TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Mzia Galdavadze (Tbilissi), Tornike Potskhishvili (Wien), Vilayet Hajiyev (Universität Baku) und Azat Yeghiazaryan (Jerewan)

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Vom Geist. Aufklärung als dekonstruktive Phänomenologie

Ashot Voskanian (Staatliche Sprachuniversität Yerevan, Armenien) [BIO]

Email: a.voskanian@mfa.am

 

Vom Standpunkt des Geistes aus gesehen
ist eine solche Existenz Sünde, und das mindeste,
was man für sie tun kann, ist, dass man dies sagt
und damit Geist von ihr fordert.

    S. Kierkegaard. Der Begriff der Angst

 

I. Get Geist

A. Die Preußen, Russen und anderen...

Die gängigen Vorwürfe der nachsowjetischen Intellektuellen gegen den Westen heißen: die westliche Gesellschaft sei „geistlos“. Das russische Wort „бездуховный“, dem der Ausdruck entspricht, ist nicht immer in andere westeuropäische Sprachen übersetzbar. Ins Deutsche schon. Einen guten Beweis dafür bietet ein Witz von Matthew Arnold, der dank Derridas Kommentar gut bekannt ist: „’Liberalism and despotism!’, cried the Prussian; ‚Let us go beyond these forms and words. What unites and separates people now is Geist... The victory of Geist over Ungeist we think the great matter in the world... I will give you this piece of advice, with which I take my leave: Get Geist’“.(1)

Nun ist festzustellen: was im Preußen des 19. Jahrhunderts als zeitgemäß galt, bleibt in vielen Gesellschaften des postsozialistischen Raums immer noch aktuell. Jemand, der minimal mit der geistigen Situation im heutigen Russland vertraut ist, würde wohl bestätigen, dass sie sich durch die zitierten Worte ziemlich genau bestimmen lässt. Und dies ist nicht nur für Russland charakteristisch, sondern auch für viele andere Länder Süd- und Osteuropas, darunter – Südkaukasus, bzw. Armenien. Sieht man ab vom gemeinen Räsonieren der örtlichen Intellektuellen über die Sondermission (oder den durch das tragische Schicksal aufgezwungenen Sonderweg) des eigenen Volkes, seine besonders edle religiöse Konfession und einmalige Kultur, außerordentliche Neigung zum echten Glauben, kosmischer Gerechtigkeit, universaler Humanität und ähnlichen Floskeln, so konstatiert man, dass „die Situation mit dem Geist“ in den genannten Ländern nicht besser aussieht, als überall im Westen.

Bei alldem ist das Signal nicht zu übersehen. Der intuitiv gespürte Mangel an etwas, was der eigenen Gesellschaft fehlt und im „westlichen Angebot“ nicht zu finden ist, ist da. Wenn wir diese Lücke nicht durch die „kulturelle Expansion des geistlosen Westens“ erklären lassen wollen, wie man es in den nachsowjetischen Ländern immer öfter zu tun pflegt, gilt es die Frage zu stellen, was eigentlich beiden Seitenden Transformationsgesellschaften wie auch den traditionellen westlichen Demokratien – dazu fehlt, „to get Geist“ – selbst im postmodernen Sinne dieses nicht immer fassbaren Wortes.

B. Das Erbe Galileis: Protokollsätze und Menschenrechte 

Diese Fragestellung würde, wie ich vermute, von den meisten europäischen Intellektuellen mit dem Argument zurückgewiesen werden, dass für die Aufklärung im modernen Sinne nicht die Spekulationen über den Geist zählen, sondern die gesetzlich garantierte Bewahrung der Menschenrechte und die konkrete wissenschaftliche Bewertung der sozialen Verhältnisse, die sich auf die festen Fakten stützt. Schon richtig: Strenges Wissen gehört ins Phänomen Europa per definitionem. Die Entstehung seines Höhepunktes, der mathematischen Naturwissenschaft haben wir dem Galilei zu verdanken, der als erster zeigte: die Anwendung von mathematischen Formeln auf die Realität sei nur dann angebracht, wenn die letzte zuvor schon ordnungsgemäß idealisiert und schematisiert worden sei. Die auf diese Weise domestizierten Realitätsfragmente können mathematisch geschrieben werden. Danach stellt man die entsprechenden Objektverhältnisse in den Protokollsätzen fest. Nur Resultate dieses Verfahrens dürfen als Tatsachen, d.h. matters of fact anerkannt werden, die man als einzig geltende Realität wahrnehmen soll. Die philosophische Vollendung dieses entscheidenden Ansatzes für modernes europäisches Selbstbewusstsein findet man im berühmten Existenzkriterium von W. O. van Quine: „to be is to be the value of a bound variable“(2).

