Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Organisation von Literatur und Literaturvermittlung.
Zum Verständnis von Dichtung und Dichtern im 20. Jahrhundert
am Beispiel des George - Kreises, seiner Schüler und Enkel

Gerhard Fieguth (Koblenz)

 

I.

Zu allen Zeiten ist die Existenz des Kunstwerks, seine Produktion, Distribution und Rezeption, bezogen auf je spezifische Organisationsstrukturen. Diese sind insgesamt sehr variabel gestaltet und in Abhängigkeiten individualpsychischer, nationaler und ökonomischer, allgemeinkultureller wie konkret medialer usw., jedenfalls interessengelenkter Faktoren zu sehen. In aller Kürze soll am Exempel Stefan Georges und seines Kreises vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit beobachtet werden, welchen Aspekten solche Literaturorganisation unterliegen kann. Die Untersuchungslinie soll sich dabei mit Absicht einer noch nicht genügend wahrgenommenen Seitenlinie, die von George über Ernst Bertram zu dem deutschen Germanisten Paul Requadt führt, zuwenden.

Bereits in der ersten Blütezeit deutschsprachiger Literatur, historisch in der Stauferzeit, sprachgeschichtlich im Mittelhochdeutschen, also um 1200, bemerken wir das Phänomen, daß sich die Dichter untereinander mit Aufmerksamkeit, mit Lob und Kritik, mit dezidierter Nennung und gewolltem Verschweigen begegnen. Als Beispiel nenne ich jenen berühmten sogenannten "Literaturkatalog", in dem sich Gottfried von Straßburg im "Tristan" in über 250 Versen mit den bedeutendsten Schriftstellern seiner Zeit wie Hartman von Aue, Heinrich von Veldecke, Walther von der Vogelweide, Reinmar von Hagenau, auseinandersetzt.

Diese Tradition setzt sich in der Folge fort bei Rudolf von Ems in "Alexander" (nach 1230) und "Willehalm von Orlens" (um 1240) und Heinrich von dem Türlin in seiner "Crone" (nach 1220). Im 16. und 17. Jahrhundert führten die humanistischen Studien an den Universitäten, insbesondere die einsetzende philologische Beschäftigung mit Sprache und Literatur der Antike, zu einer zunehmenden Theoriebildung der Literatur. Sie kuliminiert in den normativen Gattungspoetiken des Barock (Opitz, Poeterey 1624). Ein Jahrhundert später erblickt das gelehrte Deutschland in Johann Christoph Gottsched (1700-1766) einen ersten "Literaturpapst"(1), dessen Autorität die literarische Welt dominiert.

Als Universitätslehrer und Dichter, als Herausgeber und Übersetzer, als Kritiker und Anreger von kaum gekannter Vielfalt gestaltet er Literatur erstmals zu einer verwalteten, also organisierten Kraft. Die sich im gleichen Jahrhundert hauptsächlich durch Lessings Leistung etablierende und bis in die romantische Epoche wirkende Literaturkritik ist eine Folge dieser Gottschedschen Aktivitäten.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht nach allgemeiner Einschätzung die Wissenschaft der Germanistik - als Sprachwissenschaft begründet von Humboldt und den Grimms, als Literaturwissenschaft durch Georg Gottfried Gervinus "Geschichte der poetischen National - Literatur der Deutschen" (1835-42). Die Dichtung rückt in historische und gesellschaftspolitische Bezüge, sie ordnet sich in einem zeitlichen Kontinuum. Es kann nur angedeutet werden, daß mit einer überwiegend historisch ausgerichteten Literaturwissenschaft sowohl die Produktions- wie Rezeptionsprozesse beeinflußt werden. Produktionsästhetisch bewirkt eine sich geschichtlich orientierende Literaturwissenschaft die Dominanz stil- und epochengeschichtlich fixierter Muster bzw. eine sich im Zeichen von Modernismus gewollt absetzende Antigestaltung. Und die Rezeptionsweisen werden über die Vermittlungsinstanz entsprechend ausgebildeter Deutschlehrer und Literaturvermittler jeder Art - vom Verleger über den Buchhändler bis zum Kritiker - in diesem Sinne, Kunst als historisch verstehbare Emanation, gesteuert.

