TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 3.9. Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts?
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Tobias Sosinka (Berlin) und Birgit Fritz (Universität Wien)

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Politisches Theater im ersten Viertel des Zwanzigsten Jahrhunderts

Ulf Birbaumer (Wien) [BIO]

Email: ulf.birbaumer@univie.ac.at

 

Der Begriff „politisches Theater“ setzt sich erst mit Piscators so benanntem Text durch. Natürlich gibt es politisches Theater schon früher; in Mittel- und Osteuropa seit der russischen Oktoberrevolution 1917 und in Deutschland seit der Novemberrevolution von 1918.

Eigentlich ist die Sache wohl so alt wie das Medium Theater selbst, ein Fakt, dem der Theaterschriftsteller Siegfried Melchinger in seinem Hauptwerk, der „Geschichte des politischen Theaters“ (1971), Rechnung trägt. Schon in der Antike war Theater gesellschaftskritisch, wurde es fallweise agitatorisch-propagandistisch eingesetzt. Besonders häufig überschneiden sich in dieser Funktion im 20.Jahrhundert (aber nicht nur da!) politisches Theater und populäres Theater (Volkstheater), dazu kommen Agit-prop, episches Theater (Brecht), später dann auch das sogenannte dokumentarische Theater (60er Jahre) und Boals politikotherapeuthisches Theater der Unterdrückten (70er Jahre). Dario Fo schließlich kreiert fast gleichzeitig die Synthese der beiden genannten Strömungen in seinen politischen Farcen: ein politisches Volkstheater.

Aufklärerisch, republikanisch, revolutionär gibt sich schon Louis-Sébastien Mercier, wenn er 16 Jahre vor der französischen Revolution in seinem „Neuen Versuch über die Schauspielkunst“ die Verdoppelung der Zuschauerkapazität, das Niederreißen der Wände, die Verdoppelung der Bänke – mit einem Wort einen „unabsehlichen Zusammenfluß des Volks“ fordert. Das führt zumindest schon in die Richtung eines populären Spektakels, wenn auch noch nicht mit dem Ziel, es als politisches Kampfmittel einzusetzen.

Immerhin: man darf da durchaus einen Bogen zum späten Wiener Agit-prop schlagen: etwa zu den Stadion-Spektakeln der Jahre 1931 und 1932 sowie zu den frühen Stücken von Jura Soyfer, etwa dem revuehaften „Weltuntergang“. Mercier prophezeit zwischen bürgerlichen Zeilen allzumal kämpferisches Theater, was später „Kampftheater“ heißen sollte, ein Theater, „das ungeheure Aufopferung forderte, das viele Helden und Märtyrer und eine heroische Geschichte hatte, welche einmal die deutschen Schulkinder lernen werden. Denn es wollte nicht Bühnenstile ändern, sondern die Welt.“ (Béla Balász)

In Piscators „Zeittheater“ findet dann das politische Theater einen Höhepunkt: die Spektakelkunst als Waffe (Friedrich Wolf schreibt 1928 von der „Kunst ist Waffe“), ein Faszinosum aus Wucht und Entschlossenheit, aus Geschrei, Liebe, Tod, Haß, auf einer Bühne ohne Grenzen, mit der theatralisch eingesetzten neuen Filmtechnik als Hauptwaffe und Entgrenzungsmittel.

In der „Roten Fahne“ vom September 1927 schreibt Slang (recte Fritz Hampel) über die Piscator-Inszenierung von Ernst Tollers „Hoppla, wir leben!“:„Der Rahmen dieser Bühne hat keine Grenzen. Nicht umsonst hat Piscator den Film als Hauptwaffe gewählt. Die Szenen aus Weltkrieg und Revolution, die tanzenden Beine und boxenden Fäuste, der Torso des Generals, dem eine Hand den ganzen Klempnerladen herunterreißt… ‚Der General wird zum Präsidenten gewählt’, kündet der Lautsprecher. Und über demSchrei der Menge steht schon riesenhaft, lächerlich und drohend der Vater des Vaterlandes. Dazwischen immer wieder ein großes Ziffernblatt mit dem Zeiger der Zeit: 1924 – 1925 – 1926: Lenin tot, Generalstreik in England, Aufstand in Marokko,Revolution in China. Rettet Sacco und Vanzetti! Die Arbeiter, die am Schluß der Vorstellung nach Piscator riefen und stehend die ‘Internationale’ sangen, fühlten es in allen Fasern: Hier schafft ein Mann, der mit dir kämpft und fühlt.”