Nun, aber, stellen wir uns vor, wie die Europafunktionäre die Prinzipien der strengen Wissenschaft im Sinne eines Quines auf die „nicht ordnungsgemäß kultivierte“ Realität einer Transformationsgesellschaft anwenden, um z.B. die Fakten herauszufinden, die die Situation mit den Menschenrechten in jener Gesellschaft charakterisieren. Ein lustiges Exempel dessen liefert die europäische Wahlbeobachtung in den Transformationsländern ab. Ein Beobachter als eine Privatperson merkt, wie das Wahlprocedere in einem Wahllokal verletzt wird. Doch offiziell verfügt er über keine festen Fakten, weil die Betroffenen es nicht geschafft haben, den Tätern, d.h. den dafür offiziell beauftragten Personen im Wahllokal aufzudrängen, die Gesetzesverletzung ins Protokoll einzutragen. Sie haben sich zwar dafür energisch bemüht, aber vergeblich. Demgemäß existiert diese Verletzung für einen europäischen Beobachter, der mit den offiziellen Protokollsätzen operiert, als eine subjektive „Impression“, aber nicht als „Tatsache“. Aus der Sicht des Existenzkriteriums von Quine ist diese Stellung korrekt, obwohl der Sinn jener Wahlrechtsverletzung eben darin besteht, dass unter den gegebenen Umständen die Menschen es nie schaffen werden, die parteiische Behörde zu zwingen, die bewusst begangenen Verstöße gegen das Gesetzt in das offizielle Protokoll einzutragen.

In der Praxis stimmt das endgültige Verdikt der europäischen Beobachter fast immer mit den offiziellen Protokollsätzen örtlicher Behörden überein. Dadurch werden die Verletzungen der Menschenrechte legitimiert und die „streng wissenschaftlich“ präparierten virtuellen Realien zur einzig geltenden Realität erhoben. Die daraus entspringende Europafrustration derer, die eine wirklich essenzielle Europäisierung ihres Landes wollen, ist besonders schmerzhaft, da sie sich nicht vom traditionellen antiwestlichen Ressentimentgefühl nährt, sondern vom traurigen Bewusstsein, dass Europa nicht mehr seinem „richtigen Begriff“ entspreche und deswegen „geistlos“ sei.      

C. Simulacra  

Allerdings prägt die Stellung der europäischen Institutionen zu den genannten Situationen nicht die methodologischen Überlegungen, sondern die Realpolitik pur. Doch die methodologische Komponente des Beobachtungsprozesses ist auch nicht ohne Belange. Sie zeigt eben, dass die formal verstandene „strenge Methode“ keine realen Tatsachen fixiert und vielmehr mit den virtuellen Entitäten, bzw. Simulacra operiert. Die letzteren werden von den offiziellen Behörden der Europaspiranten geschaffen und von den entsprechenden Funktionären der internationalen europäischen Institutionen mit in Kauf genommen. Dies gilt nicht nur für Wahlbeobachtungen, sondern für alle Bestandteile des berüchtigten Europäisierungsprozesses. Es geht also, um eine bewusst veranstaltete Simulation von beiden Seiten. Gerade diese Simulation, die ja nie im Rahmen des Politischen bleibt, sondern viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, darunter Recht und Moral, kontaminiert, und die Fähigkeit der nationalen intellektuellen Eliten zu rationalen öffentlichen Diskussionen verheerend zerstört, wird in der Gesellschaft als leere Nichtechtheit, Inhaltslosigkeit und, letztes Endes, als Geistlosigkeit empfunden.

Was bleibt denn „guten Europäern“ in einer Transformationsgesellschaft übrig, wenn nicht der riskante Versuch, auf eigene Faust „den Geist zu kriegen“? Und das heißt, die Simulacra beider Seiten (die der National- und die der Europafunktionäre) loszuwerden und ihr Recht auf die eigentliche, d.h. freie Existenz mit dem „europäischen Geist“ gegen den „Ungeist“ der Europabürokraten durchzusetzen und damit das wirkliche Europasein ihres Landes zu behaupten.   