Im 20. Jahrhundert(2) erscheinen als Folge sich durchsetzender Pluralismen Organisationsformen von Literatur, die eine große Varianz gestatten: Im literaturwissenschaftlichen Methodenkanon ergänzen sich zunehmend ganz unterschiedliche Ansätze: geistesgeschichtliche, werkimmanente, soziologische, strukturalistische, linguistische Ansätze. Die ideologischen Systeme wie Faschismus und Kommunismus haben in oft unverhüllt - direkter Form mit einem Bündel unterschiedlichster Mittel die Literaturorganisation in Staats- und Parteiregie übernommen. Mit Propagandaschlachten gegen "entartete Kunst" im Faschismus, gegen staatskritische Literatur wie im Falle Samjatins Ende der 20er Jahre in der Sowjetunion, gegen Abweichler vom vorgeschriebenen Literaturprogramm vom Typus des "Sozialistischen Realismus" gegen Brecht anfangs der 50er Jahre, später gegen Kunert und Kunze, Sarah Kirsch und Plenzdorf in der früheren DDR. In Westdeutschland organisierte sich ein bedeutender Kreis von Autoren, Verlegern und Wissenschaftlern nach dem 2. Weltkrieg als Gruppe 47. Obwohl dieser Kreis, so Reich-Ranicki, weder ein Verein noch Verband war, keine Satzung und kein Programm, keine feste Mitgliedschaft noch einen Vorstand oder ein Präsidium hatte, war sie dennoch für wenigstens zwei Jahrzehnte deutscher Nachkriegsliteratur von größter Bedeutung.

"Es gab Phasen, in denen nahezu alle als wichtig empfundenen Novitäten auf der Bühne und dem Buchmarkt von Autoren stammten, die entweder zum festen Kreis der Gruppe gehörten oder zumindest durch eine Einladung und Lesung mit ihr in Berührung gekommen waren. Dieser Kontakt wurde besonders für junge Schriftsteller zu einem Kriterium. Auf einer Tagung der Gruppe entschied sich für viele, ob sie reüssierten oder durchfielen.(3)
Denn die Kritik, die dem Lesenden auf dem >>elektrischen Stuhl<< widerfuhr, war von schonungsloser Offenheit. Mancher Roman wurde nicht weiter geschrieben, weil die 47er Mentoren ihn als zu leicht befunden hatten. In der Tat hat diese Kritik manches Mißverständnis eines Autors über sich klären helfen und Begabungen nicht selten in einem entscheidenden Moment gefördert. Die Maßstäbe, die durch das Zensorium gesetzt wurden, fanden in der Gruppe wie außerhalb (denn natürlich drangen Interna nach außen) durchdringende Geltung. Der Betroffene - heute undenkbar - durfte sich nicht wehren, nicht mitdiskutieren. Er bekam seine Analyse, basta."

 

II.

Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bildete sich um Stefan George, und von ihm bis zu seinem Tode 1933 mit Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit dirigiert, ein Kreis von Künstlern, Wissenschaftlern und gleichgesinnten Personen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, schließlich von jungen "Schülern"(4) , die dem "Meister" in allen Belangen ihres Lebens nachzufolgen strebten. Zwar gibt es bei genauerem Blick, wie Michael Winkler(5) in seiner Darstellung "George - Kreis" von 1972 ausführt, "natürlich die feinen Abstufungen von der authentischen Zugehörigkeit zum inneren Kreis über die lockere Verbindung zur Person des Dichters bis zur unwiderruflichen Verstoßung des Abtrünnigen oder der selbstherrlichen Proklamierung eigener Vorstellungen im Namen Georges".

Und natürlich ist auch die Georgische Bewegung historischen Veränderungen in mehreren Jahrzehnten ausgesetzt gewesen. Ihr innerer Kern läßt sich, wie Winkler es tut, relativ gut beschreiben als eine Gruppe von Mitarbeitern, die ab Oktober 1892 bis zum 12. und letzten Jahrgang 1919 in den "Blättern für die Kunst" unter Georges strenger Aufsicht publizierten. Die programmatische Bedeutung für "einige und ganz intime Gefährten und Gefährtinnen" (so Klein an Hofmannsthal, 24. 6. 1892) wird deutlich, wenn später jener Verlag diesen Namen übernimmt, in dem George und seine Mitstreiter ihre Werke veröffentlichen.

