Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr.

September 1998

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Kulturwissenschaften, Informationsstrukturen, Europa

Herbert Arlt (Wien)
[BIO]

Die Konferenz "Kulturwissenschaften, Datenbanken, Europa" ist Teil des Arbeitsprogrammes des "Institutes zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse (INST)(1), von den "Geisterwissenschaften"(2) zur Erforschung kultureller Prozesse aus heutiger Perspektive überzugehen, Kulturwissenschaften als Antwort auf heutige Anforderungen an Wissenschaft durchzusetzen.

In diesem Zusammenhang waren bereits bei Konferenzen in Riverside (Kalifornien), St. Petersburg und Innsbruck Vorleistungen in Form von Brainstormings erbracht worden.(3) Die wesentlichen Ergebnisse dieser Konferenzen waren neue wissenschaftsgeschichtliche Erkenntnisse, die die bisheriger Monolithik nationalstaatlicher Konzepte aufbrachen, die Einführung des Begriffes "Prozesse", die Orientierung auf die weltweiten Wechselwirkungen der Kulturen unter unterschiedlichen Aspekten sowie der Übergang von Fachwissenschaften bzw. Interdisziplinarität im Sinne der Summierung von Fachwissen zum transdisziplinären kulturwissenschaftlichen Arbeiten. (Dies drückt sich bereits heute nicht zuletzt in der Gründung einer Vielzahl von Europa-Instituten in allen Weltgegenden aus.)

Zentraler medialer Träger der INST-Diskussionen wurde seit 1997 die Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften "TRANS"(4) des INST. Sie wird 1998 von etwa 1.500 WissenschafterInnen aus rund 70 Ländern pro Monat abgefragt.

In TRANS Nr.5 wurden Beiträge zur Schlaininger Konferenz "Internationalisierungen, Konflikte, Kulturwissenschaften" publiziert, die von der Österreichischen UNESCO-Kommission und dem Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung finanziert wurde. Erstmals wurden in Schlaining im Rahmen des INST die Gegenstandsfelder unserer Forschungen begrifflich genauer bestimmt:

1. Gegenstand

Bisher wurden als Felder der Forschung vor allem jene Bereiche angesehen, die sich aufgrund der jeweiligen Bedingungen ergaben, wenngleich es immer eine mehr oder weniger starke Tendenz gegeben hatte, diese Bedingungen zu negieren und die Forschung als Forschung zu betonen.

Tatsächlich bildeten sich Strömungen heraus, die entweder die Bedingungen für kulturelle Prozesse überhaupt vernachlässigten oder Strömungen, die aufgrund ihrer finanziellen Maßgaben sich auf "regionale" oder "nationale" oder (meist bilateral) "interkulturelle" Bedingungen mit verschiedensten Methodologien konzentrierten.

Im Rahmen der Konferenz in Schlaining wurde vergleichend herausgearbeitet, daß zumindestens fünf Prozesse wesentlich sind, die miteinander auch in einer mehr oder weniger starken Wechselwirkung stehen können: Regionalität, Nationalität, Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität.(5) Diese fünf Prozesse sind im wesentlichen bestimmt durch vorgefundene Bedingungen (Natur), Entwicklung der Arbeitsformen (Werkzeuge, Maschinen...), Entwicklung der Vorstellungsbildung (Sprache, Informations- und Kommunikationsstrukturen...), Entwicklung des Zusammenlebens.(6)

Es zeigt sich, daß auf diese Prozesse (seit dem 15. Jahrhundert unter Bedingungen der "Globalisierung") Formen der gesellschaftlichen Organisation wie Modernisierung und Feudalität einen großen Einfluß haben. Diese sind verwoben mit verschiedenen Formen der Religiosität, der Wissenschaften, der Künste.

