politischer und sozialer Entfaltung versprach, eine wichtige Rolle spielten. Entscheidend war vielleicht der Gedanke , dass es sich bei den Siedlungen in Australien um eine junge, aber potentiell reiche Gründung handelte, an deren Entwicklung zu einem unabhängigen, demokratischen Staatswesen und zu einer eigenständigen freiheitlichen Nation die deutschen Emigranten mitarbeiten konnten. Hierin lag der wesentliche Unterschied zu Amerika, dem ersten Ziel deutscher Auswanderer: in den Vereinigten Staaten war die Entwicklung sozusagen schon gelaufen, während auf dem fünften Kontinent noch die Möglichkeit bestand, beim Aufbau eines modernen Staatswesens aktiv mitzuarbeiten und die eigenen Ideen und Vorstellungen in die Praxis umzusetzen.

Alle diese Aspekte waren zudem schon in dem literarischen Werk eines Autors vorgezeichnet, der wie kein zweiter das Interesse des literarischen Publikums in Deutschland auf die Inseln des südpazifischen Raums gelenkt hatte. Georg Forster (1754-94) hatte zwar nicht selbst australischen Boden betreten, aber er war sowohl durch seinen engen Kontakt mit Cook, der auf seiner ersten Weltumseglung die Ostküste Neu-Hollands kartographiert hatte, als auch auf Grund seines Studiums der existierenden wissenschaftlichen Literatur bestens befähigt, die Chancen einer Ansiedlung von europäischen Kolonisten in Australien zu beurteilen. Schon in seiner Reise um die Welt hatte Forster auf die Vorteile Neu-Hollands hingewiesen, so die Größe ("um nichts kleiner...als ganz Europa") und die günstigen klimatischen Bedingungen des "größtentheils unter den Wende-Creysen" gelegenen Landes.(5) Den wichtigsten Anreiz für die europäische Kolonisierung sah Forster in dem zu erwartenden Reichtum an Bodenschätzen. Obwohl das Land über einen winzigen Teil des Küstenstreifens hinaus noch gänzlich unerforscht war, kam er anhand von Vergleichen mit dem seiner Meinung nach ähnlichen Neukaledonien "fast ohnfehlbar" zu dem Schluss, "daß die inneren Gegenden des Landes unendliche Schätze der Natur enthalten, die dem ersten und civilisierten Volk zu Theil und nützlich werden müssen, welches sich die Mühe geben wird, sie aufzusuchen."(Ibid. 196)

An die Idee einer wirtschaftlich profitablen Ausbeutung der Bodenschätze als Legitimation eines Kolonialprojekts knüpfte Forster zehn Jahre später wieder an. 1787 schrieb er seinen Essay "Neu-Holland und die brittische Strafkolonie in Botany Bay", in dem er seine Leser in Deutschland auf die geplante Kolonisierung Australiens durch britische Strafgefangene aufmerksam machte, noch vor dem Auslaufen der "Ersten Flotte" unter Kapitän Philip, die im Januar 1788 nach der Landung in Port Jackson und der Gründung der Stadt Sydney den Beginn der modernen europäischen Geschichte Australiens markieren sollte.(6) Der Aufsatz, auf Anregung seines Berliner Verlegers Spener für dessen Historisch-Genealogischen Calender oder Jahrbuch der merkwürdigsten Welt-Begebenheiten für 1787 verfasst, enthält eine detaillierte Beschreibung der geographischen, geologischen, zoologischen und ethnographischen Besonderheiten des Kontinents. Forster referiert hier das Wissen seiner Zeit; seine wichtigsten Quellen sind die Aufzeichnungen der beiden englischen Forscher Dampier und Cook. Darüber hinaus reflektiert Forster in einer allgemein-theoretischen Einleitung, mit der für seine Arbeit charakteristischen Mischung aus naturwissenschaftlichen und philosophischen Argumenten, die Frage der Kolonisierung des Kontinents als Zivilisationsprojekt. Der Kern seiner These ist der Glaube an die "Vervollkommnung des Menschen" durch Erziehung und kulturelle Betätigung.(7) In einer Absage an den Rousseauismus, in dem er eine fehlgeleitete Kritik an den "Mängeln der bürgerlichen Gesellschaft" sieht, besteht Forster auf der Einheit von Mensch und Kultur; der Mensch, von Natur aus ein mit Vernunft begabtes Wesen, findet seine wahre Bestimmung erst in der Entwicklung aller seiner Fähigkeiten; menschliches Glück erschöpft sich nicht in der "Befriedigung blos sinnlicher Begierden und blinder Triebe" sondern schließt den Genuss "seines Bewußtseins und seiner Vorstellungen" ein. (Forster, "Neu-Holland", 227) Forsters Ziel ist ein "gesittetes Leben", das erst dem "verfeinerten Menschen" erreichbar ist; die Verfeinerung, als die Tätigkeit des Menschen zur Vervollkommnung seiner Anlagen, ist auf der gesellschaftlichen Ebene mit kulturellem Fortschritt gleichzusetzen, der wiederum ohne technische und ökonomische Entwicklung nicht möglich ist: "Fortschritt der Cultur ist also Interesse der Menschheit, und Bevölkerung der Erde mit gesitteten Bewohnern das große Ziel."(Ibid. 228)

