Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. Mai 2001

Österreich Ohneland
Robert Schindels Gedichte

Markus Hallensleben (Hongo)

Wenn Fremde über die Brücke fahren, und unter der Brücke
Fährt ein Eisenbahnzug mit Fremden durch, so sind
Die durchfahrenden Fremden
Fremde unter Fremden
Was Sie, Herr Lehrer, vielleicht
So schnell gar nicht begreifen werden.
Oho!
(1)

Seinem ersten bei Suhrkamp veröffentlichten Gedichtband, der bezeichnenderweise "Ohneland" betitelt ist, hat Schindel unter anderem dieses Motto von Karl Valentin vorangestellt. "Ohneland" macht schon deutlich, dass hier eine Deterritorialisierung stattgefunden hat. Allerdings das Paradoxon einer Deterritorialisierung. Die Deleuzeschen Fragen Was entfernt sich von was? Wer steht über oder unter wem? sind kaum mehr beantwortbar.(2) Ohneland meint die Austauschbarkeit von Koordinaten: ein Land wird benannt und ist doch nicht vorhanden.

Wenn ich hier von "Österreich Ohneland" spreche, dann meine ich ein literarisiertes Österreich wie es in Schindels Gedichten auftaucht, in dem die offene Dialektik eines Postkolonialismus zu finden ist. Es geht dabei nicht darum, ob Österreich eine Kolonialmacht war oder nicht, schon immer Vielvölkerstaat oder wie immer dieses Kulturerbe der Habsburgmonarchie eingeschätzt wird. Ich verstehe vielmehr unter "postkolonial" eine nachkoloniale Haltung, ja eine postimperiale Redeweise, die nicht mehr territorial denken und agieren lässt, eine Rhetorik, bei der die Machtgefüge aufgehoben sind.(3) Robert Schindel hat sich mit dieser nachhegelschen Konstellation einer offenen Dialektik intensiv auseinandergesetzt.(4)

Kann man zwischen Fremden und Fremden unterscheiden? Wer sind die anderen, wenn man sich selbst nicht mehr eindeutig definieren kann? Solche Fragen sind angesichts der Isolierung Österreichs nach der Bildung der Mitte-Rechts-Koalition offensichtlich wieder sehr aktuell geworden. "Das Recht anders zu sein" war der Titel einer Essaysammlung, in der sich neben Aufsätzen zur gegenwärtigen österreichischen Politik von Jelinek und Tabori auch ein Beitrag zu Schindel findet.(5) "Das andere Österreich" hieß ein zweiter Sammelband mit Aufsätzen von Amery bis Schindel.(6) Und im Jahr 2000 erschien "Berichte aus Quarantanien", in denen Robert Schindels Beitrag "Mein Wien" enthalten ist.(7)

Andersdenkende definiert der Duden als Angehörige einer Minderheit, so wie Andersfarbige, Andersgläubige, Andersartige, Fremde usw. Wir sind mit dieser eurozentrischen Logik vertraut. Diese Anderen sind immer die anderen, sie gehören nie ganz dazu, sie werden ausgeschlossen. Man kann also vielleicht zwischen anders Denkenden und sich als anders mächtig Gebenden unterscheiden. Die letzteren nämlich folgen im Sprachgebrauch der Verwendungsweise von "anders", wie sie im Duden auch beschrieben ist, etwa in dem Sinne von "früher war alles ganz anders", besser, schöner. Von diesem Standpunkt aus beziehen sie ihr Anderssein und können sich so von anderen unterscheiden und selbst behaupten. Das sind meistens diejenigen mit Land, die sich von diesem Standpunkt aus ihre Kultur konstruieren und ihre Tradition inszenieren. Der Zustand des anders Denkenden hingegen ist, wie bei Schindel im Kapitel "Nächtlicher Tag" im Gedicht "Kältelied" gesagt wird, der ohne Land: ein Zustand, wo es das "vertraute Unbekannt" gibt, ein Zustand, bei dem man, "verstorben fast", nur noch Luft im Maul hat, bei dem einen die "toten Ahnen […] auf der Stirn stehen", und wo man schließlich was man ist nicht mehr ist.(8)