In diesem Zusammenhang kann es aber auch große Unterschiede geben, die jeweils mit Strukturen von Prozessen einer Gemeinschaft in Verbindung stehen. So sind die Sprachen der mächtigen Staaten meist relativ abgeschlossen (z.B. Japan(7), Frankreich), selbst dann, wenn sie Wissen, Verfahren usw. von anderen Staaten übernehmen. Besonders in einer Zeit des tendenziellen Machtverfalls (wie heute z.B. bei den Einflußmöglichkeiten Englands, Frankreichs und Japans in der internationalen Politik) wird das Instrument der Ausgrenzung zu einer Triebfeder des weiteren Verfalls. Anders ist die Entwicklung bei Staaten wie Indien, die sich lange Zeit unter kolonialen Herrschaften befunden haben. Indien hat zum Beispiel nicht einfach andere Kulturen übernommen, sondern weltweit Kulturen beeinflußt. Ohne indische Mathematik, die über die arabische Vermittlung nach Europa kam, könnte heute keine uns bekannte Computersoftware funktionieren. Viele Hindi-Wörter sind über die englische Sprache in die unterschiedlichsten europäischen Sprachen gelangt (z.B. Bungalow, Shampoo).

Eine Ausnahme bildet auch das Englische in den USA. Obwohl Weltmacht, blieb das Sprachsystem offen, denn im Unterschied zu Deutschland, Japan oder Frankreich hatte die Macht in den USA nie jene monolithen Strukturen wie zum Beispiel die Macht in Deutschland, Japan oder Frankreich (mit jeweils unterschiedlichen strukturellen Elementen).

2. Politik, Informationssysteme, Kulturwissenschaften

In der europäischen Union gibt es zur Zeit große Bemühungen, Grundlagen für eine Informationsgesellschaft zu schaffen. Dabei sind zwei Momente nicht unwesentlich: einmal wird in Europa generell wesentlich weniger in diese Technologien investiert(8) als in den USA und zweitens gibt es nur ein technologisches und kein inhaltliches Konzept.

Das Problem des inhaltlichen Konzeptes hängt eng mit der bisher fehlenden Konzeption einer Kulturpolitik der EU zusammen. Zwar werden derzeit unter dem Stichwort "Cultural Policies"(9) in der europäischen Union Anstrengungen unternommen, die kulturellen Prozesse in der Union mit mehr Geldmitteln zu fördern (was sicherlich ein Fortschritt ist), aber es fehlt die Konzeption einer politischen Orientierung.

Das drückt sich unter anderem in der zunehmenden Verwendung des Wortes "Job" aus, die meist eine Trennung von Beruf und Freizeit beinhaltet. Ein "Job" ist zwar notwendig, um Geld zu verdienen, aber unangenehm. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Arbeitsleistungen auch heute noch meist durch Angst erzwungen werden - auf der Basis ökonomischer Sanktionen bis hin zum Arbeitsplatzverlust.

Ganz zu schweigen davon, daß die Vorstellungsbildung nun - im Gegensatz zu den 70er und 80er Jahren - kaum mehr gefördert wird bzw. die Förderungen stagnieren. Damit ergeben sich auch für die Wechselwirkung von Kunst und Wissenschaft mit gesellschaftlichen Prozessen grundsätzliche Probleme. Denn sie können weitgehend nur mehr als Unterhaltung rezipiert (was das Angebot an Designerware vergrößert) oder abgelehnt werden. Eine neue Kulturpolitik ist daher keineswegs in der Form gefordert, daß neue ideologische Akzente gesetzt werden. Bei einer neuen Kulturpolitik geht es darum, die Verbindung zwischen Arbeit und Vorstellungsbildung, zwischen Alltag und Einflußmöglichkeiten auf Entscheidungsprozesse neu zu bestimmen. Im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen bedeutet dies, Tourismus in Kulturaustausch bzw. transkulturelle Prozesse, Freizeittätigkeit in Persönlichkeitsentwicklungsprozesse zu transformieren (ohne Spaß, Genuß, Erholung zu vernachlässigen) und die überregionale Mitentscheidung (zum Beispiel durch Stärkung des europäischen Parlaments) zu verstärken. Erst in diesem Rahmen können auch finanzielle Mittel für Künste und Wissenschaften neu erschlossen werden. Erst in diesem Rahmen kann die Bereitstellung entsprechender finanzieller Mittel eine notwendige Voraussetzung dafür sein, daß sich Künste und Kulturwissenschaften neu entfalten können. Erst in diesem Rahmen macht das Motto der Ausstellung "Kulturwissenschaften und Europa" - "Kulturwissenschaften - die Produktivkraft des 21. Jahrhunderts" Sinn.