Wie es Georges Bemühungen insbesondere um ein "Bündnis" mit Hofmannsthal - eine sehr heilsame Diktatur(6) - gegen eine flache, marktschreierische und triviale Kunst zeigen, sollte die Kunst zunächst einem nach Rang und Maß strengen Wertprinzip unterworfen werden. Georges herrische Art, die Betonung des Dichters als Führer führten im Mitmenschlichen zu nur schwer erträglicher hierarchischer Anmaßung, im Bereich der Dichtung aber zu einer strengen und verantwortlichen, letztlich für eine kurze Zeit heilsamen Besinnung auf Form und ästhetische Qualität.

Das literaturtheoretische Programm des George - Kreises wurde in den "Blättern für die Kunst" meist von George in Einleitungen und Merksprüchen formuliert.

Die Zeitschrift soll

"der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend. Sie will die g e i s t i g e  k u n s t auf grund der neuen fühlweise und mache - eine kunst für die kunst - und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang. sie kann sich auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen und allbeglückungsträumen in denen man gegenwärtig bei uns den keim zu allem neuen sieht, die ja sehr schön sein mögen aber in ein anderes gebiet gehören als das der dichtung. Wesentlich ist die künstlerische umformung eines lebens - welches lebens? ist vorerst belanglos."(7)
(in : Blätter für die Kunst I,1 und II,5)

Die wesentlichen Aspekte lassen sich leicht zusammenfassen. Die Dichtung ist strengen, künstlerischen Maßstäben unterworfen, sie ist Formkunst, sie ist gegen eine gesellschaftliche Öffentlichkeit gerichtet, ihre Qualität erreicht sie am ehesten in der Lyrik, sie wirkt ins Leben des je Einzelnen verbindlich.

Eine besondere Bedeutung kommt dem George - Kreis dadurch zu, daß unter der Führung Georges eine Reihe von "Entdeckungen" unbekannter Dichter, ihre Neuwertung und die Publikation ihrer Schriften geleistet wurde.

Michael Winkler schreibt:

"Die Hinwendung des George - Kreises zur deutschen Dichtung der klassischen Bewegung stand nach Goethe im Zeichen Hölderlins und Jean Pauls. Ihre Anfänge gehen aufs Jahr 1900 zurück, als mit "Jean Paul. Ein Stundenbuch für seine Verehrer" das erste Bändchen der von George und Wolfskehl hrsg. Sammlung "Deutsche Dichter" erschien. Zehn Jahre später brachte die IX. Folge Auszüge aus den von Norbert von Hellingrath wiederentdeckten Pindar - Übertragungen Hölderlins, die im gleichen Jahr gesammelt im Verlag der BfdK erschienen. Damit begann eine Jean - Paul - und Hölderlin - Renaissance, die bis heute andauert."(8)

Eine ganze Reihe weiterer Autoren, die von George oder seinen Mitstreitern einem achtungsvollen Beschweigen, einem hilflosen Vergessen entrissen wurden, sind zu nennen : Lichtenberg und Stifter, Kleist und Rückert, Klopstock und, in bezeichnenden Deutungen, Platon und Nietzsche. Kommerells Weg in die Weite der Weltliteratur in seinen letzten akademischen Lehrjahren darf mit Recht als Reaktion auf national - sozialistische Anfeindungen gesehen werden.(9) Wenngleich der Georgianer und Historiker Friedrich Wolters, zeitweise auch Gundolf, in der seit der Jahrhundertwende aufkommenden Diskussion über Wert und Leistung der Wissenschaft im Verhältnis zur Kunst nur dieser eine lebensstiftende Kraft zuwiesen, so zeichnet sich doch diese Bewegung dadurch aus, daß besonders in ihren späteren Jahrzehnten eine Reihe bedeutender Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen hinzutraten. Als Beispiele seien nur Arbeiten zur griechischen Antike des klassischen Philologen A. von Blumenthal und des Historikers Ernst Kantorowicz monumentale Biographie "Kaiser Friedrich der Zweite" (1922) genannt. Der seinerzeit für die Dichtung erhobene Anspruch einer lebensdurchdringenden und lebensprägenden Kraft setzt sich hier bei zum Teil jüngeren Schülern ebenso durch, wie schon in der Frühzeit, im Berliner Kreis, der Bogen aus der Literatur in die anderen Künste geschlagen wurde. Im übrigen konzentriert sich gerade in den großen "mythischen", als Wesensschau angelegten Biographien (Gundolfs Bücher über Cäsar und Kleist, Shakespeare; Kommerells "Jean Paul", Bertrams "Nietzsche") die Zielrichtung des George - Kreises.