Anders sein oder anders denken: zwei Kehrseiten einer Medaille, die einen schließen aus, die anderen werden ausgeschlossen. Ein wesentlicher Unterschied, denn das Recht, anders zu sein, hat jeder. Nur: Es gibt es immer solche, die Recht sprechen, und solche, die nicht so recht hören können oder wollen. Jedes Urteil kann auch leicht verurteilen. Im Vorurteil zeigt sich das besonders. Die "Berichte aus Quarantanien" sind Berichte aus einem kolonialisierten Land. Der ironische Titel lässt Österreich als europäische Kolonie erscheinen, wobei unter Quarantäne so etwas wie eine Zwangsdekolonialisierung assoziiert werden kann.(9) Österreich: ein nach Europa einwanderndes Land? Österreich, das Ohneland, in dem man zugleich anders ist und anders denkt? Wo man sich der deutschsprachigen Literatur (und dem deutschen Verlagswesen) verpflichtet fühlt und sie zugleich (oder auch dagegen) revolutioniert? Denn im Informationszeitalter geht es im Wechselspiel politischer Mächte längst nicht mehr um Territorien oder Ressourcen, sondern um die durch solche Wortspielereien aufgedeckten postkolonialen Kippspiele der Macht. Inzwischen von einem europäischen Rat der Weisen wieder aus der Quarantäne entlassen ist Österreich wieder nach Europa rekolonialisiert bzw. wiedereingebürgert worden. Aber funktioniert diese Reterritorialisierung tatsächlich? Robert Schindels Österreich ist weit davon entfernt und doch näher an einer Antwort, unter welchen Voraussetzungen das möglich ist.

"Mein Wien" ist Schindels Essay aus der oben genannten Sammlung programmatisch übertitelt und beginnt: "Mein Wien ist ein nachblutender Witz. Es gibt keine witzigere Stadt als Wien, nicht einmal Tel Aviv."(10) Schindel erzählt hier seine Wiener Herkunft als Geschichte von (jüdischen) Witzen. Wer über sich so wie über den anderen lachen kann, das ist der hintergründige Tiefsinn dieser Geschichte, sublimiert den Unterschied des Andersnennens und -genanntwerdens. In Wien gibt es, so Schindel, eine Gemütlichkeit, eine Heimeligkeit, die "die seltsame Liebe der Herausgeschmissenen zu den Herausschmeissern" erkläre.(11) Doch dieser Text, ein parodistischer Dialog zwischen dem Autor und der Figur eines kritischen Wiener Kleinbürgers über Wiener mit und ohne Wirbelsäule endet nicht witzig, sondern ernst, mit einer klaren Warnung vor dem kolonialen Gestus der Haiderpartei, zugleich "zu stehlen und nach dem Dieb zu rufen".(12)

Was aber ist ein nachblutender Witz? Man lacht mit blutendem Herzen. Wien ist Schindels Hassliebe, es lässt sich nur lachend ertragen. Der Witz kehrt die Heimatkunst in eine Kunstheimat um. Der Essay über Wien entspricht Schindels Thema aus dem Gedicht Vineta 1(13) des Gedichtbandes "Ein Feuerchen im Hintennach". Dort heißt es:

Ich bin ein Jud aus Wien, das ist die Stadt
Die heiße Herzen, meines auch, in ihrem Blinddarm hat
Die schönste Stadt der Welt direkt am Lethefluß
Ich leb in ihr, in der ich so viel lachen muß
(14)

Das Lachen würde einem andernorts im Hals stecken bleiben, aber Schindels Lachen geht hier tiefer. Es ist ein Lachen trotz des Negativen. Es kommt aus den Eingeweiden und erinnert an das Heines, als hätte man sein Herz verschluckt oder als sei es einem zerstochen worden.

Und wenn das Herz im Leibe ist zerrissen,
Zerrissen, und zerschnitten, und zerstochen -
Dann bleibt uns doch das schöne gelle Lachen.
(15)

Doch das ist nicht die einzige Dimension in Schindels Gedicht. In Wien wird genauso viel gelacht wie vergessen, ja vielleicht sogar durch das Lachen der anderen vergessen:

Einst Welthauptstadt des Antisemitismus ist sie heute
Vergessenshauptstadt worden. In ihr lachen Leute
[ …]
Ach diese Stadt ist nicht fürs Alpenglühen da
Sondern sie lebt, wie ich, längst in Diaspora

Man kann lachen, um zu vergessen, aber auch lachen, um sich zu erinnern. Im Grunde müsste sich beides zusammen ausschließen, aber das in Lachen und Vergessen vereinte, in Bewusstsein und Gedächtnis gespaltete Wien, das Schindel meint(16), ist so etwas wie ein lebendig gewordenes Oxymoron: das Österreich der anderen und doch ein anderes Österreich, bei dem auch an die Geschichte der verfolgten, unterdrückten und ermordeten Juden zu denken wäre, an all die Österreicher eben mit und ohne Land.