Die mangelnde wirtschaftliche Entwicklung Australiens durch die zu geringe Anzahl der kulturell wenig fortgeschrittenen Ureinwohner ist somit ein wesentliches Argument, das die Kolonisierung des Kontinents legitimiert. Obwohl Forster an anderer Stelle die Unterdrückung und Ausrottung der "Naturvölker" durch die europäischen Kolonialmächte einer scharfen Kritik unterzieht, und obgleich er auch die negativen Folgen der ersten Begegnungen von Cooks Mannschaft mit den polynesischen Inselbewohnern nicht verschweigt, Prostitution etwa oder die Schaffung neuer, "unnatürlicher" Bedürfnisse, so siegt im Fall Australiens der Glaube an die zivilisatorische Kraft der Europäer, die zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Aborigines führen soll. Die Größe und Leere des Landes - Forster meint, dass das Innere so gut wie unbesiedelt sei - soll ausschließen, dass es zu Konflikten um Landbesitz kommen wird: "Wie leicht finden vierzig oder fünfzig Menschen, die in der Gegend, wo die Niederlassung geschehen soll, herumirren, einen anderen, zu ihrer Absicht eben so bequemen Platz!"(Ibid. 246) Forsters eurozentristische Einstellung kommt in diesen Zeilen sehr deutlich zum Vorschein: die Aborigines "irren" in dem Land "herum", sie bewohnen es nicht etwa, noch können sie es irgendwie als ihre Heimat oder als ihren Besitz betrachten. Über das Problem einer Zwangsumsiedlung bzw. Vertreibung, die Forster hier durchaus zutreffend voraussagt, wird konsequenterweise nicht weiter nachgedacht; Forster entwickelt weder moralische noch juristische Skrupel. Konzepte wie Nutzung, Privatbesitz, Wirtschaftlichkeit sind Begriffe einer europäisch-bürgerlichen Vorstellungswelt, die ohne weitere Reflektion die vermeintliche Superiorität und den Machtanspruch der europäischen Kolonisten rechtfertigen, ohne dass der Autor überhaupt auf den Gedanken kommt zu fragen, ob eventuell andere soziale Formen des Zusammenlebens der Aborigines oder eine anders geartete wirtschaftliche Aktivität auch andere Kriterien der Beurteilung erfordern oder zumindest als möglich erscheinen lassen.