Aber so weit sind wir noch nicht.

Natürlich gab es Vorstufen zu einem politischen Theater vor 1917/18 und der Nachkriegszeit, wo ja erst so richtig einsetzt, was wir massenhafte Spektakelkunst mit gesellschafts- und politikkritischen Vorzeichen nennen könnten. Sicher zählt Antoines Pariser „Théâtre libre“ dazu, die Zusammenarbeit mit Emile Zola, sicher die naturalistischen „Weber“ von Gerhart Hauptmann im Rahmen der Freien Volksbühne Berlin (Gründung 1890). Das Stück war bereits 1893 in einer geschlossenen Aufführung der Freien Bühne gezeigt worden (siehe Siegfried Nestriepke: Geschichte der Volksbühne Berlin, 1930, S. 42 und S.1o2 f.).

Immer wieder waren auch Versuche erfolgreich, das alte Volkstheater, die alte commedia popolare in neue Theaterschläuche zu gießen. In Österreich fiel die Berliner Volksbühnenbewegung bei den Sozialdemokraten auf fruchtbaren Boden: Während David Bach als Leiter der Kunststelle versuchte, die Arbeiterclientèle an das (bürgerliche) Theater heranzuführen und so das Kulturleben zu entpolitisieren, die „Kunst von der Politik zu befreien“(Bach: „Die Künstler und der Sozialismus“ aus der Arbeiter-Zeitung vom 9.Februar 1919, zitiert von Jürgen Doll: Theater im Roten Wien, 1997, S.27), wollte der Dichter und Theoretiker Josef Luitpold Stern eine austromarxistische Gegenkultur schaffen, die er in der Zeitschrift der sozialistischen Bildungszentrale „Bildungsarbeit“ ausrief, mit dem Ziel, den „neuen Menschen“ zu schaffen, was oft Anlaß für bissige Satiren von Karl Kraus war, der ja anfangs die sozialistische Bildungsarbeit noch positiv beurteilt hatte. Für Stern, der Bachs Vorstellungen vehement bekämpfte, ging es bei der sozialistischen Kulturarbeit nicht darum, die Arbeiterklasse an ein universelles Kulturerbe heranzuführen, das für ihn immer ein bürgerliches Erbe darstellt, sondern eine „sozialdemokratische Gegenkultur als Keimzelle einer proletarischen Klassenkultur“ (Doll, S.32) zu schaffen. Stern in der Schrift „Auf dem Weg zur Kultur“(1926): „War es schwer, die verdammte Bedürfnislosigkeit der Massen zu überwinden? Es wird schwerer sein, das erwachende Kulturbedürfnis der Massen vor der Verdammnis seiner Verbürgerlichung zu bewahren…“ (ebd.) Stern vertritt somit einen sehr breiten Kulturbegriff und vertritt ähnlich Antonio Gramsci die Meinung, daß es Aufgabe der Intellektuellen sei, die Arbeiter an ihre (verschüttete) Kultur zu erinnern und ihnen zu helfen, sie wieder zu entdecken (Gramsci in den „Gefängnisbriefen“).