In das Vakuum einer praktisch inexistenten europäischen Kulturpolitik stoßen in den jeweiligen Ländern und in der Europäischen Union als solcher die nationalistischen Bewegungen vor. Sie haben dieses Defizit längst erkannt. Dies führt zu einer gefährlichen Situation, weil in der Politik allein durch Kritik eines Gegners noch keine integrativen Elemente für perspektivische Entwicklungen erzeugt werden können. Vielmehr führt dies zu einem Aufbrechen politischer Strukturen, zu einer Polarisierung, die in Gewalt umschlagen kann.

Bei der Entwicklung einer Kulturpolitik unter Bedingungen der "Globalisierung"(10) geht es daher keineswegs nur um Arbeitsplätze, Wohnungen, Verteilungen von Steuermitteln (so wichtig und unverzichtbar diese sind). Im Kern geht es um eine kulturelle Auseinandersetzung - hier die ideologischen Instrumente des 19. Jahrhunderts (Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus, Faschismus), die insbesonders im 20. Jahrhundert Krieg und Elend nicht nur über ganz Europa brachten und auf der anderen Seite um ein differenziertes Konzept eines Zusammenlebens, dessen theoretische Fundierung bisher in der Öffentlichkeit noch marginale Bedeutung hat.

Nochmals möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Sprache eingehen. Sprache ist allen Menschen gemeinsam. Sie ist die Basis für kulturelle Entwicklungen, da in ihr Wissen gespeichert ist, das von Generation zu Generation weitergegeben werden kann, weil in ihr sich aber auch Veränderungen ausdrücken.(11)

Nach der UNESCO-Statistik gibt es weltweit etwa 5-20.000 Sprachen.(12) Jeder Verlust einer Sprache ist der Verlust von Wissen. Zugleich bedeutet dies aber nicht, daß Sprachen sich nicht weiterentwickeln können oder sollen. Nehmen wir als Beispiel die Entwicklungen in Europa vom 16. bis 19. Jahrhundert. Ein sich ausweitender Handel auf der Basis neuer Verkehrsmöglichkeiten, neuer Handel, neue Produktionsformen erforderten eine neue Verwaltung und vor allem eine neue Kommunikationsform.

Heute besteht in der europäischen Union ebenfalls der Bedarf einer neuen Kommunikationsform. Anders als in Indien, China, Südafrika gibt es ein hohes Maß an ökonomischer Durchdringung. Und anders als in den USA, wo die Sprachentwicklungen mit ungelösten Problemen sich meist auf der Basis einer Abgrenzung vollziehen, muß diese Entwicklung in Europa nicht diese Richtung gehen. In Europa besteht die Chance, sich vom 19. Jahrhundert abzuwenden und das Verbindende der Kulturen herauszuarbeiten.

Die Verwendung einer gemeinsamen Sprache ist die Basis dafür, um nicht nur ökonomische Interessen zu realisieren, effektive Verwaltungen aufzubauen, sondern auch für das Kennenlernen der Menschen in Europa untereinander. Nur mit Hilfe eines gemeinsamen Kommunikationsmittels können potentielle Feindbilder verhindert bzw. bestehende Feindbilder abgebaut werden. Aber auch eine Reihe von weiteren kulturellen Maßnahmen werden erforderlich sein, deren Basis - gerade im derzeitigen politischen Patt - von den Kulturwissenschaften zu erarbeiten wären. Dies wäre auch bei einer heutigen Politik die Voraussetzung, einen Prozeß einzuleiten, der zwar durchaus eine Differenzierung von Regionalität und Transkulturalität ermöglicht, aber zugleich auch die notwendigen transkulturellen Entwicklungen befördert (nicht umsetzt). Ein Prozeß der nur langfristig angelegt sein kann. Vor allem wenn man bedenkt, wie lange es dauern wird, bis die Transformation der Informationssysteme, der Wissenschaften, der Ausbildung erfolgt sein wird und daß im Normalfall 10-12 Jahre vergehen, bis sich neue wissenschaftliche Ergebnisse in der Öffentlichkeit durchgesetzt haben.