Forsters humanistischer Fortschrittsglaube, der allerdings in der Analyse der Situation der Aborigines nicht von Widersprüchen frei ist, zeigt sich auch in der Beurteilung der Entwicklungsmöglichkeiten einer Kolonie, die hauptsächlich von Strafgefangenen unter Militäraufsicht aufgebaut werden soll. Der Glaube an Vernunft und an die Perfektibilität der menschlichen Gesellschaft, getragen von einem aufklärerischen Bildungsoptimismus, lässt ihn zu einer positiven Prognose kommen. Forster meint, dass die Ursachen für Kriminalität in gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren zu finden sind, in verfehlten Sozialisierungsprozessen oder in einem unzulänglichen staatlichen Schul- und Justizwesen. Die Herausforderung an die Kolonisten, durch ihre praktische Arbeit an der Erschließung des Landes und beim Aufbau eines neuen Gemeinwesens mitzuarbeiten, soll die Rehabilitation der "convicts" in die Wege leiten. Es sind also weniger der traditionelle Bildungsauftrag und ein Programm staatlicher Reformen, die Forster betont; dass aus den deportierten Sträflingen "künftige Gesetzgeber" werden, wird vielmehr aus dem Glauben an das emanzipatorische Potential demokratischer Selbst- und Mitbestimmung beim Aufbau eines neuen, vom Ballast der feudalistischen Traditionen Europas befreiten Staatswesens abgeleitet. Forster führt in seinem Essay das Beispiel der Vereinigten Staaten an, die sich in weniger als 150 Jahren zu einer gesicherten, mächtigen Republik entwickelt haben. Eine ähnliche Entwicklung sagt Forster auch für die zu diesem Zeitpunkt erst in den Köpfen und auf dem Papier der politischen Planer und Bürokraten in London existierende Kolonie von Botany Bau voraus: "Neuholland, eine Insel von ungeheurem Umfange, oder wenn man will, ein drittes festes Land, ist der künftige Wohnraum einer neuen bürgerlichen Gesellschaft, die, so unbedeutend ihr Anfang zu seyn scheint, gleichwohl in kurzer Zeit sehr wichtig zu werden verspricht."(Ibid. 229) Ein halbes Jahrhundert später wurden die 48er die Erben Forsters, die seine Beschreibung der neuen Kolonie in Neuholland zum Anlass nahmen, nach Australien zu reisen, um dort sowohl dem Beispiel der von Forster gelieferten wissenschaftlichen Forschungs- und Entdeckungsarbeit zu folgen als auch am Aufbau und an der Entwicklung der von ihm projektierten "bürgerlichen Gesellschaft" teilzunehmen, nachdem ihnen durch die erneute Niederlage der Revolution die eigenen Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland fragwürdig geworden waren und die Möglichkeit einer demokratischen und republikanischen Neuordnung in ihrer Heimat in weite Ferne entrückt erschien.

 

Im Diskurs mit der englischen Majorität, in dem die 48er sehr schnell die Rolle von Sprechern und Vertretern der deutschen Interessen übernahmen, ging es zunächst darum, die Rechte der Deutschen, vor allem an der Partizipation in Parlament und Staat, geltend zu machen und verfassungsrechtlich zu verankern, damit die Grundlagen überhaupt für eine Beteiligung am politischen Leben Australiens und damit am Aufbau der von Forster projektierten "bürgerlichen Gesellschaft" gegeben waren. In Südaustralien geschah dies 1855, anlässlich der Einführung einer autonomen Regierungsform, des "responsible government", durch die die direkte Administration der Kolonie von London aus aufgehoben wurde. Ein Hauptthema der öffentlichen Diskussion wurde die Frage der "German rights", die sowohl das aktive wie auch passive Wahlrecht betrafen. Mücke und seine Freunde protestierten scharf gegen Pläne, die sie von den Wahlen zu dem vorgesehenen neuen Parlament ausschließen sollten. Viele Australier englischer Herkunft äußerten ihre Opposition. In einem im Adelaide Observer abgedruckten Leserbrief war zu lesen: "Die Deutschen sollten dankbar dafür sein, dass man ihnen erlaubt hat, nach Südaustralien zu kommen, und sie sollen aufhören, die gleichen Rechte wie Engländer zu verlangen." In einem anderen, der mit "sechzigjähriger Brite" unterzeichnet war, hieß es: "Unsere teutonischen Freunde haben guten Grund, dankbar zu sein für das Asyl, dass Südaustralien ihnen gewährt hat...und sie sollten dies dankbar anerkennen und ihre Freiheit in Ruhe genießen."(8)

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass derartige Zitate ein beträchtliches Maß an populärem Sentiment repräsentierten. Ähnliche Stimmen ließen sich in der Folgezeit immer wieder vernehmen, obwohl die deutschen Einwanderer in der Debatte 1855 den Sieg davontrugen: sie gewannen das Recht, zu wählen und für das Parlament zu kandidieren. In der Wahl von 1857 zog einer der 48er, Friedrich Krichauff, als Abgeordneter in das erste Parlament Südaustraliens ein. Damit war ein wichtiges Ziel der 48er erreicht, und Krichauf war denn auch nur der erste in einer langen Reihe von Politikern deutscher Abstammung, die im 19. Jahrhundert ins südaustralische Parlament gewählt oder auch in der Lokalpolitik aktiv wurden. An Reformen in dem für die 48er so wichtigen Bereich der Erziehung waren deutschaustralische Parlamentarier federführend beteiligt, in Queensland ebenso wie in Südaustralien. Die Entwicklung eines praxis- und berufsorientierten Curriculums, in denen die jüngsten Erfahrungen der deutschen Realschulen reflektiert wurden, gehen auf Anregungen und Initiativen von deutscher Seite zurück, genauso wie die Gründung landwirtschaftlicher Fachschulen, etwa das Roseworthy Agricultural College in Südaustralien, das erste seiner Art auf dem Kontinent, in dem die Verbindung von praktischer landwirtschaftlicher Ausbildung mit wissenschaftlicher Forschung eine neue Richtung der pädagogischen Entwicklung wies.