Über die "verwandelnde Macht über Menschen" schreibt Max Rychner 1943:

"Es ist erstaunlich, was für ein Gremium von Schaffenden sich zusammenfand: Klages, Wolfskehl, Derleth, Gundolf, Heiseler, Bertram, Hellingrath, Hildebrandt, Kantorowicz, Kommerell usw. Persönliche Verbindungsbrücken gingen zu Simmel, Dilthey, Max Weber.<<Ihr seid im Gang getrennt, im Zweck gesellt.>>"(10)

Und Theodor Heuss äußert sich in seinen "Erinnerungen" :

" Doch dann erfuhr ich aus den Leistungen seiner Schüler etwas von der Kraft und der Zucht, die von ihm ausging, in der sprachlichen Gestaltung wie in der großen Anlage: Es würde mir undankbar erscheinen, wollte ich nicht ein Wort davon sagen, was mir alle Arbeiten von Friedrich Gundolf, seit seinem herrlichen Shakespeare - Werk, von Wolters, Kommerell und anderen bedeutet haben. Nicht das, was man bei ihm lernen konnte - und das war nicht wenig -, entschied bei solcher Bewertung, sondern das Maß des Anspruchs, das sie stellten."(11)

 

III.

Zweifellos gehört Ernst Bertram nicht zum innersten Kreis um Stefan George. Dennoch führen eine Fülle von biographischen und geistigen Linien zu diesem. Der bedeutende Kölner Germanist, Professor der deutschen Sprache und Literatur von 1922 bis zur Amtsenthebung 1946, gleichzeitig Lyriker und Spruchdichter, wurde 1884 zu Elberfeld geboren und starb 1957 zu Köln. Lange Jahre ein aufmerksamer Weggefährte Georges und Gundolfs, Freund und gelegentlicher Hausgenosse Thomas Manns, konnte er dem Nationalsozialismus nicht widerstehen.

In Killys "Literaturlexikon" heißt es hierzu:

"Ganz seiner völkisch - mythischen Gesinnung entsprechend, propagierte er bereits 1922 eine "nordische Seele des Rheinlands" und förderte damit die Entstehung der Blut - und Boden - Dichtung. Die Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten rechtfertigte er in seinen Reden, verhinderte aber die Vernichtung der Werke seiner Freunde Thomas Mann und Friedrich Gundolf. Auch als Literaturwissenschaftler, der im Sinne Georges Kunst und Wissenschaft als Einheit betrachtete, war er vom völkischen Gedanken bestimmt. Er sah die Entfaltung der deutschen Literatur im Rahmen eines andauernden Kampfes zwischen dem germanischen und dem romanischen Element."(12)

In seinem Studium an den Universitäten in Bonn, München und Berlin mit dem Geist des literarischen Positivismus eines Wilhelm Scherer und Erich Schmidt bekannt geworden, schloß er sich Diltheys Vorstellungen eines geistesgeschichtlich orientierten Verstehens an, von wo bald Verbindungen zur "Wesensschau" der Georgianer führten.

Zwar gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen von Bertrams Nähe zu George. Inge Jens, die Herausgeberin seines Briefwechsels mit Thomas Mann, urteilt, er sei "Zeit seines Lebens im strengen Sinne niemals < Georgianer > gewesen".(13) Die DBE(14) von 1995 zählt ihn zum "Kreis um George": Als Literaturwissenschaftler habe er "im Sinne Georges Kunst und Wissenschaft als Einheit" gesehen, heißt es im "Literaturlexikon".(15) Als "Freund" Stefan Georges gilt er Hartmut Buchner.(16) Hajo Jappe, der die umfangreichste und einzige Monographie über Bertram vorlegt, differenziert zwischen Bertrams Skepsis, ja Ablehnung des "geschminkten" (S. 106) Kreises und einer lebenslänglich - verehrungsvollen Haltung gegenüber George, über den er in mehreren Vorträgen öffentlich sprach, den er aus persönlichem Umgang kannte, mit dem er über Freunde wie Gundolf und Ernst Glöckner verbunden war.