Ähnlich sieht es auch Piscator in Zusammenhang mit seinem Begriff des „politischen Theaters“: „Es ist merkwürdig, wie spät die organisierte Arbeiterschaft in ein positives Verhältnis zum Theater tritt. Sie nutzt alle Äußerungsmöglichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft, sie schafft sich, wenn auch in relativ bescheidenem Umfang, eine eigene Presse, sie tritt im Parlament auf, sie dringt in den Staat ein. Das Theater läßt sie unbeachtet.“

Für ihn ist das Proletariat zu Ende des 19.Jahrhunderts noch ganz im Bann der bürgerlichen Kultur von „Rotplüsch und Stuckgold“, zu sehr binden politischer und gewerkschaftlicher Kampf alle Kräfte. Da bleiben zur Einbeziehung von Kulturfaktoren in den Kampf keine Energien mehr frei. Deshalb hält auch er den Naturalismus für überaus bedeutend und zitiert eine Zeitungsmeldung über die Wirkung der Aufführung der „Weber“ auf das Proletariat:

„…während des vierten Aktes gärte es im Publikum fast mehr als auf der Bühne. Die Leute konnten ihren Unwillen, ihre durch den Dichter aufgewiegelte Teilnahme nicht mehr zurückbäumen. Ein Sturm drohte loszubrechen, der nur mit Mühe niedergehalten wurde. Mitten in den Akt hinein erbrauste ein jubelnder Lärm, der das Spiel auf Minuten unterbrach und wie ein Schrei der Entrüstung über das menschliche Elend das Haus durchtobte.“ (Erwin Piscator: Zeittheater, 1986, S.34)

Der vielleicht wichtigste Ansatzpunkt für ein revolutionäres Theater im Sinne populärer Spektakelkunst als Mixtur von politischer Literatur und Volkstheater ist schon im Rußland vor der Oktoberrevolution zu finden, vor allem in den Arbeiten Meyerholds. Unter den für den Theateroktober, vor allem für die Revolutionierung der theatralen Ausdrucksmittel durch die Troika Wachtangow / Tairow / Meyerhold, relevanten Texten sind vor allem „Das bedingte Theater“ (1906) und „Balagan“ (1912) zu nennen. Beide Beiträge können bereits als Versuch gelten, die einfachen Strukturen des Volkstheaters (Balagan bezeichnet ja die russische Jahrmarktsschaubude) und das politisch-revolutionäre Theater zusammenzudenken. „Das bedingte Theater befreit den Schauspieler von der Dekoration, indem es ihm den dreidimensionalen Raum schafft und ihm die natürliche statuare Plastik zur Verfügung stellt. Dank der bedingten Technik wird die komplizierte Theatermaschinerie unnötig, die Inszenierungen werden zu einer solchen Einfachheit geführt, daß der Schauspieler auf die Szene gehen kann, sein Werk unabhängig von Dekoration und Dingen, die speziell für eine Theaterrampe eingerichtet wurden, von allem Äußerlich-Zufälligen vorführen kann.“ (Das bedingte Theater. In: Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert, 1982, S. 245 f.)

Das Balagan dient seit dem 18.Jahrhundert zur temporären Aufführung von Theater- und Zirkusspektakeln, später auch für effektvolle Harlekinaden, wozu ein Ausrufer in seinen improvisierten Monologen ganz in der Tradition der Skomorochen, dem osteuropäischen Pendant zu den westlichen Giullari, Jongleuren, Spielleuten, die Herrschenden sehr direkt attackierte.

So wird die Vorliebe der jungen Theaterevolutionäre für das teatro popolare nur zu verständlich, eine Vorliebe, die später in der Aufführungspraxis der Fiabe Carlo Gozzis gipfelt. Das Jahrmarktstreiben vom Mittelalter bis ins späte 19.Jahrhundert haben es Meyerhold angetan, das Balagan als Tummelplatz der Skomorochen, der Harlekine, als Schaubude für deftige Grotesken und Puppenspiel: das Phantastische, das Lebensfrohe, das Tragikomische, das Dissonante im Alltäglichen; „die Überwindung des Alltagslebens im Alltagsleben“ (Meyerhold: Balagan, in: Schriften, 1.Band, 1979, S.22o).