All diese Reformen sind ohne die wegweisenden publizistischen Arbeiten Mückes und seiner Freunde sicher nicht zu denken. Weniger Erfolg war allerdings Mückes Idee eines nationalen Schulsystems beschieden. Sein Vorschlag, von der südaustralischen Regierung zum "Inspektor der deutschen Schulen" ernannt zu werden, blieb unbeantwortet, vermutlich auch auf Grund der Intervention des lutherischen Klerus, die in Mücke und seiner Gruppe nicht zu Unrecht liberale Freigeister sahen. Mückes Schulschrift von 1866 mit dem Titel "National Schools for South Australia" und sein Programm einer "nationalen Schule" blieben folgenlos. Die Mehrzahl der englischen Siedler hatte keine Veranlassung, so etwas wie ein australisches Nationalbewusstsein zu entwickeln, eine "nationale Frage" existierte für sie nicht. 1866 gab es ein halbes Dutzend britischer Kolonien in Australien, alle mit ihren eigenen Institutionen und Verbindungen nach London, an der Peripherie eines großen Inselkontinents gelegen, der kaum erforscht geschweige denn besiedelt war, in weiter Ferne vom Mutterland, in einer von den europäischen Kolonisten oft als bedrohlich empfundenen Umgebung von asiatischen und polynesischen Völkern. Die überwältigende Mehrheit der weißen Australier dachte bei dem Wort "Heimat" an die britischen Inseln; ihre Nation war Großbritannien, und nur das Empire konnte ihnen den Schutz gewähren, den sie ihrer Meinung nach in ihrer Existenz auf den Antipoden benötigten.

Allerdings hatte mit dem Goldrausch in den 50er Jahren etwas Neues angefangen; mehr Einwanderer als je zuvor waren aus allen Teilen der Welt in das Land gekommen, die industrielle Revolution hatte auch in Australien Einzug gehalten und mit ihr eine Zeit des beschleunigten sozialen Wandels. Auch die Ära der "transportation", der Verschickung von Sträflingen, war zu Ende gegangen und damit die Vorherrschaft der militärischen Verwaltung und der direkten administrativen Kontrolle durch die englische Regierung. Es war diese historische Konstellation, in der die 48er ihre Chance sahen, ihre Vision der Forsterschen "bürgerlichen Gesellschaft" in Form eines demokratischen und unabhängigen Nationalstaates ihren Mitkolonisten zu vermitteln und sie davon zu überzeugen, dass es sich lohne, an der Verwirklichung dieser Vision mitzuarbeiten.

Im Gegensatz zu den Einwanderern aus Großbritannien sahen Mücke und seine Freunde in Australien eine unabhängige Nation in statu nascendi, und sie erkannten, dass ihre neue Heimat sich in einer ähnlichen Situation befand wie die alte. Um eine Nation zu werden, besaß Australien eine Voraussetzung, die in Deutschland fehlte: die Kolonien verfügten über eine konstitutionelle Regierungsform, die "zu aller Entwicklung" befähigte und die die demokratischen Rechte der Bürger garantierte. Auf der anderen Seite gab es in Deutschland etwas, was in Australien fehlte oder eher noch nicht existierte, nämlich das Bewusstsein einer Mission, eine Nation zu werden. Genau hier sahen die 48er ihre Aufgabe: es galt, ihre Erfahrungen beim Kampf um die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates einzubringen in den Versuch, durch die Förderung eines "geistigen Lebens" in den Kolonien zum Erwachen und zur Entwicklung eines nationalen Bewusstseins beizutragen. Wie in Deutschland, wo nicht die Fürsten und Armeeoffiziere sondern die "Dichter und Denker" das Bewusstsein der durch die "Kulturnation" zusammengehörigen Deutschen geprägt hatten, wollten auch die 48er Publizisten, als Künstler oder als Wissenschaftler, aber auch als "normale" Bürger dazu beitragen, dass sich die europäischen Siedler in Australien ihres gemeinsamen Schicksals als werdende Nation bewusst würden.

