Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Jakob Bleyers Wien-These

Eszter Kiséry (Debrecen)

"Die verschiedensten Einflüsse machten sich geltend in Wien, der stärkste Einfluß war doch derjenige, welchen das Deutsche Reich und (zum Teil durch dessen Vermittlung) Frankreich auf das österreichische Geistesleben ausübte. Alle diese Strömungen gelangten aus Wien auch zu uns, und es ist Wien zu verdanken, wenn die deutsche Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts auf die Gestaltung unserer kulturellen Verhältnisse entscheidend einwirkte."(1) Der ungarische Literaturwissenschaftler Vajda György Mihály zitiert in seinem Buch "Wien und die Literaturen der Donaumonarchie"(2) diese Sätze, d.h. die Wien-These von Jakob Bleyer (1874-1933). Nach beinahe hundert Jahren gibt Vajda György Mihály Bleyer im Grunde genommen recht, auch "wenn er vielleicht zu enthusiastisch die Wichtigkeit Wiens für die Kultur aller 'transleithanischen' Völker zur Zeit der Aufklärung seit dem dritten Drittel des 18. Jahrhunderts betonte".(3) Mit diesen Worten wird ein Streit und zugleich ein Kapitel der Geschichte der ungarischen Germanistik abgeschlossen, in dem eine einseitige These und ihr Kontext zum Träger politischer Wünsche und Auslöser produktiver Kritik wurden.

Der Literaturwissenschaftler Németh G. Béla bezeichnete die Wissenschaft des Germanisten Gustav Heinrich (1845-1922) als die Wissenschaft eines liberalen Halbpolitischen(4): auf Jakob Bleyer, seinen Schüler und Nachfolger am Lehrstuhl für Germanistik der Budapester Universität würde diese Bezeichnung kaum passen, über seine Wissenschaft könnte man schwerlich dasselbe behaupten, in seiner Tätigkeit waren nämlich Philologie und Politik miteinander eng verflochten.

Die Begründer der ungarischen Germanistik waren Ungarndeutsche, waren sozusagen von Haus aus berufen, als Vermittler zwischen den Kulturen aufzutreten und ihre Doppelbindung in der Forschung zur Geltung zu bringen: "Es ist nicht unser Beruf, die wir deutsche Wissenschaft in Ungarn vertreten, uns in das uferlose Meer der deutschen historischen Kleinforschung zu verlieren und Fragen aufzuwerfen, die andere mit mehr Recht zu stellen und sicher mit größerer Kraft zu beantworten vermögen. Wir haben der deutschen Fragen genug in unserem ungarischen Vaterland: warum in die Ferne schweifen, wenn wissenschaftliche Aufgaben, die allein auf uns warten, so nahe liegen? Deutsch-ungarische Fragen werden nur von dem richtig gestellt und gelöst werden, dem selbst durch Abstammung und Bildung Deutsches und Ungarisches im Blute liegt, der selbst mit dem geistigen Deutsch-Ungarntum verwurzelt ist", wiederholte in seiner Bleyer-Würdigung Theodor Thienemann im Jahre 1934 das von Gustav Heinrich und Gideon Petz geerbte Glaubensbekenntnis der ungarischen Germanistik.(5) Dieses Selbstverständnis der ersten Germanistengeneration, also aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, wurde für die zweite Generation zu einer konfliktbeladenen prekären Aufgabe. Dieser zweiten Generation gehörte Jakob Bleyer an.