 

II. Zum Verhältnis von Modernisierung und Aufklärung

In einer Situation, wo die vormoderne Trickserei der lokalen Mächte und die nachmoderne Gleichgültigkeit der Europabürokratie realen Menschen einer Transformationsgesellschaft fast keine vernünftigen Gründe bieten, das unverbindliche Räsonieren über die „schönen“ europäischen Werte ernst zu nehmen, stehen die „guten Europäer“ einer doppelten Herausforderung gegenüber. Einerseits müssen sie wie gewöhnlich sich um die Aneignung der europäischen Regeln des sozialen Zusammenlebens kümmern, also als Lehrlinge agieren. Andererseits, nachdem es unverkennbar geworden ist, dass das reale Europa ihnen die faktische Unterstützung vorenthält, sind sie gezwungen, als einsame und deswegen souveräne Europäer aufzutreten, d.h. mit ihren Gesellschaften den Weg durchzugehen, den die Vorfahren der heutigen Europäer vor Jahrhunderten gegangen sind, um ihre Freiheit zu erwerben.

Dabei geht es nicht bloß um die rein politische Handlung. Die europäische Integration in den neuen Ländern gelingt, wenn sie nicht nur als eine Modernisierung im technisch-operationalen Sinne verwirklicht wird, sondern auch durch Aufklärung. Nur auf diesem „aufklärerischen“ Wege erwirbt die neu anerkannte Ordnung das „Gelten“ eines lebensweltlichen Gebots.(3) Die aus tiefer gesellschaftlicher Not unternommene Aufklärung verlangt nach einer inneren Aneignung der „systemischen Modernisierung“, die zu den nicht minder tief greifenden Transformationen der lebensweltlichen Realitäten führt.

Die Lebenswelt aber lässt sich nicht ohne Erfahrung eines geschichtlich durchgegangenen Weges transformieren. Fehlen einer Gesellschaft bestimmte Etappen historischer Entwicklung, so soll sie diesen Weg zumindest durch reflexive Verarbeitung und dekonstruktive Analyse ihrer lebensweltlichen Realitäten zurücklegen. Das bedeutet, unter anderem, dass man die operationalen europäischen Spielregeln immer wieder durch die eigene kulturelle Tradition auslegen und legitimieren muss.

Ein so verstandenes Aufklärungsprojekt, bei dem man im Geiste Europas mit einer „Abwesenheit Europas in Europa“ konfrontiert wird, ist auf die bekannte Diskrepanz bezogen, die die Prämissen der „toten Aufklärung“ (Gehlen) immer deutlicher von ihren „fortlaufenden Folgen“ trennt. Das Problem ist typisch westlich. Daher trifft es nicht nur die Lehrlinge, sondern die Lehrer selbst. Wer die lebensweltlichen Realitäten der Europaaspiranten prüfen will, muss zu einer Auseinandersetzung bereit sein, die alle lebensweltliche Prämissen, darunter auch die heutigen europäischen, in Frage stellt. Im Folgenden hoffe ich andeuten zu können, dass jene auf die Lebenswelt bezogene Aufklärungsdiskussion, wenn sie überhaupt erfolgen kann, etwas mit dem „Geist“ zu tun haben muss.

 

III. Methodologie als egoistisches Bedürfnis

A. Aus eigener Erfahrung

Die Vorgehensweise, die ich in der vorliegenden Skizze erörtern will, stammt aus Erfahrungen meiner philosophischen Forschungen der letzten Jahre. Hiermit gebe ich zu, manche von oben andeuteten Fragestellungen entstanden aus dem egoistischen Bedürfnis die eigenen Arbeiten im Nachhinein methodologisch zu reflektieren. Ich glaube jedoch, dass der vorgeschlagene Ansatz eine wirkliche und produktive Auseinandersetzung zwischen den nationalen und europäischen lebensweltlichen Diskursen provozieren kann. Meine Ausgangsbasis ist in erster Linie auf die essayistisch-philosophischen Projekte „Homo Trickster“ und „Gemeinschaft des Bundes“ bezogen. Aus verständlichen Gründen ist es hier unmöglich, auf die Inhalte der genanten Essays einzugehen.(4) Es sei nur gesagt, dass es um die Versuche geht, in denen die wichtigen Elemente der armenischen Lebenswelt mit den bekannten westlichen Denkfiguren zusammenstoßen. Die Figur von „Homo Trickster“ entstand im Jahre 2002, auch für mich ziemlich unerwartet, als ich das alte mittelalterliche Sujet (die Lebensgeschichte des armenischen Eposhelden, Mher des Jungen) in den Kontext des philosophischen Ästhetizismus im Sinne von Kierkegaard eintauchen ließ, und die Sammelfigur einer „Gemeinschaft des Bundes“ entsprang aus der Zusammensetzung der armenischen mediävalen „Wardanidengeschichte“ mit dem Heideggerschen Motiv des kollektiven Todes.