3. Europa-Spezifika und Information

Wenn ich von Europa spreche, dann meine ich stets die Länder vom Atlantik bis zum Ural - also eine recht heterogene Vergangenheit, Gegenwart und keine monolithe Zukunft.

Wenn wir im heutigen, so bestimmten Europa Prozesse wissenschaftlich anaylsieren wollen, wird es nicht mehr ausreichen, die alten arbeitsteiligen Wissenschaften gegen Neuerungen zu verteidigen oder anpasslerisch zu adaptieren. Dies könnte (sofern Gegenstände als Ausgangspunkt der Argumentation verwendet werden) nicht nur anhand der Sprachprozesse, sondern auch anhand der Entwicklung der Kulturindustrien insbesonders seit den 60er Jahren, den Kunstprozessen, den Kommunikationsstrukturen usw. gezeigt werden. Es ist eine neue Wissenschaftsorganisation notwendig, deren Basis zunächst auch eine Veränderung der Informationsstrukturen im Rahmen einer neuen Kulturpolitik ist. Im folgenden möchte ich daher auf die europäische Spezifik bisheriger Informationsstrukturen eingehen und einige neue Perspektiven aufzeigen.

Ich wende mich zunächst der Bedeutung von Materialsammlungen zu. Eine Spezifik von Europa ist, daß die Archivierung von Materialien nicht wenig weit entwickelt ist. Im Vergleich etwa mit Kamerun oder Indien besitzen nicht wenige europäische Länder ausgezeichnete Sammlungen, die zum Beispiel auch Tageszeitungen aus Kamerun beinhalten, die in Kamerun selbst nicht archiviert werden. Und zwar wird von Robert Musil im Romanfragment "Der Mann ohne Eigenschaften" das Problem dargestellt, Informationen in der Österreichischen Nationalbibliothek angesichts der Fülle des Materials zu finden(13), aber im Gegensatz zu indischen Bibliotheken mit vergleichbaren Materialsammlungen steht zumindestens ein Findsystem zur Verfügung (ganz abgesehen von den neuen Hilfsmitteln, die in jüngster Zeit elektronisch zur Verfügung gestellt werden).

Dennoch entsprechen auch die Zugänglichkeiten von Sammlungen in Europa nicht den Anforderungen heutiger Kulturwissenschaften. Ihre Struktur stammt weitgehend aus dem 19. Jahrhundert, wobei sich aber von Land zu Land große Unterschiede ergeben, die auch in den Ländern selbst noch einmal kontrastiert werden. Ich will hier nur einige Beispiele herausgreifen. Zum Beispiel die Nationalbibliotheken. In Frankreich wurde die Bibliothèque Nationale in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als nationale Sammlung organisiert, die zum Beispiel den Schriftwechsel der WissenschafterInnen nur insofern dokumentiert, als er in Französisch ist. Dagegen war die Österreichische Nationalbibliothek keine nationale Bibliothek. Nicht nur, daß aus historischen Gründen aus unterschiedlichsten Ländern Materialien wie Papyrusrollen, Stiche, Globen, Fotos, Bücher und neuerdings elektronische Publikationen zusammengetragen wurden und werden, sie besaß auch die längste Zeit keine eigene "Nationalbibliographie". Dennoch hat Österreich, genauso wie Frankreich, Deutschland usw. immer großen Wert auf Sammlungen zu den unterschiedlichsten Aspekten gelegt. Dies ist zum Beispiel in der Schweiz - ich nenne das Literaturarchiv in Bern - nicht unbedingt der Fall. Es bedurfte langer Kämpfe, bis dieses Archiv überhaupt eingerichtet wurde.

In den 90er Jahren kommen nun neue Momente hinzu. Nachdem lange Zeit in verschiedenen Ländern die Bedeutung der Archivierung neuer Medien nicht erkannt wurde, werden nun Fernseharchive angelegt, die einen völlig neuen Materialzugang für die Forschung versprechen. Zwar ist vieles bereits vernichtet worden, aber auch das tägliche Material ist aufgrund seiner Fülle schon kaum mehr zu archivieren. Elektronische Bibliographien zu Hörspielen usw. entstehen, die allein bisher im deutschsprachigen Raum etwa 55.000 Hörspiele umfassen dürften. Es entspricht dies auch einer Umorientierung der Politik bei der Absicherung von Macht, die von Josef Haslinger schon in den 80er Jahren beschrieben wurde.(14)

Dagegen treten andere Kommunikationsangebote - wie zum Beispiel die gedruckte Literatur - zurück. Dies ist kein linearer Prozeß, sondern hängt auch mit der Arbeitsweise gerade der wissenschaftlichen Disziplinen zusammen, die sich mit Sprache und Literatur beschäftigen.