Der aus der Bácska (Dunacséb) aus einer Bauernfamilie stammende Jakob Bleyer durchlief bis 1911 die Laufbahn eines jungen Wissenschaftlers, deren Stationen mit Universitätsstädten - Budapest, München, Leipzig - mit wegweisenden Professoren und Vorbildern - Gustav Heinrich, Gideon Petz, Eduard Sievers, Karl Lamprecht - zu kennzeichnen sind. 1911 ist das Jahr, in dem Jakob Bleyer - seit 1905 Privatdozent der Universität Budapest, ab 1908 Lehrstuhlinhaber an der Klausenburger Universität - auf den Lehrstuhl für Germanistik in Budapest berufen wird und also nicht nur Gustav Heinrichs geistiges Erbe weiterführen kann, sondern auch sein Nachfolger in der institutionalisierten ungarischen Germanistik sein wird. Er schreibt zwei Jahrzehnte später über Heinrich unter anderem: "wo Heinrich auch immer in das ungarische Schrifttum hineingriff und es packte, da sprangen ihm überall deutsch-ungarische Zusammenhänge in einer für den Germanisten höchst willkommenen Weise ins Auge."(6) Diese Darstellung des Meisters könnte zugleich als das eigene Credo interpretiert werden, auch Jakob Bleyer sucht und wählt von Anfang an Themen, die in den Umkreis der deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen gehören. Seine erste Arbeit (1896) bespricht ein Ereignis des literarischen Lebens, nämlich den Protest der ungarischen Literatur gegen die ungarländische deutsche Literatur: die Polemik zwischen Kazinczy Ferenc und dem Aurora-Kreis im Jahre 1830. In seiner Dissertation (1897) bearbeitet er die "Ungarischen Beziehungen der deutschen historischen Volkslieder bis 1551". Diesen Arbeiten folgen Studien aus dem Umkreis der spätmittelalterlichen Literatur, über Erscheinungen aus dem 15, 16. Jahrhundert, weiterhin wählt er sich zum Studium die germanischen Elemente der ungarischen Hunnensage.

All diese Themen betrachtete Jakob Bleyer als Herausforderung, philologische Kleinarbeit mit Exaktheit, Handschriftenveröffentlichung mit Sachkenntnis zu betreiben. Von Gustav Heinrich, von Gideon Petz und in Leipzig von Edmund Sievers bekam er hierfür Anregungen im Sinne der an der klassischen Philologie geschulten Literaturbetrachtung. Die positivistische Methode, die ihm wie seinen Meistern auch den Sinn für die ästhetischen Werte, für philosophische Perspektiven in den Hintergrund drängt, verschafft ihm das Bewußtsein der in der "Behandlung von Einzelproblemen" begründeten Solidität.(7) Aus dieser Position heraus wendet er sich auch der Erforschung der neueren Literatur zu und stellt die literarische Beeinflussung in den Fokus seiner Betrachtungen. Aus den ungedruckten Briefen, die er in Gottscheds Nachlaß fand, tat sich für ihn eine Welt auf, ein Geflecht von Beziehungen, das wichtige Figuren im Wien der Aufklärungszeit miteinander verbindet, aus deren Mitte die neuere ungarische Literatur entsteht. Gottsched, der im Jahre 1749 nach Wien fuhr, erscheint für Bleyer als Anreger zu Initiativen, als Symbolfigur der Vermittlung.(8) Seinem Beispiel folgte der ungarische Gardist Bessenyei, als er sein Drama "Agis" schrieb, seine Grammatik wurde in der Hand von Maria Theresia zum Mittel der Verbreitung der deutschen Sprache in der Monarchie, meint er. Wenn Bleyer Gottsched als Vermittler, seinen Besuch in Wien und die ihm zugeschriebenen Folgen in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt, handelt er im Sinne des oben erwähnten Selbstverständnisses der ungarischen Germanistik seiner Zeit, die Wahl des Themas also weist auf den Wissenschaftler zurück. Dementsprechend ist die Einführung des im Jahre 1909 in ungarischer Sprache veröffentlichten Gottsched-Buches eine Art Programmschrift für die damalige ungarische Germanistik. Sie bettet die Wien-These in den Kontext der Forschungsaufgaben ein, die Bleyer nicht nur sich selbst stellt, sondern die zugleich für die damalige ungarischen Germanistik von wegweisender Geltung sein sollten. Bleyer legt in dieser Einführung seine methodischen Grundsätze dar, indem er die Erforschung der Einzelfälle, die Detailkenntnis als sichere Grundlage einer späteren, zusammenfassenden historischen Schilderung legitimiert. Er plant eine die politischen, sozialen Verhältnisse, Schulwesen und Briefkultur, das ganze Geistesleben des ausgehenden 18.Jahrhunderts umfassende Untersuchung, um den Bestrebungen der Bahnbrecher der ungarischen Kultur gerecht zu werden. Um die tieferen Ursachen des deutschen Einflusses ergründen zu können, möchte er also seine Sicht über die Grenzen der Literatur hinaus erweitern, die fremden Elemente im alltäglichen Leben und Denken aufspüren.(9)