Es versteht sich von selbst, dass solche bizarre Experimente in der Philosophie nicht „sauber gemacht“ werden können. Für diese intellektuellen Abenteuer braucht man nicht nur logisch konstruierte Begriffe, sondern lebendige Charakters, eine Art plastische Modelle, die einige theoretische Risse und logische Sprünge im Gedankengang ermöglichen. Dabei sind diese Denkfiguren keine Neuigkeit. Man findet sie überall in den Humanwissenschaften. Dazu zählen, um nur die berühmtesten zu nennen, Hegels „Kampf für Anerkennung“, Kierkegaards „Erstsünde“, Freuds „Totem und Tabu“ und andere. Aus den letzten philosophischen Erscheinungen sind „Homo Sacer“ und „Muselmann“ von Giorgio Agamben musterhaft.

In Anbetracht jener Menge von klassischen Mustern gilt es die methodologische Frage zu stellen: Was will man eigentlich erreichen, indem man sich derartig seltsame Kreaturen ausdenkt und für seine Forschungszwecke ansetzt?

B. Agamben: Paradigmen

Giorgio Agamben gehört zu denen, die diese Frage explizit stellen. In seiner Vorlesung von 2002(5) spricht er über das Bedürfnis eines Wissenschaftlers, sich der methodologischen Prämissen der eigenen Studien bewusst zu werden. Er will die kognitive Bedeutung der Denkfiguren wie „Homo Sacer“ oder „Muselmann“ methodologisch erklären, weil diese, wie er glaubt, mehr als nur Beispiele oder historisch orientierte Fallstudien sind und für das breitere Problemnetz ihre Geltung bewahren. Agamben nennt diese Figuren „Paradigmen“ und weist darauf hin, dass auch Michel Foucault von diesem Wort Gebrauch machte und gerade in dieser Manier zu arbeiten pflegte. Sein berühmtes „Panoptikum“ sei nichts anderes als ein Paradigma gewesen. Foucault hatte in seinen Forschungen immer wieder mit konkreten Phänomenen zu tun – mit Konfessionen, juristischen Verfahren, u. a., die nicht als Beispiele, sondern als Paradigmen fungierten, da sie den ganzen Problemkontext definierten, den sie gleichzeitig konstituierten und begreiflich machten. Eben dadurch unterscheidet sich das Werk Foucaults von dem eines Historikers. Seine Methode ist nicht metaphorisch, da sie nicht vom Einzelnen zum Universellen führt, auch umgekehrt nicht, sondern sie bewegt sich vom Einzelnen zum Einzelnen und hat deswegen viel mehr mit der „Analogie“ zu tun. Von dieser Prämisse ausgehend, definiert Agamben das Paradigma als „Singuläres, das sich selbst als solches zeigt und dadurch einen neuen ontologischen Kontext schafft“. Dabei appelliert Agamben an die Etymologie des Wortes, das auf Griechisch heißt: „das, was sich daneben zeigt“.