In Vineta 2(17) lässt sich nachlesen, wie Schindel auch einer anderen Art des Wiener Humors auf den Zahn fühlt:

Vom Hörensagen kenne ich den echten Judenscherz
Und mit der Zahnbürste spür ich des echten Wiener Herz
In Wien kenn ich dir jeden Stein und jeden Stern
Lebe in dieser Stadt so mittelgern

Das lyrische Ich des Wieners Schindels kennt beide Seiten Wiens gleichermaßen: das der Judenwitze und das der Bewitzelten: es kennt eben jeden Stein und Stern, beinahe so könnte man sagen, kennt es jeden Witz in Wien von beiden Seiten, so z.B. auch den Juden/Witz "Paul Stern", wie die zweite Zeile des Gedichts das doppeldeutige Ende vorwegnimmt.(18) Mit dieser Doppeldeutigkeit aber findet sich das lyrische Ich nicht inmitten der Stadt wieder, sondern eben nur mittelgern darin - es lebt nicht mittendrin.

In Schindels Gedichtband Ohneland kommt diese Marginalität des lyrischen Ichs, seine Hybridität(19) sehr viel deutlicher zum Ausdruck. Dort wird, v.a. im dritten Kapitel, das vielsagend Angelus Novus überschrieben ist, dieser Zustand des Ohnelands als Bewusstseinskrise des lyrischen Ichs beschrieben und mit der Frage nach dem Geschichtsbewusstsein in Zusammenhang gebracht. Das lyrische Ich steht sich selbst gegenüber und ist in seine verschiedenen sozialen Rollen gespalten, vom Amtstyp bis zum "Sprechblasensubstrat Streifenmensch".(20) Schindels Reminiszenz an Hölderlins Hymne Brot und Wein, "daß wir das Offene schauen,/ Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist",(21) gerät hier zum multiplen Dichtersubjekt des 20. Jahrhunderts, wie wir es seit Rimbaud nur zu gut kennen.(22) In Schindels palimpsestartiger Dichttechnik, die mehr Verdichtung als Übertragung ist, wird aus Hölderlins geflügeltem Wort - "wozu aber Dichter in dürftiger Zeit?"(23) - "Was läßt mich/ Dürfen in dünner Zeit?" Schindel will uns offensichtlich nicht nur an Hölderlin, sondern auch an Günter Eichs "Latrine" erinnern, in der die Verse Hölderlin ebenfalls "irr […] im Ohre schallen".(24) Diese Streifen- oder Schnitttechnik verweist nicht von ungefähr auf die Technik der Montage, vielleicht sogar in Analogie zur Technik des Films.

Hölderlins "Hälfte des Lebens" wird so mit dem gleichen Verfahren des Schnitts wenig später, in Versuch über die Präzision, zur "Hälfte des Leibs". Die Umdichtung des Benjaminschen Angelus Novus(25) in einen Papierdrachen funktioniert entsprechend:

[…] und auch die Politik
Ein Drachen aus gerissenem Stoff
Der abwärts mit betrunkner Gebärde
Sich so beweget selbst
Den Boden nicht erreicht
Wie ich auf meiner Insel
Vor mir Pläne
Den Trümmerhaufen hinter mir
Und über mir die Gipfelkreuze
Der Genügsamkeiten
(26)

Schindel vermisst die logozentrischen Raum- und Zeitkoordinaten, das "HIER und JETZT" mit einer Wortpräzision, die konkrete Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Erinnerung und Traum, aus Literatur und Zeitgeschichte wie "heiß (…) und kalt" vermischt. Im Wechselbad der Wortspiele wird das Territorium des Dichtens, "aus vergangnem Ohnland",(27) humorvoll zurückerobert:

Dasteh ich
Eine volle Welt an den vier Polen.
Ausgerufen vom Zufall
Vorhanden, weil dazuda.

Das WARUM es wird zum NA UND
Das WIE landet im AHA
WOHER ist gleich OHO
WOHIN jawoll HIN WO?
(28)

Wo steht man? Dasteht man. Wozu ist man da? Dazuda. Warum? NA UND. WIEso? AHA. WOHER? OHO. WOHIN? Am Ende ist man eh HIN. Aber WO steht man dann? und so fort. Der rhetorische Kreisel von alltäglicher Frage und banaler Antwort dreht sich unermüdlich, so lange, bis das Dasein zum dadaistischen Wortspiel führt.(29) Erinnert sei nochmals an Karl Valentins OHO und die Fremden über den Fremden unter den Fremden, was hier als Kryptozitat zu werten ist. Das Zufällige dieser Logik stellt die Dialektik als eine ins Unendliche offene Denkbewegung aus; der Zustand dieser Logik ist der von inkonstanten Koordinaten, ist hybrid. Die Identitäten werden austauschbar wie die Ortsbestimmungen, die Ortsbestimmungen austauschbar wie die Identitäten.