Diesen Anspruch der Aufdeckung der kulturgeschichtlichen Zusammenhänge verknüpft Bleyer in seiner Einführung mit dem Plan, sich später mit der Literatur der in Ungarn lebenden Deutschen zu befassen. Unter dem Aspekt der Aufgabeninterpretation des eigenen Wissenschaftszweiges verdient seine würdigende Bemerkung über Szinnyeis Buch "Magyar irók élete és munkái" (Das Leben und Werk ungarischer Schriftsteller)(10) unsere Aufmerksamkeit, Szinnyei nahm nämlich in sein Handbuch nicht nur die ungarisch schreibenden, sondern alle in Ungarn lebenden Autoren auf. Bleyer lobt Szinnyei und fühlt sich durch ihn bestätigt in der Auffassung, daß alles, was auf ungarischem Boden entstand, in die Kompetenz der ungarischen Wissenschaft hineingehöre. Bleyers Meinung bezieht sich auf einen wissenschaftlichen Aufgabenbereich, in seinen Worten klingt aber der Ton der eigenen zweifachen Identität mit, die im Rahmen des K.u.K. Staatsgebildes noch vertretbar ist.

Gerade diese zweifache Identität wurde nach dem Zerfall der Monarchie problematisch, und die Situation der Minderheiten im sogenannten Rumpfungarn rief den Politiker Bleyer auf den Plan. Als Politiker versuchte er die Rolle des Vermittlers in verschiedenen Aufgabenbereichen zu realisieren: als Nationalitätenminister, als Abgeordneter, als Führer der deutschen Minderheit. Das Ziel, das er verfolgte, war seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nicht fremd. Er versuchte nämlich die kulturellen Rechte der deutschen Minderheit in Ungarn der nachtrianoner Zeit zu verteidigen. Da seine wiederholten Versuche bei der offiziellen ungarischen Politik auf Widerstand stießen, geriet er immer stärker in das Fahrwasser deutschvölkischer Bestrebungen. Der ungarische Historiker Tilkovszky Lóránd befaßt sich in mehreren Studien mit der Frage, warum Bleyer sich in seinen letzten Lebensjahren gezwungen fühlte, gegen die ungarische Nationalitätenpolitik Gegenmaßnahmen vorzunehmen und "angeregt von der radikalen Jugend seiner Bewegung" nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland Kontakte zu diesem neuen Regime anzuknüpfen versuchte, in der Hoffnung, daß Hitlers Wort den ungarischen Ministerpräsidenten Gömbös zur Änderung seiner Politik gegenüber der deutschen Minderheit in Ungarn veranlassen könnte. Seine Anstrengungen blieben ohne Erfolg.(11)

Einige Schriften aus Bleyers letztem Jahrzehnt lassen klar erkennen, wie der Philologe hinter den Politiker zurücktritt und dadurch peinliche Veränderungen, Akzentverschiebungen des im Gottsched-Buch formulierten Programms zeitigt.