Der Harlekin wohl ganz besonders, der Harlekin in seiner Zwiegesichtigkeit, Einfaltspinsel und Ränkeschmied, Gott und Teufel, der schließlich seinen berühmten Sprung tut unter die Leute auf der Piazza (Ecco-mi, dabin ich!) und ihnen mit flotter Zunge sagt, was politische Sache ist. Man vergleiche dazu Dario Fos Geschichte von der „Geburt des Giullare“ aus „Mistero Buffo“ und die wohl nicht ganz zufällige Fast-Übereinstimmung mit dem Stücktitel Majakowskis. Der Harlekin, der Balagantschik ist Träger der alternativen Information: subversiv, politisch.

„Das Maskentheater war immer ein Balagan; die Idee einer Schauspielkunst, die auf der Vergöttlichung der Maske, der Geste und der Bewegungen beruht, ist untrennbar mit der Idee des Balagans verbunden. Wer die Reformierung des heutigen Theaters betreibt, träumt davon, die Prinzipien des Balagans zu verwirklichen. Den Skeptikern aber scheint es, daß der Film ein Hindernis für die Wiedergeburt der Prinzipien des Balagans auf der Bühne ist. Jedesmal, wenn man auf die Wiedergeburt des Balagans zu sprechen kommt, finden sich Leute, die entweder die Notwendigkeit der Techniken des Balagans auf der Bühne überhaupt bestreiten oder den Film begrüßen und wünschen, daß das Theater ihn in seinen Dienst nehme.“ (Meyerhold, S.211)

Der Film, bei Meyerhold ein zeitgeistiger „Abgott der heutigen Stadt“, wird zwar vor allem dokumentarisch (für die Wissenschaft auch) für bedeutend angesehen. Ohne ihn überschätzen zu wollen, hat er für Meyerhold dennoch Gewicht. Das politische Theater Piscators, die Piscator-Bühne, wird sich seiner im Übermaß bedienen. Ganz im Sinne von Majakowskis Spruchbandtext zum „Schwitzbad“: „Das Theater ist kein wiederspiegelnder Spiegel, sondern ein Vergrößerungsglas. Mit scharfen Mitteln muß man kurieren.“ (bei Doll, S. 85)

Aus dem Gesagten wird, so hoffe ich wenigstens, deutlich, daß politisches Theater gegen das herrschende, das affirmative gemacht wurde, im Inhaltlichen wie im Formalen. Béla Balász, bekannter wohl als Filmtheoretiker, denn als Theatermann (wir kommen auf seine „Ketzer“, Berliner Rote Spieler oder Blaue Blusen, noch zurück), hat die Gegenposition, die das politische Theater sowohl im damaligen Theaterbetrieb als auch in der Position gegenüber den Herrschenden eingenommen hat, später einmal auf den Punkt gebracht (Hoffmann und Hoffmann-Ostwald geben in ihrer Dokumentation „Deutsches Arbeitertheater 1918-1933“, in Berlin 1977 in dritter Auflage erschienen leider keine Quelle an):

„Doch gab es in jenen Jahren ein Theater in Deutschland, das keine Sensationspremieren hatte, keine Feldherrnregisseure, die auf den Bühnen blendende Kunstschlachten lieferten, keine fahnenschwingenden, großen Kritiker und keine großen Schauspieler. Überhaupt keine Schauspieler, überhaupt keine richtigen Bühnen! Es war ein Liebhabertheater, wenn man will, obwohl seine Mitglieder nicht vor allem das Spiel liebhatten, diese Liebhaber und Haßhaber…
Ein Kampftheater, das ungeheure Aufopferung forderte, das viele Helden und Märtyrer und eine heroische Geschichte hatte, welche einmal die deutschen Schulkinder lernen werden. Denn es wollte nicht Bühnenstile ändern, sondern die Welt.“ (Hoffmann/Hoffmann-Ostwald, S.11)

Theater sollte die Welt verändern helfen, ob als Laientheater oder als professionelles Theater. Und es wollte auch sonst sehr vieles auf einmal sein: Volkstheater, Arbeitertheater, Agit-prop- und Revolutionstheater, proletarisches Lehrstück, Zeittheater, „massenhaftes“ Theater (übrigens ein Ausdruck von Walter Benjamin), Revuetheater. Demokratisches Theater ?