Das Konzept einer Kulturnation als Vorstufe zur tatsächlichen staatlichen Organisation der Nation, das die 48er aus Deutschland mitgebracht hatten, spielte in den Vorstellungen der 48er eine zentrale Rolle. Es war eine idealistische Vision, basierend auf dem bildungsoptimistischen Konzept Forsters und damit klassischer Ausdruck des Erbes der europäischen Aufklärung. Der Export dieser Idee jedoch, im Kontext der britischen Kolonisierung Australiens, bedeutete noch eine weitere Dimension: die spezifische Situation Australiens, seine geographische Lage sowie seine historische Entwicklung, insbesondere aber die Präsenz vieler Einwanderer aus allen Teilen der Welt und der daraus resultierende multikulturelle Charakter der australischen Bevölkerung erforderten eine Klärung des nationalen und eine Lösung des kolonialen Problems. Der Status einer Nation konnte nur in der Unabhängigkeit verwirklicht werden, er war unvereinbar mit kolonialer Dependenz. Auf die Dauer waren damit eine Trennung vom Mutterland England und die Loslösung aus dem Empire unabdingbar. Das Endziel von Mücke und seinen Freunden war die australische Nation organisiert als unanhängige Republik nach dem Muster der Vereinigten Staaten, auf die ja schon Forster in seinem Essay als Modell hingewiesen hatte. In den Diskussionen der 48er zu diesen politischen Fragen kamen die Aborigines nicht vor. Wie schon bei Forster wurden sie aus dem Diskurs über die Gestaltung des Staatswesen s ausgeblendet. Die Zukunft der Ureinwohner wurde den Missionaren überantwortet, von denen ebenfalls viele aus Deutschland gekommen waren, die auf den Missionsstationen sich um das Seelenheil ihrer Schützlinge, aber auch um deren Alphabetisierung und Ausbildung kümmerten.

Neben der Diskussion über das Ziel einer unabhängigen australischen Republik gab es noch ein zweites Thema, das die 48er besonders beschäftigte, nämlich die Definition einer australisch-deutschen Identität. Was bedeutete es, "Australier" zu werden? Gab es nicht einen Widerspruch zwischen dem angeborenen und ererbten "Deutschtum" und der neuen Aufgabe, ein australisches Nationalbewusstsein zu entwickeln? Mückes Vorstellungen dazu lassen sich anhand seiner Ausführungen rekonstruieren, die er am 16. Juli 1883 im Deutschen Klub in Adelaide während einer Feier zur Überreichung der Ehrenmitgliedschaft des Vereins und einer "Adresse" der Kolonisten deutscher Herkunft vortrug. Es war sein 68. Geburtstag: er hatte an diesem Tag genau eine Hälfte seines Lebens in Deutschland und die andere in Australien verbracht. In der Australischen Zeitung, die einige Tage später über die Feier berichtet und Mückes Vortrag verbatim als indirekte Rede in der dritten Person abdruckt, wird der Jubilar wie folgt zitiert:

Sein Bestreben sei immer gewesen...das Deutschthum hier in der Kolonie aufrecht zu erhalten. Unter dem Deutschthum habe er nie etwas anderes verstanden, als die hohen geistigen Schätze und Errungenschaften unserer theuren Mutter in der Wissenschaft, der exacten Forschung, der deutschen Philosophie, der idealen Kunst, der Religion des Herzens, der Poesie deutscher Dichter, der Freiheit des Gedankens wie des Glaubens. Seit 34 Jahren habe er in der Kolonie, die mit ihm aufgewachsen, diese geistigen Güter der deutschen Nation aufrecht zu erhalten gestrebt.(9)