An seiner positivistisch ausgerichteten Methode hält Bleyer Zeit seines Lebens fest, wiederholt seine diesbezüglichen Grundsätze auch noch in seinen letzten Schriften, so z.B. in dem Artikel "Von der Erforschung des deutschen Kultureinflusses im südöstlichen Europa"(12) und auch in seinem Essay "Über geistige Rezeption und nationales Schrifttum".(13)

Auch die Idee der Kulturgeschichte, der Anspruch der Erfassung der unterschiedlichen Gebiete des geistigen Lebens wird in diesen Schriften leitmotivisch ausgeführt. Er schreibt darüber, daß "wirklich fruchtbringend und von schöpferischer Folge nur jene literarischen und überhaupt geistigen Einflüsse sind, die im Rahmen großer Kulturströmungen vermittelt werden ... Aufklärung und Perücke sind gleichzeitig nach Ungarn gekommen und wohl auch Wiener Musik und Wiener Backhendl".(14) In dieser etwas pointierten Formulierung zeigt sich der frühere Ansatz, literarische Begegnungen in außerliterarischen Beziehungsystemen unterzubringen. Der verständige Interpret und Würdiger von Bleyers wissenschaftlicher Laufbahn, Theodor Thienemann, sieht hier die Vorwegnahme einer soziologisch ausgerichteten Literaturbetrachtung, obwohl, wie er behauptet, Bleyer das Wort 'Soziologie' geflissentlich vermied.(15)

Deutliche Veränderungen zeigt im Gegensatz zu diesen 'Konstanten' die Auffassung von der kulturvermittelnden Rolle der in Ungarn lebenden deutschen Bevölkerung und von dem Anteil des Deutschen an den westlichen Einflüssen, die mit Bleyers politischen Manövern im Einklang zu sein scheinen. Daß Bleyer die Erforschung der Literatur der Ungarndeutschen als exklusive Aufgabe der ungarischen Germanistik auffaßte, betonte er bereits in der 'Einführung' zu seinem Buch "Gottsched in unserem Land". Dieser Aufgabe wandte er sich zu, als er seine Aufmerksamkeit nach dem Gottsched-Buch der theatralisch-literarischen Tätigkeit von Karl Gottlieb Windisch, Bürgermeister von Preßburg zur Zeit Maria Theresias schenkte. (Das geplante Buch über Windisch wurde nicht abgeschlossen.) Die Modifizierung der Wien-These ist trotz dieser Forschungen höchstwahrscheinlich nicht einzig und allein der intensiven Beschäftigung mit philologischen Problemen zuzuschreiben, sie ist eher politischer Provenienz. In einem Vortrag, den er am 5. Juli 1926 in der Münchener 'Deutschen Akademie' als deren Senator hält, wertet er die kulturvermittelnde Rolle des Deutschtums in Ungarn auf und gibt zugleich dem deutschen Kultureinfluss in Ungarn den Vorrang. Er formuliert wie folgt: "Das heißt also, daß die ungarische Literatur sowohl in ihrem Gehalt als auch in ihrer Form, in ihrem Aufstieg und in ihrem zeitweiligen Niedergang in den meisten Beziehungen durch das deutsche Geistesleben und den unmittelbaren Teilhaber an diesem Geistesleben, durch das ungarländische Deutschtum bedingt ist".(16) Diese Formulierung gehört in den Kontext seiner Beziehungen zu den wissenschaftlich-propagandistischen Instituten in Deutschland, zu denen auch die 1925 gegründete Deutsche Akademie gehörte, und die mit ihren Forschungen an der Erweckung des deutschvölkischen Selbstbewußtseins der deutschen Minderheiten in den Donauländern arbeiteten.

Die Worte, die Bleyer zum Geleit der deutschen Ausgabe des Pukánszky-Buches "Geschichte des deutschen Schrifttums in Ungarn" im Jahre 1929 niederschreibt, bringen mit schwungvollem Pathos die selbe Sicht zum Ausdruck: "Seit den Zeiten Stephans des Heiligen hat das Deutschtum in Ungarn die christliche Kultur und europäische Bildung verbreitet ... Und doch schweigen darüber, man könnte sagen: in grausam-gedankenloser Weise, sowohl die deutschen als auch die ungarischen Geschichtsblätter. Die deutschen, weil die deutsch-ungarische Kulturleistung zwar Ausläuferin ewiger deutscher Höhen ist, aber doch in den Ebenen der deutschen Geistigkeit liegt, die ungarischen, weil sie zumeist schmuckloses Fundament und unanschaulicher Unterbau für ungarisch-nationale Hoch- und Prachtbauten war."(17)