Wie Sie bei der Generalversammlung des INST am 29.9. gesehen und gehört haben, stellt das INST bewußt die Sprache in den Mittelpunkt und verzichtet auf Formen des Desgins, die Prozesse auf eine Weise vereinfachen, die nur Mißverständnisse und Mißdeutungen hervorrufen. Es geht eben nicht um die Verwendung der neuesten Moden der Design-Industrie, sondern um eine klare Verbindung von Ausdrucksintention mit der entsprechenden Form. Und Wissenschaft basiert auf Sprache, weshalb eine Text-Ausstellung auch die konsequensteste Form ist, in der Öffentlichkeit ihre Ergebnisse zu präsentieren.

Das bedeutet aber keineswegs, sich einer breiteren Öffentlichkeit entziehen zu wollen. Denn "die" Öffentlichkeit gibt es nicht. Und die Trends des Designs sind keineswegs irgendwelchen ehernen Gesetzen der Massenkommunikation entsprungen - sondern Vorstellungen zur Massenkommunikation, die sich in konkreten Rahmenbedingungen entwickelt haben. Alternativen dazu zu entwickeln, bedeutet nicht, sich Fiktionen zuzuwenden, sondern vielmehr, die bisherigen Rahmenbedingungen und ihre Veränderungsmöglichkeiten mitzudenken. Kein leichter, aber ein gangbarer Weg.

4. Informationsstrukturen

Gehen wir von den bisherigen Informationsstrukturen aus, so werden wir rasch sehen, daß die kanonisierten Formen wenig geeignet sind, einen offenen Wissenschaftsprozeß zu befördern. Vielmehr sind die bisherigen Informationsstrukturen dazu angetan, Wissenschaftsprozesse vorzuprägen, zu behindern.

An erster Stelle möchte ich in diesem Zusammenhang die Zugänglichkeit von Archiven erwähnen. Diese ist in Europa noch keineswegs zufriedenstellend. Die Hindernisse sind je nach Land unterschiedlich. Sie reichen von der Sperrung bis zur Vernichtung. Allein seit 1945 bedeutet dies, daß es nicht wenige "weißen Flecken" des öffentlichen Gedächtnisses gibt, die nicht mehr reparabel sind.

Von diesen Extrembeispielen möchte ich zu Methologischem übergehen. Was wird zum Beispiel an Literatur oder Wissenschaftskorrespondenz gesammelt? Wer kümmert sich um die Nachlässe der Computerpioniere? In welcher Art und Weise gibt es eine Wechselwirkung zwischen den Sammlungen und der Öffentlichkeit? Im Zusammenhang mit diesen beispielhaften Fragestellungen ist es an der Zeit, den Begriff "kanonisierte Selektion" einzuführen. In der bisherigen Entwicklung waren die Strukturen der Sammlungen im wesentlichen auf die Wünsche privater Geldgeber abgestimmt, wobei Politik keineswegs immer ein Ausgleichselement gewesen ist, sondern oft "ordnend" eingegriffen hat. Wurden dann - vor allem seit den 60er Jahren - neue Gebiete entwickelt, war das Material oft nicht mehr vorhanden. Ich nenne hier als Stichwörter Alltagsgeschichte, Frauengeschichte, Friedensgeschichte, Wissenschaftskorrepondenz, Oral History.

Geht man nun davon aus, daß es auch Archive in Europa gibt, die den Elementen Sperrung, Vernichtung, kanonisierte Selektion kaum unterworfen waren, so wird sich doch ein weiteres Problem ergeben, das aus einem Anspruch der synthetisierenden Forschung entspringt: der Zugänglichkeit von Daten im Zusammenhang mit beschränkten Zeit- und Geldmöglichkeiten.