Schon 1920 sagt Piscator, was proletarisches Theater (für ihn damals = politisches Theater) anstreben sollte: „Die Leitung des proletarischen Theaters muß anstreben: Einfachheit im Ausdruck und Aufbau, klare eindeutige Wirkung auf das Empfinden des Arbeiterpublikums, Unterordnung jeder künstlerischen Absicht dem revolutionären Ziel: bewußte Betonung und Propagierung des Klassenkampfgedankens.

Das proletarische Theater will der revolutionären Bewegung dienstbar sein und ist daher den revolutionären Arbeitern verpflichtet. Ein aus ihrer Mitte gewählter Ausschuß soll die Verwirklichung der kulturellen und propagandistischen Aufgaben verbürgen.“ (Hoffmann/Hoffmann-Ostwald, 1.Band, S. 68)

Piscator entwickelte das politische Theater in der Folge unter Einbeziehung der technischen Entwicklung (Projektionen, Film) hin zu einer Ästhetisierung des Revolutionstheaters mit den Mitteln der „politischen Revue mit stark agitatorischem Charakter“ (Brauneck, S. 311), unterstützt durch die expressionistische Stationendramaturgie, ohne das oben angeführte Ziel aus den Augen zu verlieren. Beispiele dazu wären „RRR“ (Revue Roter Rummel, 1924) und „Trotz alledem“ (1925). Zusammen mit Ernst Tollers „Hoppla, wir leben!“ (1927) mögen sie als Grundmodelle des deutschen Agit-prop-Theaters gelten; sie waren ideologisch wesentlich von der KPD geprägt gewesen.

Als besonders konsequentes Beispiel politischen Aktionstheaters sei noch die Gruppe „unsichtbarer Schauspieler“ „Die Ketzer“ von Béla Balász in Berlin erwähnt, der noch 1930 eines klandestines Partisanentheater auf der Straße betrieb, nimmt es doch Augusto Boals „unsichtbares Theater“ vorweg (mit der „Lebendigen Zeitung“ auch dessen Zeitungstheater).

Zwei Schauspieler treten plötzlich vor mit sündteuren Waren (Kaviar, Ananas etc.) gefüllten Auslagen von Delikatessengeschäften auf: einer fällt angesichts der ausgestellten Herrlichkeiten vor Hunger in Ohnmacht, der andere kümmert sich um den bleichen Hungernden, eine Szene, die jeweils eine Handvoll Passanten anzog, die sich nach dem Ohnmächtigen erkundigten und ihre Hilfe anboten. Wegen des Versammlungsverbots waren sofort Polizisten zur Stelle, die die „Zuschauer“ auf das nächste Kommissariat verfrachteten. Diese zeigten sich überrascht bis empört, als man ihnen vorwarf, einer Theateraufführung der „Ketzer“ beigewohnt zu haben. Sie wüßten nichts von Arbeitertheater, sehr wohl aber von Hungerleidenden, die an allen Ecken der Stadt Hilfe benötigten. So mußten die Passanten wieder freigelassen werden, während die Schauspieler, die sich unmittelbar aus dem Staub gemacht hatten, ihr unsichtbares Theater vor dem nächsten Delikatessenladen wiederholten.

Die Wiener Entwicklung weicht politisch von der deutschen ab, weil in Österreich die KP eine wesentlich geringere Rolle spielte. Das hatte seine Gründe nicht zuletzt in der Tatsache, daß zumindest Teile der österreichischen Sozialisten viel weiter links standen als ihre deutschen Genossen. Das spiegelte sich in den parteiinternen Auseinandersetzungen, etwa in dem schon erwähnten Streit zwischen Bach und Luitpold Stern.