Das heuristische Verfahren der Analogie, an das Agamben appelliert, scheint nicht besonders überzeugend zu sein. Vielleicht wurde das Wort ausgewählt, um die Pointe in Termini der angelsächsischen Tradition ausdrücken und mehr Verständnis bei dem konkreten, amerikanischen Auditorium finden zu können. Dies aber ist nicht gelungen. Der Diskussionsverlauf zeigt, dass die Zuhörer eher skeptisch geblieben sind. Doch es gibt eine zweite Linie, die bei Agamben nicht verkennbar ist, und zwar die phänomenologische. Sie erscheint in der Form der oben zitierten Paradigmendefinition, die in der Tat mit der Phänomensdefinition im Husserl-Heideggerschen Sinne zusammenfällt, und auf die phänomenologischen Züge eines transzendental-philosophisch gefärbten Ansatzes verweist. Der transzendentale Moment manifestiert sich deutlich, wenn Agamben über das „Schaffen der ontologischen Kontexte“ spricht, die durch Paradigmenaufbau gleichzeitig „konstituiert und begriffen werden“ können. Glücklicherweise dringt Agamben nicht in die Dschungel der phänomenologischen „kategorialen Anschauung“ ein. Dafür macht er einen bemerkenswerten Hinweis auf Feuerbach, der „einmal geschrieben hat, dass das philosophische Element in jedem Werke seine Entwicklungsfähigkeit sei“. Jene Entwicklungsfähigkeit interpretiert Agamben, im Sinne der bekannten Forderung Schleiermachers: „den Text besser zu verstehen als sein Verfasser verstanden hatte“.(6)  „Das Spezifikum von Paradigma besteht in der Suspendierung seiner unmittelbaren faktischen Referenz und Darstellung seiner Erkennbarkeit als solcher, die neue problematische Kontexte schafft“.

Die Fragen bleiben doch. Zunächst fragt man nach den Mechanismen, die einem Paradigma die Erzeugung der neuen Kontexte ermöglichen, d.h. sich Rechenschaft geben, warum ein Beispiel mehr sein kann, als nur ein Beispiel – wie überschreitet es die eigene Grenzen? Die zweite Frage lautet: Wie kommt es, dass die Paradigmen, die eigentlich nur theoretisch (wenn auch nicht völlig gestaltlos) behandelt werden, eine existenziale Bedeutung annehmen, als lebensweltliche Realität empfunden werden und aufklärend auf die Gesellschaft einwirken? Die beiden Fragen gehören zusammen und können als eine Einheit betrachtet werden. Um diese im Grunde genommen transzendental-philosophische Fragestellungen zu beantworten, gilt es sich an das klassische Erbe und zwar an die Philosophie von Hegel zu wenden.

 

VI. Über die Anwesenheit des Geistes

A. Gestalten des Bewusstseins

Von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ haben wir gelernt, wie die Logik einer geschichtlichen Gesellschaftsentwicklung als eine Erfahrung des Bewusstseins beschrieben werden kann. Dieser Beschreibung liegt die bekannte Unterscheidung zwischen den Begriffen und „Gestalten des Bewusstseins“ zugrunde. Unter den letzten versteht Hegel die noch unbegriffenen, im Entwicklungslauf des individuellen Bewusstseins auftretenden Erscheinungsformen, die sich als plastisches Ganzes konstituieren. Sie sind dem Bewusstsein zwar bekannt, aber vom Denken noch nicht erfasst und erkannt. Zu ihrem Gehalt gehören sowohl begriffliche, als auch anschauliche Momente.Die Hegelsche „Phänomenologie“ präsentiert den „Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen... durchwandelt“. Damit erscheint die Geschichte nicht als Historiographie, sondern als eine Abfolge der Situationen. Die Psychologie des Einzelnen und die Historie der Gattung werden in den idealisierten Situationsmodellen gleichermaßen widergespiegelt und gegenseitig oszilliert.(7)

Von diesem, phänomenologischen Standpunkt aus sind die Ungewissheiten zu klären, die bei der Analogieanalyse von Agamben offen geblieben waren: a) wie die „Beispiele“ die eigenen Grenzen überschreiten? und b) woher die Paradigmen ihre existenzielle Wirkungskraft erhalten?

Die erste Fragestellung wird durch den folgenden Spruch Hegels erhellt: „Die konkrete Gestalt, sich selbst bewegend, macht sich zu einfachen Bestimmtheit; damit erhebt sie sich zur logischen Form und ist in ihrer Wesentlichkeit; ihr konkretes Dasein ist nur diese Bewegung und ist unmittelbar logisches Dasein. Es ist darum unnötig, dem konkreten Inhalt den Formalismus äußerlich anzutun…“.(8) Nicht die Gestalt, also, sondern ihre Bewegung macht das Transformationsschema sichtbar, welches seine Geltung weit hinaus der Grenzen eines einzelnen Falles bewahrt. Eben dadurch dass die Konstellation in der eine Gestalt sich präsentiert, eine bestimmte Entwicklungslogik der sozialen Verhältnisse in sich trägt, wird die Gestalt zum Musterdasein erhoben und wirkt als Prinzip oder gar ein Verhaltensmuster, das weitere soziale Handlungen modellieren kann.