Zwar hat sich in diesem Bereich vieles verbessert. Wenn man den Aufwand studiert, den ein Wissenschafter auf sich nehmen mußte, wollte er mittelalterliche Schriften im 19. Jahrhundert herausgeben, so haben sich die Verkehrs- und Reproduktionsmöglichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch qualitativ verbessert. Außerdem ist es nicht immer unbedingt notwendig, eine Reise zu unternehmen. Wenn man die von Andrea Rosenauer gestalteten "Suchhilfen" auf der Homepage des INST betrachtet, so sieht man, daß man durchaus in Lemberg/Lviv, in Rustschuk/Rousse, in Krakau/Kraków sitzen und doch bibliographische Materialien der Österreichischen Nationalbibliothek, österreichische Tageszeitungen usw. studieren, aber auch Informationen aus Datenbanken in den USA, Japan usw. erhalten kann. Und über die Suchmaschine des INST können neuerdings auch Informationen über Konferenzen, Zeitschriften, Bücher, Lehrveranstaltungen usw. der PartnerInnen abgefragt werden.

Dennoch ist das Informationssystem im Internet bei weitem noch nicht so entwickelt, wie es wünschenswert wäre. Zum Beispiel fehlt dem europäischen Verbund der Nationalbibliotheken eine serverübergreifende Suchmaschine. Suchmaschinen, die Vielsprachigkeit so bewältigen, daß sie möglichst punktgenau sind, gibt es ebenfalls noch nicht. Die Verbreitung der Hard- und der Status der Software lassen sehr zu wünschen übrig, was bereits in Innsbruck punktuell herausgearbeitet wurde. Es gibt auf diesem Gebiet also noch viel zu tun. Und es hat sich gezeigt, daß für eine effektive Gestaltung der neuen Strukturen ein Dialog zwischen den Entwicklern von Informationssystemen, Wissenschaften, Software und Hardware unerläßlich ist. Fragen wie Aufbau der Software, Verwendung von Zeichen, Sicherheit der Systeme, AutorInnenrechte, Verwendung von Programmen usw. betreffen uns alle, ob wir nun InformatikerInnen, LiteraturwissenschafterInnen, Provider, BibliothekarInnen usw. sind.

5. Wissenschaftsstrukturen

Wir haben bereits in der Vergangenheit zu verschiedenen Anlässen über Vor- und Nachteile der Arbeitsteilung, über Fachorientierung und Interdisziplinarität diskutiert. Festgehalten wurde, daß die adäquate Methodologie aufgrund der Gegenstandsbestimmung nur die Transdisziplinarität sein kann (oder eine Interdisziplinarität, die sich zwar so nennt, aber im Prinzip transdisziplinär arbeitet).

Diese Methodologie ist es, die die komplexen Datenmengen, deren punktgenaue Zugänglichkeit über serverübergreifende Suchmaschinen wünscheswert wäre, systematisch verarbeiten läßt. Die bloße Bestimmung der Methodologie reicht aber nicht aus. Aus ihrer erwünschten Anwendung ergibt sich vielmehr auch eine Transformation der Ausbildungen, der Wissenschaftsstrukturen, der Wissenschaftskommunikation, der Wissenschaftskooperationen.

Unproduktiv wäre es, aus heutigen Strukturen abzuleiten, daß diese Methodologie nicht brauchbar wäre. Dies wäre keine wissenschaftliche, sondern eine bürokratische Schlußfolgerung. Notwendig wäre vielmehr, diese neuen Formen zu entwickeln, wozu es auch im Rahmen des INST vielfältige Ansätze gibt. Und so wie zunächst versucht wurde, mittels Artikeln, Diskussionen, Internet-Seminaren, Konferenzen eine neue Basis für die Wissenschaftskommunikation im INST zu schaffen, so wird es notwendig sein, neue Ansätze für die anderen Bereiche zu entwickeln. Dies kann aber nicht Thema dieser Konferenz sein, sondern soll in Paris im Jahre 1999 im Rahmen der Konferenz "International Cultural Studies" beraten werden.(15)