In einem Essay aus seinem letzten Lebensjahr formuliert er zusammenfassend seine These über die geistige Rezeption fremder Einflüsse. Den Weg der geistigen Strömungen schildert er, als "ein sich vom Westen nach Osten abstufendes, schicksalhaft gegebenes Kulturgefälle", das eine Wechselwirkung zwischen Ost und West verhindere und die östlichen Völker als Empfangenden, die westlichen als ihrem geistigen Eigenleben gegenüber indifferent erscheinen lasse.(18) Dem deutschen städtischen Bürgertum in Ungarn fällt in dieser Konzeption, die sowohl dem deutschen als auch dem ungarischen nationalen 'Ehrgeiz' eine Geste zu zeigen versucht, eine überdimensionierte Rolle zu: "Dieses Bürgertum, das unter den Habsburgern durch österreichisches Militär und österreichische Beamtenschaft immer wieder geistig aufgefrischt wurde, nahm die vom Westen aus heranwogende Kulturwelle zumeist in ihrer ganzen Breite auf, schmelzte sie mit seinem Wesen ein und verarbeitete sie in organischem Wachstum. Auf diese Weise akklimatisierte es sie nach und nach dem ungarischen Raume, dem das staatsgründende und staatserhaltende Ungarntum von Anfang an seine eigene Prägung gegeben hatte. In diese, durch das ungarländische Deutschtum bereits akklimatisierte Form wurden die Kultureinflüsse Österreichs und Wiens und damit des Westens vom Ungarntum übernommen".(19)

Eine weitere Veränderung in Bleyers Gedanken verdient noch unsere Aufmerksamkeit. Diese Veränderung bezieht sich auf die Rolleninterpretation der ungarischen Germanistik. Bleyer greift wiederholt die Idee der kulturellen, geographischen und politischen Gemeinschaft der Ungarn und der in Ungarn lebenden Nationalitäten auf, und in seinem bereits erwähnten Münchener Vortrag spricht er in Anlehnung an Paul Merkers Forderung einer literaturgeschichtlichen Verkehrsgeographie und Josef Nadlers Empfehlung der Aufstellung eines ostdeutschen Forschungsinstituts wie folgt: man soll "die nächsten Nachbarvölker, namentlich die östlichen, die doch vom Beginn ihrer Geschichte am deutschen Nabel sogen, deren Schicksal geradezu das Deutschtum ist und die so oft und so vielfach auf deutsches Schicksal einwirkten", entdecken, weil "die Kenntnis dieser Völker...mit zur deutschen Selbstkenntnis"(20) gehöre. Bei Nadler geht es natürlich eher darum, "das ostdeutsche Siedelwerk im Schicksal des deutschen Volkes und im Organismus Europas zu dokumentieren", wenn er die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen wünscht (21). Deutsche Literaturgeschichte und slavische Philologie müßten in engster Gemeinschaft vorgehen, schreibt er, und Bleyer fügt hinzu, daß auch die ungarische Philologie und überhaupt die ungarische Kulturgeschichte mit einbezogen werden sollte; auch dürfte das Rumänische, und selbstverständlich das Südslavische nicht ausgeschlossen bleiben.(22) Die von der ersten ungarischen Germanistengeneration übernommene Zielsetzung, literarische Beziehungen aus der Sicht des in historisch bedingter sprachlich-kultureller Doppelbindung lebenden Wissenschaftlers zu erforschen, verwandelt sich hier in eine eigenartige, weil einseitige Komparatistik, die den Auftrag bekommen sollte, deutsche Selbstkenntnis im Spiegel der Kultur anderer Völker zu fördern. Aus dem Jahre 1933 stammt eine noch schärfere Formulierung, in der die kulturellen Hegemonieansprüche der deutschen Volksgemeinschaft propagiert werden: "Darum muß immer wieder nachdrücklich betont werden, wie dringend es ist, den deutschen Welteinfluß im Geistigen, den wir in seinem Umfange und in seiner Tiefe eben nur ahnen, zu erschließen, und darzustellen. Dies ist der deutsche Geist sich selbst, sind ihm aber auch die Völker schuldig: das Maß seiner Weltgeltung gibt ihm jene geistige Würde, die ihm auch die stiefmütterlichsten Machtverhältnisse nicht entreißen können."(23)