Die existenzielle Wirkung der Gestalten bzw. Paradigmen lässt sich durch zwei Faktoren erklären. Erstens, der gemeinte Prozess ist kein rein theoretischer: das zu untersuchende Subjekt fällt hier mit seinem Objekt zusammen und weist dadurch aus, dass es in der Situation als eine handelnde Person präsent ist. Zweitens, die Entwicklung überschreitet die Grenzen einer gewissen starren Situation und erzwingt den Übergang zu einer anderen. Hiermit transformieren sich auch Gestalten. Einen Vorgang, bei dem man selber einen Weg durchgeht, während uns die neue Situationen und neue Gegenstände begegnen, nennen wir Erfahrung. Dazu Hegel: „Diese dialektische Bewegung… insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird“.(9)  

Dieser Moment wurde in Heideggers Interpretation der Hegelschen Phänomenologie mit aller Deutlichkeit festgestellt: „Phänomenologie ist hier der Name für das Dasein des Geistes. Der Geist ist das Subjekt der Phänomenologie, nicht ihr Gegenstand“... Phänomenologie ist nicht „ein Vorstellen des Geistes“, sondern sie ist „das Dasein, die Anwesenheit des Geistes“.(10) 

Dazu fügt er noch an: „Das Erscheinen der Gestalten ist das eigentliche Anwesen selber: die Parusie des Absoluten“.(11) … „Die Parusie des Geistes geschieht als die Phänomenologie“,(12)

B. Anwesenheit als Geschichtlichkeit

Es gilt daran zu erinnern, dass die Parusie als Anwesenheit des Geistes auch bei Agamben eine bedeutende Rolle spielt. Der Terminus „parousía“ im Bezug auf die zweite Ankunft Jesu am Ende der Zeit, taucht in seinem Kommentar zu Paulus’ Römerbrief auf.(13) Die theologischen Aspekte des Buches lasse ich beiseite, will aber auf zwei Punkte Agambens hinweisen, die für unsere Zwecke bedeutend sind:

  1. Die wörtliche Deutung von  „parousía“ als „Neben-Sein“ (para-ousia) fällt mit Agambens Interpretation des Begriffs von „Paradigma“ zusammen,(14)
  2. „Die messianische Zeit“ wurde als „Übergangszeit zwischen zwei Perioden – d.h. zwischen zwei Parousien“ aufgefasst.(15)

Es ist leicht zu sehen, wie im Konzept Agambens das „Neben-Sein“ als Funktion eines intellektuell erarbeiteten und dargestellten Paradigmas sein quasireligiöses Analogon im „Neben-Sein“ des Messias findet, welches wiederum einen „neuen ontologischen Kontext“ mit sich bringt. In diesem Fall aber geht es nicht mehr um die unbestimmte Existenz eines Paradigmas, die als „intellektuelle Möglichkeit“ irgendwie erscheint, sondern um eine konkrete geschichtliche Situation, in die man hic et nunc geraten ist. „Parusie“ heißt lediglich, dass die neuen ontologischen Kontexte direkt in das Leben eingedrungen sind und unser „Neben-Sein“ als eine Teilnahme an den Übergangsprozessen verlangen.

Hiermit fällt die Parusie mit der realen Geschichtlichkeit zusammen. Für die Menschen in einer Transformationsgesellschaft heißt „geistig sein“, imstande zu sein, einen Übergang aus einem ontologischen bzw. geschichtlichen Kontext zum anderen intellektuell zu begreifen und existenziell auszuhalten. So wird der Geist „intelligibel“ in dem Maße, in welchem wir nicht über die sogenannten „Werte“ (seien es europäische oder nationale) immer wieder räsonieren, sondern die Transformation der ontologischen Kontexte als Transformation der lebensweltlichen Realitäten lebendig darstellen und dies dadurch zu eigener Erfahrung machen. Das hätte, wie ich vermute, die „Anwesenheit des Geistes“ im heutigen Sinne sein können.