"Schwer und nicht unbeirrt ist der Weg eines Bertram zu George gewesen. Von anderen Vorbildern her kommend, zeit- und wesensverwandt in vielen Bereichen des "geschichteten Wesens" mit einem Geist wie Thomas Mann, aber in denen der Gläubigkeit, des Ethos ergriffen von Georges Dichtung und Wesen, sucht er mit dem Bedürfnis der edleren Jugend nach gültigem Maß und Rang in richtungsloser Zeit. Er kommt ihm nah, George ist ihm "Herzstärkung" im Krieg - zu einer Zeit, da er einen guten, vielleicht den besten Teil seines Freundes mit Schmerzen an den Meister abtreten muß -; Bertrams eigener Stern geht auf im großen Sternbild Georges mit dem Nietzschebuch, und auch seine Dichtung wächst aus diesem Licht empor. Doch seine Bahn ist eine andere."(17)

Bertrams Beitrag für die Literaturwissenschaft in der ersten Jahrhunderthälfte bestand zunächst in seiner "mythischen" Deutung Nietzsches. Anknüpfend an Goethes Gedanken aus dem "Faust II" "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" (V 1204 / 5), formuliert er als Basis seines biographisch - philologischen Arbeitens nicht eine Wirklichkeitsherstellung, sondern Wertsetzung; und:

"Wir vergegenwärtigen uns ein vergangenes Leben nicht, wir entgegenwärtigen es, indem wir es historisch betrachten. Wir retten es nicht in unsre Zeit hinüber, wir machen es zeitlos. Indem wir es uns verdeutlichen, deuten wir es schon."(18)

Von hier aus wird auch das Poetische als "mythenschaffende Kraft, welche von einer wirklich großen Gestalt notwendig ausstrahlt und die sich, ganz ohne Wissen und Willen, ihren posthumen Leib, die Legende, selber bildet,"(19) verstanden.

Bertrams Werk, seine Deutung Nietzsches als eines "Zwiespältigen", hat nach 1945 zu Recht vielfältige Kritik erfahren, dies insbesondere in Hinsicht auf die präfaschistische Feier einer heroisch aufgefaßten Führergestalt. Bertrams Nähe zum George- Kreis konkretisiert sich, vom Biographischen abgesehen, schließlich im streng wertbezogenen, das heißt auf höchste ästhetische Qualität achtenden Wissenschaftler, der seine Arbeitsschwerpunkte auch bei jenen, vom George - Kreis propagierten "neuen" Dichtern sieht. Freilich, im Mittelpunkt von Bertrams Werk steht, wie es die schönen Aufsätze aus dem Sammelband "Deutsche Gestalten" (1934) zeigen, Goethe; dann aber Klopstock und Jean Paul, Kleist und Stifter und Lichtenberg und Hölderlin, schließlich die Romantik zur Gänze.

Bedeutsam ist auch die enge Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Bertram hat neben seiner höchst engagierten, wenn auch frühzeitig als Last empfundenen Lehrtätigkeit, aus der ein großer Kreis bewundernder Schüler hervorging, lebenslang in unangefochtener Kontinuität ein umfangreiches dichterisches Werk vorgelegt. Buchner hat daher die "hohe dichterische Erfahrung"(20) als auszeichnendes Merkmal von Bertrams dichtungsgeschichtlichen Arbeiten genannt.

Bertrams große Wirkung auf einen bedeutenden Freundeskreis, auf einen ansehnlichen Schülerkreis, seine "Ausstrahlungskraft, deren Bedeutung für das geistige Leben Deutschlands in der ersten Jahrhunderthälfte kaum überschätzt werden kann"(21) , beruhen letztlich auf einem Dichtungsverständnis, das diese als "eine höchste, verbindliche Möglichkeit für das menschliche Dasein (erfähr), insofern sie selbst das gewaltlose Offenbaren der einfachen und echten Welt - Möglichkeiten ist."(22) Es ist der hohe ethische Anspruch, den Bertram dem Kunstwerk wie dem Rezipienten als Aufgabe setzt. Daß sich hieraus spezifische Probleme angesichts von Bertrams anfänglicher Begeisterung für das "neue Reich" ergeben, ein Reich, welches freilich zunächst immer als ein "inneres" gemeint war, versteht sich. Gegenüber den sanktionierten Betrachtungsweisen von Literatur im 20. Jahrhundert, diese nämlich als gebundenes Zeichensystem, als interessengeleitete und öffentliche Angelegenheit, als Struktur formaler oder gehaltlicher Elemente usw. zu betrachten, wird hier Dichtung auf hohem Niveau als existentieller Aufruf an den je einzelnen Studenten, den je einzelnen Leser, Hörer, Verstehenden bestimmt.

 

IV.