Bleyers These und ihre modifizierten Formen blieben nicht ohne Kritik. Die Einwände, die von namhaften ungarischen Literaturwissenschaftlern formuliert wurden (24), enthalten keine kurzschlüssigen Hinweise auf Bleyers politische Tätigkeit, die spannungsvolle Athmosphäre ist in ihrem Ton jedoch durchaus spürbar, und die Rede von kultureller, nationaler Eigenwertigkeit bzw. Abhängigkeit wird keinesfalls als harmlose Angelegenheit behandelt. Diese Einwände können als die Korrekturen der Bleyer-These betrachtet werden, da sie wichtige Aspekte enthalten, unter denen literarische Beziehungen in den Donauländern untersucht werden könnten. Bleyers Verdienst ist, trotz der ideologischen Belastung, mit seiner These den Ausgangspunkt zu einer Diskussion über die Möglichkeiten der Beschäftigung mit dem komplizierten Beziehungssystem der einzelnen Nationalliteraturen untereinander, zu Wien und zu den westlichen Literaturen geliefert zu haben.

Abschließend werden hier also einige von Bleyers Kritikern zitiert.

Im Jahre 1910 bringt die von Gustav Heinrich gegründete "Egyetemes Philologiai Közlemények" (Universale Philologische Mitteilungen) in drei kurzen Beiträgen das Wortgefecht von Robert Gragger und Jakob Bleyer.(25) Die beiderseits ohne Umschweife formulierten Meinungen lassen die zwei entgegengesetzten Auffassungen von Literatur klar erkennen. Gragger findet Bleyers positivistische Forschung und seine Beweise für Gottscheds Einfluß nicht überzeugend und stellt der Suche nach Einzelfakten die Prüfung von inneren Gesetzmäßigkeiten der literarischen Werke gegenüber. Er tritt dafür ein, daß die Wirkungsforschung in erster Linie auf bedeutende Einzelleistungen der Literatur gerichtet werden, und sich nicht mit kultur- bzw. bildungsgeschichtlich orientierten Fragen befassen soll.

Die im Jahre 1927 in der Zeitschrift "Századunk" (Unser Jahrhundert) publizierte Kritik von Túróczy Trostler József (26) nimmt die politisch aufgeladene Form der Wien-These aufs Korn, er reagiert nämlich auf Bleyers Münchener Vortrag. Er wirft ihm vor, die ungarische Literatur als Provinz der deutschen eingestuft zu haben und weist auf die Eigengesetzlichkeit der ungarischen Literatur hin. Túróczy Trostler kritisiert auch den anderen Punkt der Bleyer-These, der in der Zeit nach Trianon politische Brisanz besaß, nämlich die Aufwertung der Vermittlerrolle der deutschen Minderheit und somit die Aufwertung der Literatur der deutschen Minderheit in Ungarn. Er stellt den dynamischen Charakter der ungarischen Literatur der Statik der deutschen gegenüber, weist in dieser deutschen Literatur auf das Fehlen bestimmter Gattungen - z.B. der weltlichen Lyrik - und auf das Fehlen der Reaktion auf die großen Erschütterungen des 18. Jahrhunderts hin. Bei aller Anerkennung der kulturellen Leistungen auf dem Gebiet der Schule, der Zeitungen und des Theaters kann er über die Provinzialität der ungarländischen deutschen Literatur nicht hinwegschauen.