 

V. Ist die Anwesenheit des Geistes darstellbar?

A. Mit dem Simulacrum gegen die Simulacra

Nun besteht die Frage darin, ob jene Anwesenheit des Geistes, die eigentlich als terminus technicus aus dem mentalistischen Paradigma eines Hegels oder Heideggers stammt, in den postmodernen Verhältnissen der sprach-pragmatischen Wende noch wissenschaftlich darstellbar ist? Was heißt die Anwesenheit des Geistes in einer Welt, die nichts außer Simulacra kennt, in der jeder Unterschied zwischen Original und Simulation längst gelöscht ist (Baudrillard)?

Eine sachliche Darstellung des anwesenden Geistes scheint mir doch möglich, da es dabei nicht um das Aussuchen und Herausfinden des „einzig möglichen“, d.h. urbildlichen und dadurch privilegierten „geistigen Originals“ geht, sondern die Echtheit des Vorhabens, mit dem man in vollem Ernst, eine aus den konventionellen Gestalten zusammengestellte Figur in Bewegung setzt, um die innere Logik der wohl bekannten lebensweltlichen Situation im Lichte unserer heutigen Herausforderungen modellieren zu können und, durch eine provokative „Wiederholung“, dem konkreten zeitgenossischen Kontext gerecht zu werden. Auch diese Figur kann als Simulacrum bezeichnet werden, wohl aber im heuristischen Sinne eines R. Barthes’, als eine idealisierte Struktur, die im neuen ontologischen Kontext neue, noch nicht gekannte Züge zum Vorschein bringt.

B. Zwei Optionen: konzeptuelle Personage und Intrige 

 Für die Erfühlung dieser heuristischen Funktion scheint die „konzeptuelle Personage“ von Deleuze und Guattari gut geeignet zu sein.(16) Diese Figur tritt laut den Verfassern nicht als „Wesen“ oder „Ding“, sondern als „Ereignis“ auf. Sie verfügt über gewisse Transformationskraft und „zeigt sich“ in ihrer Bewegung. Die so verstandenen Gestalten fallen nicht mit den geschichtlichen bzw. mythologischen Personen oder Situationen gleich, die sie auch verkörpern können. Dennoch erlauben sie es, die dahinter versteckten legitimierenden Traditionen oder sozialen Ordnungen, welche als unentbehrliche  Konstituenten der nationalen Lebenswelt gelten, mit einem neuen, entfesselten Blick zu erfassen. Es gilt die erstarrten, noch nicht in vollem Umfange durchgedachten Gestalten des nationalen Bewusstseins in eine verflüssigende Bewegung zu setzen, um in einem „pädagogischen Fortschreiten“ die Etappen der geschichtlichen Entwicklung des Volkes begrifflich erfassen zu können.

Die Bewegung der konzeptionellen Personage, die wir oben metaphorisch als „Ereignis“ bezeichneten, könnte in der operationalen Sprache des nachmodernen Denkens als Intrige jenes Ereignisses dargestellt werden. Diese Sprachperspektive führt uns einerseits in den Bereich der zeitlichen Schemata im Kantschen Sinne des Wortes, andererseits aber macht sie es möglich, die inneren Transformationen der Bewusstseinsgestalten als Episodenreihe einer Story darzustellen. Paul Ricoeur war derjenige, der die Priorität der produktiven Tätigkeit der Intrige gegen die statischen Strukturen, anachronistischen Paradigmen, außerzeitlichen Invarianten“ verteidigte und auf die deutliche Parallelen zwischen dem „konfigurierendem Aktus von Intrige“ und der Kantischen „produktiven Einbildungskraft“ hinwies. Bei Kant sind ja die Verstandskategorien von Anfang an durch die produktive Einbildungskraft schematisiert. Der Schematismus ist deswegen wichtig, weil er den Verstand mit der Intuition synthetisiert. Während eines Intrigeaufbaus entsteht die gleiche „gemischte“ Intelligibilität, in der „die Pointe“, das Thema, „die Idee“ einer „erzählten Story“ mit den intuitiven Vorstellungen über die Umstände, Charaktere, Episoden und Schicksalsperipetien durchdrungen ist, die zum Abschluss jener „Story“ führen. Daher hielt Ricoeur es für möglich, über den Schematismus der narrativen Funktion zu sprechen. Jener Schematismus entsteht in der realen Geschichte und besitzt alle charakteristischen Züge der Tradition – nicht im Sinne eines „toten Niederschlages“, sondern als lebendige Übergabe der kreativsten Momente des poetischen Aktes.(17)  

 