Paul Requadt, 1902 bei Hannover geboren, 1983 in Mainz gestorben, ein Vierteljahrhundert als Hochschullehrer an der 1945 wiedergegründeten Universität in Mainz forschend und lehrend, hat ein bedeutendes wissenschaftliches Werk hinterlassen. Nach seinem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie, unter anderem in Heidelberg bei Jaspers und Gundolf, promovierte er 1926 in Köln bei Ernst Bertram über Johannes von Müller. "Karl Jaspers, Friedrich Gundolf, Ernst Bertram - zu diesen Lehrern hat sich Paul Requadt stets bekannt,"(23) schreibt sein Schüler Schings. Der zwischenzeitlich mit großem pädagogischen Eros als Gymnasiallehrer Tätige habilitierte sich 1944 in Rostock mit einer Arbeit über Lichtenbergs Aphoristik. Schon diese wenigen Daten deuten auf das Phänomen von Schülerschaft und wissenschaftliche Prägung durch den Doktorvater Bertram. Requadt legte Monographien und zahlreiche Einzeluntersuchungen zu jenen Autoren vor, mit denen sich auch Bertram vorzugsweise beschäftigte: Goethe steht im Mittelpunkt auch hier - ich nenne nur Requadts "Goethes < Faust I >. Leitmotivik und Architektur." (1972) Sodann, nach den schon genannten Lichtenberg und Johannes von Müller, Publikationen zu Hölderlin und Jean Paul, zu Stifter und August von Platen, zu romantischen Dichtern und Publizisten der Zeit (Eichendorff und Brentano und Ernst Moritz Arndt), zu Hofmannsthal und Thomas Mann; nicht aber zu George: Es sei nicht die Zeit dazu, meinte er einmal. Wo es sich anbot, initiierte er gerne Forschungsarbeiten aus seinen Arbeitsgebieten; mehrfach entstanden Doktorarbeiten zu Aphorismenwerken verschiedener Autoren.

Bertram hatte mehrfach (wie auch Pongs in seinem Werk "Das Bild in der Dichtung", 1927) betont auf die Bedeutung der Bildlichkeit in der Dichtung hingewiesen. In seiner Spruchdichtung "Worte in einer Werkstatt" heißt es:

"Dem Bild gehören immer nur die stärksten Stunden."(24)

Und seiner Aufsatz-Sammlung "Deutsche Gestalten" ist als Motto ein Satz Johann Georg Hamanns vorausgestellt:

"In Bildern besteht der höchste Schatz menschlicher Erkenntnis."

Requadt hat in seiner Untersuchung zur "Bildersprache der deutschen Italiendichtung. Von Goethe bis Benn" (1962) und in der Aufsatz - Sammlung "Bildlichkeit der Dichtung" (1974) auf höchstem Niveau und mit faszinierenden Ergebnissen diese Bertramschen Ansätze fortgeführt. Sein früher Beitrag zum "Sinnbild der Rosen in Stifters Dichtung" (1952) wie "Das literarische Urbild von Hölderlins Diotima" (1966) sind mit das Beste, was hierzu geschrieben wurde. Mit Recht nennt Schings Requadts Verfahrensweise, "die Ikonographie dichterischer Texte" zu erschließen, "zur Meisterschaft gesteigert"(25). Freilich muß kaum eigens betont werden, daß zu den "alten", inzwischen zum Kanon gehörenden Dichter-Entdeckungen und Dichter Schätzungen des George - Kreises die "neuen" treten: Ich nenne nur Trakl und Benn, Celan und Bobrowski.

Bertrams Neigung zum Präzisen - in seltsamer Ambivalenz stehend zu "Wesensschau" und mythischer Deutung, zu irrationalen und chauvinistischen Entgleisungen - erscheint bei Requadt in einer strengen und spröden, zugleich gütigen und selbstkontrollierten Weise in den Schriften zu hoher Vollendung gebracht. Sie erklärt seine Schätzung der konzisen Form des Aphorismus; sie vermittelte sich seinen Schülern in seinen unvergeßlichen Lehrveranstaltungen, schon in den Vorlesungen, mehr noch in den Seminaren, mehr noch in den Oberseminaren und Doktoranden-Kreisen. Im "Zugleich von Strenge und Zartheit, Genauigkeit und Güte, hohem Anspruch und teilnehmender Zuwendung"(26) konkretisierte sich Requadts akademisches Lehrertum, das immer den vollen Einsatz des Studenten forderte, dafür aber auch selbst mit verläßlicher Führung antwortete. Stets spürte man eine "persönliche Betroffenheit"(27) von jenen Dichtungen, denen seine Aufmerksamkeit galt. Es ist nicht das schlechteste Moment, das ihn mit George und Bertram verband.