Die politisch schärfer akzentuierten Punkte der Wien-These in Bleyers Münchener Vortrag rufen den ungarischen Romanisten Eckhardt Sándor ebenfalls auf den Plan. Er spricht 1931 vor der Öffentlichkeit des internationalen Kongresses für Komparatistik über die parallelen Züge in den mitteleuropäischen Literaturen (27), die diese trotz ethnischer, sprachlicher und historischer Unterschiede aufweisen. Er findet Bleyers These in bezug auf diese Erscheinungen zu eng und einseitig und führt zahlreiche Beispiele für die vermittelnde Rolle der ungarischen Literatur an die Nachbarvölker an, stellt also eine neue Wirkungszone neben die bleyersche. Er akzeptiert die kulturgeographische Methode für die Untersuchung der literarischen Erscheinungen in Mitteleuropa, wenn es darum geht, daß man die sozialen Bezüge der Literaturen herausstellen will, wenn es darum geht, literarischen Modewellen nachzugehen, warnt aber zugleich davor, die Eigenwertigkeit der einzelnen Nationalliteraturen innerhalb des europäischen Zusammenhangs aus den Augen zu verlieren.

Nach Bleyers Tod bringt das Organ der Berliner Hungarologie "Ungarische Jahrbücher" eine umfangreiche Würdigung seiner Tätigkeitsfelder, unter anderem auch seiner Tätigkeit als Germanist, geschrieben von Theodor Thienemann.(28)

Theodor Thienemanns Studie ist dem Anlaß entsprechend eine eingehende Darstellung der ganzen wissenschaftlichen Laufbahn des Meisters, in der die Geste der Verehrung dominiert. In der zusammenfassenden Würdigung seiner Leistung hebt Thienemann aus Bleyers letzten Formulierungen über das Problem der Rezeption, der Einflüsse unter anderem einen Gedanken hervor, der von Bleyer trotz allem ständig betont wurde, nämlich daß "ungarische Eigenart sich trotz der oft geradezu erdrückenden Fülle der Eindrücke Selbstbeseeltes und Selbstgeformtes schöpferisch in die Welt setzte."(29) Thienemann greift diesen Gedanken auf, gibt ihm eine pointiertere Form und eröffnet damit eine neue Dimension der Wien-These. Er schreibt wie folgt: "Bleyer verschloß sich nicht der Einsicht, daß Wien ein äußerst kompliziertes geistiges Gebilde darstellt, daß der dynastisch-monarchische Wille, der in Ungarn deutsche Sprache und deutsche Kultur verbreitet hatte und der Wille des deutschen Volkes nicht unbedingt ein und dasselbe sind. So hat auch der deutsche Gedanke in Ungarn einen zweifachen Sinn. Die ungarische Literatur entwickelte sich nicht durch Wien, sondern trotz Wien, im Widerspruch zu dem Geist, der sich in der Monarchie Seele und Körper geschaffen hatte".(30)

© Eszter Kiséry (Debrecen)

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Anmerkungen

(1) Bleyer Jakab: Gottsched hazánkban. (Gottsched in Ungarn) Budapest: Magyar Tudományos Akadémia 1909, S.6-7.

(2) Mihály Vajda György: Wien und die Literaturen der Donaumonarchie. (Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740-1918.) Wien: Böhlau 1994. Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. 4, S.21.

(3) Ebd.

(4) Béla Németh G.: Die erste Schule der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung und ihre Beziehungen zur deutschen Literaturgeschichte. In: 'Kakanien'. Aufsätze zur österreichischen und ungarischen Literatur, Kunst und Kultur um die Jahrhundertwende. Hrsg. von Eugen Thurner, Walter Weiss, János Szabó und Attila Tamás. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Budapest: Akadémiai Kiadó 1991. Schriftenreihe der Österreichisch-Ungarischen Gemischten Kommission für Literaturwissenschaft. 2., S.176.

(5) Theodor Thienemann: Jakob Bleyer als Germanist. in: Ungarische Jahrbücher Bd. XIV. (1934), S.5.

(6) Festschrift für Gideon Petz. Hrsg. von Jakob Bleyer, Heinrich Schmidt und Theodor Thienemann. Deutsch-ungarische Heimatsblätter 1933, S.239, zit.nach: Theodor Thienemann a.a.O. S.4.