Die Charakterisierung Deutschlands als "liebe Mutter" und der Hinweis auf die kulturellen Errungenschaften demonstrieren deutlich die Dimensionen des Deutschtums, das von Mücke propagiert wurde. Es bestand nicht in einem politischen Programm, das darauf abzielte, die Loyalität der Emigranten zu ihrem Vaterland aufrecht zu erhalten, d.h. zum Staat mit seinen Institutionen und seiner Politik. Die deutschen Auswanderer hatten ihre Pflichten gegenüber den Fürsten und Regierungen ihrer Länder gekündigt, als sie die Reise nach Australien antraten, aber sie konnten und wollten nicht die Verbindung zu der Kultur aufgeben, welche den inneren Kern und die Substanz ihrer Persönlichkeit geformt hatte. Mückes Vision enthielt ein eloquentes Bekenntnis zum Erbe der deutschen Kultur, die in so bedeutendem Maße zu den Errungenschaften der Menschheit beigetragen hatte. Es war kein Erbe, das durch enge nationale Grenzen definiert war; es schloss die universelle Menschenrechtsdeklaration der französischen Revolution ebenso ein wie die Werke der europäischen Wissenschaftler, Künstler und Philosophen. Auch hier muss an das Beispiel Georg Forsters erinnert werden, der an der Universität Wilna genauso selbstverständlich sich zu Hause fühlen konnte wie in Kassel oder Halle, der keinen Widerspruch darin sah, am Hofe des englischen Königs über seine Weltumseglung zu berichten oder aber in der französischen Nationalversammlung als Deputierter zu sprechen. Genau wie für den Europäer und Weltbürger Forster der Anschluss des Rheinlandes an das vom Feudalismus befreite Frankreich kein Verrat an seinem "Deutschtum" darstellen konnte, so konnten sich auch Mücke und seine Freunde nicht vorstellen, dass ihre Bejahung einer australischen Identität die Aufgabe ihres "Deutschtums" oder gar ihres kulturellen Erbes bedeuten müsse. Im Gegenteil: der universelle Appell in Mückes Vision implizierte genau den Anspruch, das kulturelle Erbe zu propagieren, es zu bewahren und in das langsam wachsende nationale, "geistige Leben" in Australien eingehen zu lassen.

© Gerhard Fischer (University of New South Wales, Sydney)


ANMERKUNGEN

(1) Zu Püttmanns Karriere in Australien siehe den Aufsatz von Leslie Bodie, "Hermann Püttmann: A Forty-Eighter in Australia", in: L. Bodie, S. Jeffries (eds), The German Connection, Sesquicentenary Essays on German-Victorian Crosscurrents 1835-1985 (German Department, Monash University, 1985), S. 24-28. Vgl. auch den Eintrag "Australien" im Handwörterbuch für das Grenz- und Auslanddeutschtum, Bd. 1 (Breslau, 1934), S. 163-204, hier S. 181; Charles Price, "German Settlers in South Australia, 1838-1900", Historical Studies. Australia and New Zealand, 7, 28 (May 1957), S. 441-451; A. Lodewyckx, Die Deutschen in Australien (Stuttgart, 1932), S. 50-52 und S. 183-190.

(2) Die Australische Zeitung geht zurück auf eine frühere Zeitungsgründung Mückes. Die Tanunda Deutsche Zeitung wurde 1863 gegründet und 1870 in Australische Deutsche Zeitung umbenannt; 1875 vereinigte sie sich mit der Südaustralischen Zeitung zur Australischen Zeitung mit Redaktionssitz in Adelaide. Vgl. M. Gilson, J. Zubryzcki, Foreign Language Press in Australia 1848-1964 (Canberra, 1967).

(3) Marjorie Tipping (ed.), An Australian Song. Ludwig Becker's Protest. With a Commentary and Free Translation into English Verse (Richmond, Vic., 1984).

(4) Zu den biographischen Informationen vgl. die betreffenden Bänden des Australian Dictionary of Biography. Vgl. auch G.E. Loyau, Notable South Australians; or, Colinists - Past and Present (Adelaide, 1883); I. Harmstorf, M. Cigler, The Germans in Australia (Melbourne, 1985).

(5) Georg Forster, Reise um die Welt. In: Werke in Vier Bänden, Bd.1. Hrsg. Gerhard Steiner (Frankfurt, 1967), S. 195.

(6) Georg Forster, "Neu-Holland und die brittische Strafkolonie in Botany Bay", In: Werke in Vier Bänden, Bd. 2 [Schriften zur Naturgeschichte, Ansichten vom Niederrhein], S. 225-248.

(7) Vgl. dazu auch Helmut Peitsch, Georg Forsters ‘Ansichten vom Niederrhein’, (Frankfurt, Bern, Las Vegas, 1978), S. 422-423.

(8) Zitiert in Gerhard Fischer, Enemy Aliens. Internment and the Homefront Experience in Australia 1914-1920 (St. Lucia, 1989), S. 27.

(9) Mitchell Library (ML Ms 67x). Vgl. dazu meinen Artikel "‘A Great Independent Australian Reich and Nation’: Carl Muecke and the ‘Forty-Eighters’ of the German-Australian Community of South Australia", Journal of Australian Studies, 25 (Nov. 1989), S. 85-100


6.2. Die Entdeckung der Welt in Literatur und Wirklichkeit / The Discovery of the World: Fiction and Reality

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For quotation purposes:
Gerhard Fischer (University of New South Wales, Sydney): Auf den Spuren Georg Forsters: Die deutschen "48er" Emigranten in Australien. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/06_2/fischer16.htm

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