Im Ansetzen und Durchhalten eines höchsten Maßstabs, in der Sicherheit des ästhetischen Urteils, in der Offenheit für alle Künste, auch die Malerei, auch die Musik, in der menschlich - sozialen Sorge für die nach strengen, gelegentlich abschreckenden Urteilen geprüften Schüler, im Bewußtsein des existentiellen Getroffen-Seins durch Kunst verläuft, bei manchen Differenzen im Einzelnen, auch wirklicher Gegensätze im Politisch - Gesellschaftlichen, eine, wie nun wohl zu fürchten ist, langsam verlöschende Linie von George und seinem Kreis zu den Schülern und den Schülern seiner Schüler.

© Gerhard Fieguth (Koblenz)

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Anmerkungen

(1) P. M. Mitchell: Johann Christoph Gottsched. In : Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Hrg. von Benno v. Wiese. Berlin 1977, S.53.

(2) Vgl. dazu: Felix Philipp Ingold (Hrg.): Literaturwissenschaft und Literaturkritik im 20. Jh. Bern 1970. Der Beitrag zur Deutschen Literaturwissenschaft stammt von Max Wehrli. Vgl. auch Manon Maren - Grisebach, Methoden der Literaturwissenschaft. Bern und München 1970.

(3) Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Hrg. von Dieter Lattmann. München 1973, S.95.

(4) Zum Aspekt der Jugend vgl. Michael Winkler: Der Jugendbegriff im George-Kreis. In : "Mit uns zieht die neue Zeit." Der Mythos der Jugend. Hrg. von Thomas Koebner u.a. Frankfurt / M. 1985, S.479ff. - Zum George-Kreis weiterhin: Hans-Norbert Fügen, Der George-Kreis in der "dritten Generation". In: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hrg. von Wolfgang Rothe. Stuttgart 1974, S.334 ff.

(5) Michael Winkler, Stefan George: Stuttgart 1970, S.2 - Ders.: George-Kreis. Stuttgart 1972 - Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis. Bonn 1965.

(6) Stefan George an Hugo v. Hofmannsthal: Mai 1902. In: Stefan George. 1868-1968. Der Dichter und sein Kreis. Stuttgart 1968, S.110 (Katalog des Schiller-Nationalmuseums, hrg. von Bernhard Zeller).

(7)) Winkler: George-Kreis, a.a.O., S.18 f.

(8) Ebd.: S.98.

(9) Ebd.: S.99.

(10) Stefan George: hrg. von Bernhard Zeller, a.a.O., S.353.

(11) Ebd.: S.354.

(12) Literaturlexikon: Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrg. von Walther Killy. Bd. 1 Gütersloh / München 1988, S.477.

(13) Thomas Mann an Ernst Bertram: Briefe aus den Jahren 1910-1955. Hrg. von Inge Jens. Pfullingen 1960, S.300.

(14) Deutsche Biographische Enzyklopädie. Hrg. von Walther Killy. Bd. 1 München 1955, S.488.

(15) Literaturlexikon: a.a.O. , S.477.

(16) Ernst Bertram: Möglichkeiten. Ein Vermächtnis. Hrg. von Hartmut Buchner, Pfullingen 1958, S.270.

(17) Hajo Jappe: Ernst Bertram. Gelehrter, Lehrer und Dichter. Bonn 1969, S.121.

(18) Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin, 3. Auflage 1919, S.1.

(19) Ebd.: S.4.

(20) Buchner: Nachwort. In: Bertram, Möglichkeiten. A.a.O., S.270.

(21) Buchner: a.a.O., S.270.

(22) Buchner: a.a.O., S.271.

(23) Hans-Jürgen Schings: Das wissenschaftliche Werk. In: Paul Requadt. 1902-1983. Reden bei der Akademischen Trauerfeier des Fachbereichs 13 - Philologie I der Johannes Gutenberg - Universität Mainz am 3. Februar 1984. Mainz 1984, S.14.

(24) Ernst Bertram: Worte in einer Werkstatt. Mainz 1938, S.15.

(25) Schings: a.a.O., S.16 f.

(26) Hubert Ohl: Der Lehrer. In: Paul Requadt, a.a.O., S.8.

(27) Ebd.: S.7.


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