Abschließende Bemerkungen

Bisher stand vor allem in den Geisteswissenschaften im Vordergrund, kulturelle Prozesse (auch grenzüberschreitende) zu isolieren (sie vom Gesamtprozeß abzukoppeln) oder sie als trennendes Element anderen Kulturen gegenüberzustellen (die Identifikation durch die Negation des/der Anderen). Arbeitsteilung, Finanzierung, politische Rahmenbedingungen u.a. kamen dem entgegen. Angesichts der tatsächlichen kulturellen Prozesse verfehlen die Geisteswissenschaften mit derartigen Annäherungsformen jedoch den Gegenstand und - bei sich nun ändernden Rahmenbedingungen - die Glaubwürdigkeit. Eine beharrende Abkapselung (oder bloß adaptierende Modifikationen), die Arbeitslosigkeit der Ausgebildeten, Verlust des öffentlichen Ansehens, mangelnde Finanzierungsbereitschaft usw. mit sich brachten, haben zum Verfall dieser wissenschaftlichen Richtung geführt.

Im Zentrum der neuen Bemühungen sollte das Verbindende der Kulturen stehen - im Sinne des UNESCO-Dokuments "Our Creative Diversity". Bei unserer nächsten Konferenz in Paris vom 15. bis 19.9.1999 zum Thema "International Cultural Studies" sollen in diesem Zusammenhang neue Vorschläge erarbeitet werden. Dieser Konferenz ist zu wünschen, daß sie Ansätze für ein neues Verhältnis zwischen Wissenschaft und Informationssystemen schafft, die die Grundlage für neue Wissenschaftsformen sind. Immerhin werden im Rahmen dieser Konferenz eine Reihe von interessanten Referaten zu Suchsystemen, Literaturen, Zeitschriften, Archiven im Internet angeboten. Wir werden im November 1998 die Möglichkeit haben, unsere Vorstellungen im Kulturausschuß des Europäischen Parlaments zu präsentieren. Und wir sollten uns gemeinsam darum bemühen, daß darüber hinaus diese Ansätze eine breite Öffentlichkeit erreichen, um für die notwendigen Transformationen von den verschiedensten Seiten Unterstützung zu finden.

© Herbert Arlt (Wien)

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Anmerkungen:

(1) Zum INST s.: http://www.inst.at/

(2) Zum Begriff vgl.: Roland Benedikter: Geister- oder Geisteswissenschaften? In: Die Presse, 13.7.1998.

(3)  Die Ergebnisse dieser Konferenz erschienen in: Daviau/Arlt: Die Geschichte der österreichischen Literatur. St.Ingbert 1996, Teil I und II sowie in TRANS Nr.1-4 (http://www.inst.at/trans/).

(4) S. Anm. 3.

(5) Vgl. dazu den Beitrag von Herbert Arlt zur Konferenz "Mulit-Culturalism and Multi-Ethnicity in Central, Eastern and Southeastern Europe" mit dem Titel: "Regionalität, Nationalität, Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität".

(6) Vgl. dazu den Abschnitt über "Sprache..." in der Ausstellung "Kulturwissenschaften und Europa": http://www.inst.at/ausstellung/sprabinu.htm

(7) Vgl. dazu Naoji Kimura: Jenseits von Weimar. Goethes Weg zum Fernen Osten. Bern 1997.

(8) 196 Milliarden Dollar in Europa, 320 in den USA. Angaben nach: Jakob Steurer: Was kommt auf den Teller? In: Die Presse, 29.8.1998.

(9) Vgl. zu kulturellen Konzepten: Cultural Policies in Europe. In: http://www.spoe/ri/kulturkonferenz/index.htm

(10) Zur Begriffsbestimmung vgl.: Herbert Arlt: Kulturprozesse, Weltpolitik, Kulturwissenschaften. In: TRANS Nr. 5/1998. WWW: http://www.inst.at/trans/5Nr/arlt.htm

(11) Our Creative Diversity. Report of the World Commission on Culture and Development (1995), S.180.

(12) Ebd., S.179.

(13) Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1952, S.459ff.

(14) Josef Haslinger: Politik der Gefühle. Darmstadt, Neuwied 1987.

(15) Die jeweils neuesten Informationen zur Konferenz in Paris finden Sie unter: http://www.inst.at/termine/


Webmeister: Angelika Czipin
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