Bei der dramaturgischen Form der Anfänge eines politischen Theaters in Österreich darf nicht übersehen werden, daß es hierzulande keinerlei Tradition der theatralischen Satire gab, wo das politische Theater/Kabarett hätte anschließen können. Bleibt Karl Kraus, die „Fackel“ und seine „Letzten Tage der Menschheit“, auf den man sich nach seinen zahlreichen Ausfällen gegen die sozialistische Bildungsarbeit wohl nicht mehr berufen wollte.

Nach bescheidenen polittheatralen Anfängen innerhalb der sozialistischen Festkultur, getragen von den Sozialistischen Mittelschülern und der Arbeiterjugend, konstituierte sich 1919 die Freie Vereinigung sozialistischer Mittelschüler (VSM) als Kern der Veranstaltungsgruppe. Sie stand weit links und arbeitete fallweise mit der KPÖ zusammen.

In den von VSM und Sozialistischer Arbeiterjugend organisierten roten Ferienkolonien in Lind bei Villach und in Ferlach helfen prominente linke Intellektuelle mit, Laienspiele zu kreieren, die langsam zu einer Art sozialistischem Wandertheater wurden, eine Vorform der bekannten Roten Spieler, für die auch der junge Jura Soyfer ein paar Szenen schrieb. Zu den bekanntesten Mitorganisatoren und Autoren zählten Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld, Robert Ehrenzweig (der sich dann im Londoner Exil Robert Lucas nannte), Ludwig Wagner und Hans Zeisel. Es wurden vor allem historisch-politische Revuen realisiert, die u.a. die Revolution von 1848 oder die Bauernbefreiung aktualisierend zum Thema machten. Das war 1924, als der dezimierte VSM (viele waren zur KP übergelaufen) der Wiener Sozialistischen Arbeiterjujgend angegliedert wurde. „Im Laufe der Zeit bildete sich der teils politische, teils satirische und lebensreformerische Charakter der Feiern…heraus.“ (Friedrich Scheu: Humor als Waffe, 1977, S. 19 f.) Letzteres durchaus mit deutsch-jugendbewegten Nuancen.

Als Beginn des Wiener Politischen Kabaretts wird meist das sog. Ur-Kabarett von 1926 (mit Bürgermeister Seitz und Parteiführer Bauer im Publikum) im Pötzleinsdorfer Czartoryski-Schlössl angesehen. Es ist auch demokratiepolitisch von Bedeutung, weil es interne Kritik an Aussagen der Parteiführer oder an Programmen von einzelnen Parteiorganisationen übte. So wurde etwa Otto Bauers Programm zur Erringung der zur Mehrheit fehlenden 300.000 Stimmen wie folgt satirisch kommentiert.

Der Darsteller von Seitz:

Und wenn wir die Mehrheit glücklich erreichten, So laß’ma das Rathaus festlich beleuchten. Und wenn sich alle recht wienerisch fühlen, So wer’n wir den Donauwalzer spielen.

Hans Zeisel hatte eine etwas respektlosere Variante bereit:

Und wenn wir das Ziel erreichten, Was mach’mer dann, ja was mach’mer dann? Dann laß’ma das Rathaus beleuchten Und fangen von vorn wieder an. (Scheu, S.23 f.)

Die Parteigrößen nahmen’s mit Humor. Schließlich gab es auch genug Spott für den politischen Gegner, vor allem in den folgenden Programmen, das von einem Autoren-

Kollektiv verantwortet wurde, bestehend aus Viktor Grünbaum (der spätere Victor Gruen), Robert Ehrenzweig, Ludwig Wagner. 1927 kam Karl Bittmann und 1929 Jura Soyfer dazu.