VI. Aufklärung als dekonstruktive Phänomenologie

Die Konzepte von Deleuze und Guattari, wie auch Paul Ricoeur, die wir oben sehr schematisch angedeutet haben, geben eine Vorstellung darüber, wie Hegels Idee der Phänomenologie anders und auf modernem Niveau hätte realisiert werden können. Bei dem vorgeschlagenen Ansatz lassen sich nicht nur die theoretischen Prämissen, sondern selbst das Leiden des menschlichen Selbstüberwindens als eine Transformation der konzeptuellen Personage durch eine Episodenreihe (Intrige) beschreiben. Die Erzählung ist in ihrer Aktions- und Leidenszeit zu reproduzieren, sagt Ricoeur. Hier dringen die Textwelt und Leserwelt ineinander. In der Suche nach eigener Identität ist die Kontinuität zwischen der „Anfangsgeschichte“ und der wirklichen Geschichte gewährleistet, für die wir die Verantwortung übernehmen.(18)

Die reflektierende Beschreibung der sich transformierenden Gestalten des Bewusstseins und die daraus entstehenden Gestaltkonstellationen wirken als kritische Dekonstruktion der nationalen Lebenswelt. Sie zerlegen das verknöcherte lebensweltliche a priori und machen es für Außenantriebe empfänglich. In solch einem Verfahren fallen die phänomenologische Beschreibung der lebensweltlichen Realitäten und ihre Dekonstruktion zusammen. Daher kann diese Methode als „phänomenologische Dekonstruktion der nationalen Lebenswelt“ bezeichnet werden.

 


Anmerkungen:

1 J. Derrida. Vom Geist. Heidegger und die Frage, Ffm., Suhrkamp, 1992, S. 144.
2 W. O. van Quine. On What There Is. in: From a Logical Point of View: 9 Logico-Philosophical Essays. Cambridge, Mass.: Harvard University Press; London: Geoffrey Cumberlege, 1953, p.1-19.
3 Dazu M. Weber über die legitime Ordnung.
4 „Homo Trickster“ wurde 2004 im Rahmen meines Kompaktseminars „Ernst und Gelassenheit der Postmoderne. Wo steht Europa?“ an der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin vorgetragen. Als Publikation existiert es nur auf Armenisch („Rubikon“, 2/7/2004). Für die deutsche Version von „Gemeinschaft des Bundes“ siehe in: A. Voskanian. Tod und Anerkennung. Paradoxien des kollektiven Daseins, in: Strukturen der Wirklichkeit. Schriftenreihe der DUA und der Akademie St. Paul, Bd. 2, Via Verbis Verlag, 2007, S. 35-68.
5 "What is a Paradigm" A lecture by Giorgio Agamben, August 2002: http://www.egs.edu/faculty/agamben/agamben-what-is-a-paradigm-2002.html
6 Die Agambens Schleiermacherinterpretation scheint doch fragwürdig zu sein. Vgl.: H.-G. Gadamer. Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr, 1972, S. 180-184.
7 Vgl. A. Voskanian. Tod und Anerkennung, S. 36-38.
8 G. W. F. Hegel. Phänomenologie des Geistes, Ffm., Suhrkamp, 1986, S. 55.
9 Ebenda, S. 78.
10 M. Heidegger. Hegels Begriff der Erfahrung. – derselbe. Holzwege, Ffm., Klostermann, 1994, S. 201.
11 Ebenda, S. 141.  
12 Ebenda, S. 204.
13 G. Agamben. Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Suhrkamp, Ffm., 2006.
14 Ebenda, S. 84.
15 Ebenda, S. 83.
16 G. Deleuze, F. Guattari. What Is Philosophy? N.Y., Columbia University Press, 1994.
17 P. Ricoeur. Time and Narrative, V. 1, Chicago and London: University of Chicago Press, 1984.
18 In diesem Sinne habe ich meine Arbeit „Gemeinschaft aufgeklärt“ aufgebaut, in der ein Versuch unternommen wird, die Modernisierungsetappen des „Russischen Armeniens“ als die persönlich erlebten Geschichten kreativer Selbstüberwindung von drei großen Armeniern – Aufklärer Abowjan, Historiker Leo und Dichter Tscharenz - zu erzählen.

1.2. Der Kaukasus und Europa / Caucasus and Europe

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For quotation purposes:
Ashot Voskanian: Vom Geist. Aufklärung als dekonstruktive Phänomenologie - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-2/1-2_voskanian17.htm

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