(7) Jakob Bleyer: Über geistige Rezeption und nationales Schrifttum. Ungarische Literatur und deutscher Einfluß. Sonderabdruck aus: Dichtung und Forschung. Festschrift für Emil Ermatinger. Frauenfeld und Leipzig 1933, S.233.

(8) Theodor Thienemann: Jakob Bleyer als Germanist ..., S.11.

(9) Bleyer Jakab: Gottsched hazánkban ..., S.4.

(10) Szinnyei József: Magyar írók élete és munkái. (Das Leben und Werk ungarischer Schriftsteller.) Bd. I-XIV, 1891-1914.

(11) Zu Bleyers politischer Tätigkeit siehe außer Hedwig Schwinds Monographie (Jakob Bleyer.Ein Vorkämpfer und Erwecker des ungarländischen Deutschtums. München, 1960) vor allem: Tilkovszky Loránd: Botránykö vagy hidpillér? (Stein des Anstosses oder Brückenpfeiler?) In: Világosság 1990: 4, S.288-294; ders.: Zeitgeschichte der Ungarndeutschen seit 1919 mit einer Vorgeschichte. Budapest: Corvina 1991, bes. S.63-73; ders.: A Bleyer-portré problematikus vonásai (Die problematischen Züge des Bleyer-Portraits) In: Történelmi Szemle 1993. 3-4, S.259-277.

(12) Jakob Bleyer: Von der Erforschung des deutschen Kultureinflusses im südöstlichen Europa. In: Deutsche Rundschau 53.Jg. (1926), S.125.

(13) Ders.: Über geistige Rezeption ..., S.241.

(14) Ebd.

(15) Theodor Thienemann: Jakob Bleyer als Germanist ..., S.12-13.

(16) Jakob Bleyer: Von der Erforschung...S.130-131.

(17) Dr. Béla von Pukánszky: Geschichte des deutschen Schrifftums in Ungarn. Erster Band: von der ältesten Zeit bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Münster in Westfalen 1931./Deutschtum und Ausland, Heft 34-36/, S.VIII.

(18) Jakob Bleyer: Über geistige Rezeption ..., S.234.

(19) A.a.O. S.239.

(20) Ders.: Von der Erforschung ..., S.125.

(21) Josef Nadler: Forschungsprobleme der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Euphorion XXVII(1926), H.1, S.117f. Zitiert nach Jakob Bleyer: Von der Erforschung ..., S.132.

(22) Jakob Bleyer: Von der Erforschung ..., S.133.

(23) Petz - Festschrift ..., S.249. Zitiert nach Theodor Thienemann: Jakob Bleyer als Germanist ..., S.21.

(24) zu Bleyers Kritikern siehe: Vajda György Mihály: A magyar összehasonlitó irodalomtudomány történetének vázlata. (Abriß der Geschichte der vergleichenden Literaturwissenschaft in Ungarn). In:Világirodalmi Figyelö (Weltliterarischer Beobachter) 1962, S.325-373; Lajos Némedi: Wien und die ungarische Germanistik. In: Lenau-Forum, 1. Jg. 1969/3-4, S.57-69.

(25) Egyetemes Philológiai Közlemények (Universale Philologische Mitteilungen) 1910, S.107-108; S. 238; S.310-311.

(26) Turóczy Trostler József: A magyarság és németség szellemi kapcsolata (Die geistige Beziehung zwischen Ungarntum und Deutschtum). In: Századunk (Unser Jahrhundert). 1927/1-2, S.87-92

(27) Eckhardt Sándor: Az összehasonlitó irodalomtörténet Középeurópában (Die vergleichende Literaturgeschichte in Mitteleuropa). Pécs: Minerva 1931, S.8ff, S.17ff.

(28) Theodor Thienemann: Jakob Bleyer als Germanist ...

(29) A.a.O. S.22 /Th.Thienemann zitiert hier aus Bleyers: Über geistge Rezeption ..., S.243.

(30) Ebd.


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