Am 18.Dezember 1926 hatte das erste Programm des Politischen Kabaretts unter dem Titel „Wien wie es lacht und weint“ Premiere. Erst am Dreikönigstag 1927 schreibt die Arbeiter-Zeitung darüber. Jacques Hannak meint, daß die roten Kabarettisten alle die Götter der bürgerlichen Welt mit der befreienden Kraft der Satire entgöttert hätten. „Alle die schwankenden Gestalten unseres Österreich, die Seipel, Ahrer, Kollmann, Vaugoin, die Hausherrn und die Heurigen, die Klassenrichter und die Kreuzelpresse, aber auch die Phänomene des Auslandes, die Mussolini-Großmäuler und die Horthy-Banditen, sie zogen in buntesten Gestalten, in Musik und Versen in Szenenbildern und Regieeinfällen von oft verblüffendem Einfallsreichtum drei Stunden lang an uns vorüber, und wir wurden nicht müde, zu schauen, zu lachen, zu lernen…Es war ein großer Anschauungsunterricht der Propaganda für unsere Ideen, es war aber auch eine große Verheißung, daß, wo so viel ursprünglicher Humor…und vor allem so viel Glück der

Gemeinschaft…vorhanden ist, auch tüchtige und frohe Kämpfer für unsere Gesamtbewegung heranreifen.“(Scheu, S. 36)

Es fällt auf, daß Hannak den Humor betont, der in anderen Kulturprogrammen der Sozialisten wie der Kommunisten, etwa in den Arbeiter-Sprechchören Ernst Fischers oder den sozialistischen Oratorien und Kantaten oft gefehlt haben dürfte, so sehr scheinen sie dramaturgisch an katholischen Vorbildern orientiert.Wie ja überhaupt die linken Aufmarsch-

Manifestationen sehr viel von der barock-katholischen Prozessions- und Spielkultur entlehnte.

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, daß die Nazis ihrerseits die Strukturen linken Agit-props und sozialistischer Veranstaltungskultur (etwa Turnfeste und Großfeiern) kopierten. Aufs erste Hinschauen unterschieden sich die Turnerbundaktivitäten von den Arbeiterturnfesten oft nur durch die unterschiedliche Parteisymbolik.

Ähnlich verhält es sich mit den großen Massenspektakeln im Wiener Stadion 1931/32, wo u.a der Sturz des monstruösen Popanzes „Kapital“ unter Mitwirkung der Mitglieder von Parteiorganisationen von über 20.000 politisch engagierten Zuschauern bejubelt wurde. Aus alldem scheint klar zu werden, wo Leni Riefenstahl gelernt hat.

Zusammenfassend wäre zu sagen, daß das Politische Theater in seinen Anfängen auf sehr einfache, populäre Theatermittel zurückgriff: auf Formen der Commedia dell’arte, des Jahrmarkttheaters (inklusive des mittelalterlichen Spielmanns und seiner Weiterführung in den folgenden Jahrhunderten), auf Elemente des Zirkus und des Revuetheaters, wie man etwa an den beliebten „Girls“ der Programme des Politischen Kabaretts sehen kann.

Ziel war es, das Publikum sehr unmittelbar anzusprechen, bis hin zu diversen Formen des Mitspiels. Wesentlich sind ferner die didaktischen und agitatorischen Elemente (Agit-prop) und der spontane, oft improvisatorische Spektakelspaß mit Situationskomik, Lazzis, Slapstick.

Schon bei den Russen, vor allem aber bei Piscator entwickelt sich auch eine technifizierte Richtung, die alle verfügbaren technischen Medien (Radio, Projektion, Film) in die Aufführungspraxis integrierte (Piscator-Bühne), wobei fallweise futuristische und konstruktivistische Elemente, vor allem in Rußland, eingebunden wurden. Im deutschsprachigen Raum wurden auch verschiedene Formen des Literaturtheaters genutzt, etwa die des Zeitstücks, des Tendenztheaters und des Besserungsstücks, aber auch Chorwerke und Kantaten. Insgesamt läßt sich sagen, daß Politisches Theater im eingangs definitorisch eingegrenzten Sinn zu Ende des Ersten Weltkrieges voll einsetzt.


3.9. Gibt es ein Politisches Theater des 21. Jahrhunderts?

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For quotation purposes:
Ulf Birbaumer
: Politisches Theater im ersten Viertel des Zwanzigsten Jahrhunderts - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-9/3-9_birbaumer.htm

Webmeister: Branko Andric     last change: 2010-02-16