In Schindels späteren Gedichtbänden häufen sich dann immer mehr die Ortsbestimmungen (wobei hier nur ein paar Titel kursorisch genannt seien): erst "Die Reise nach Frankfurt", "Berliner Spaziergang I"(30) oder "Jalta 1 & 2"(31), Texte, denen die persönlichen Reiseerfahrungen noch unmittelbar eingeschrieben sind, welche sich dann aber immer mehr verlieren, in den "Marsfeld"-Gedichten (aus Paris), im "Petit Café, Hamburg" oder in der "Reise nach München"(32), bis dann im neuen Gedichtband von Schindel, "Immernie", die Orte und Ortsbezeichnungen im Text gänzlich ineinander verschwimmen.(33) Geographische Sehenswürdigkeiten wie der Bayerische Wald, Rom, Venedig oder Zürich wechseln sich mit Orten auf der politischen oder literarisch-filmischen Landkarte ab: z.B. "Out of Sarajevo" oder "Die Reise der Wörter 1 & 2".(34) Die Kriege im Balkan spalten nicht nur Europa, sondern auch die Wörter in Bilder:

Über den zentralen Alpen trennen sich die Wörter von sich
Verlassen die Kavalkade nesseln herunter verschwinden
In den Computern kommen aus diesen durchrastern die Bilder
Und Schilf wiegt sich zu Minen Markt zu Massakern die
Wörter aus jenen und der Kontinent plappert
Die Gegend zu dort frühere Bauern und Ärztinnen
Einstige Kinder und Soldaten ein stilles Equipment ergeben
(35)

Das vierte Kapitel(36) aus "Immernie" führt vom Pariser "place de l'école militaire" über Clichy nach Algerien , dann in die Alpen und nach Rom, um am Ende auf dem Platz "Victor Hugo" in Zweibrücken zu enden. Das thematisch zentrale Gedicht dieses Kapitels ist "Anderwärts und unterwegs" überschrieben.

Anderwärts und unterwegs
Daheim ein heimliches Zuhaus
Ich nehm es hin aber ich legs
Zum Trocknen auf die Böschung raus

Die mit Gebüsch und Disteln abgesaftet
In jenen alten Schatten grundelt
Ich selbst dem Anderwärts verhaftet
Hör Pfiffe und ein Schäfer hundelt

Was ist denn los mir geht es gut
Auch wenn in Bosnien am Kochen
Die Suppe aus Geknoch und Blut

Die ganzen Toten haben nicht so gut gerochen
Die Nacht und Jahr in meinen Schlaf gekrochen
Tagsüber geh ich lächelnd unter meiner Hut
(37)

Die Form erinnert an Rilkes offene, enjambementreiche Sonett-Technik, wo nur noch an die Form des Sonetts erinnert wird und sie längst nicht mehr streng durchgeführt ist. Bei Schindel führt diese Technik des Formzitat zu einer ins Extreme geführten Intertextualität: Während im vorigen Gedicht etwas Dadaismus herauszuhören war, hört man hier in der letzten Zeile ironisch das Ende von van Hoddis Gedicht "Weltende".(38) Schindels Ton hat sich aber vom Expressionismus weit entfernt. Er schneidet wie ein Filmemacher idyllische und literarische sowie Bilder aus dem politischen Zeitgeschehen zusammen. Diese Bilder können, wie der so betitelte Abschnitt aus den Wiener Vorlesungen klar macht, Traumbilder, Filmszenen, Zeichnungen und Sprachbilder sein, was sie dann aber verbindet (und verbinden lässt), ist ein Erinnerungsbild. (39)

Während es in der Wiener Vorlesung ein fallender Ziegel während eines Bombenangriffs ist, der mit dem Wort "Bussard" Bomber assoziieren lässt und so die Idylle einer Wanderung mit Vogelschau zerstört, sind es in "Anderwärts und unterwegs" die Pfiffe, die aus der idyllischen Schäferszene eine angstbesetzte Gegenwartsvision werden lassen. Was wird da eigentlich, auf der Böschung, zum Trocknen ausgelegt? Etwa Früchte der Zeit? Ein Bild, so Schindel, erspare hundert Wörter(40): Hier legt Schindel eine Spur aus: das Zuhausesein, wie es jeder frühmorgendliche Zeitungsleser im Lokalteil seiner Zeitung findet, geht während der Lektüre des politischen Teils wieder verloren. Die bürgerliche Idylle wird gestört durch das politische Geschehen vor Europas Haustür; ja noch mehr: durch die Erinnerung an die europäische Geschichte, die man auch als eine Abfolge von Kriegen lesen kann. Die Schatten der Vergangenheit kriechen in die Träume hinein, überlagern sich mit dem Bild der Toten des Bosnienkrieges.

Diese filmische Überblendtechnik prägt die Lyrik von Robert Schindel, der nicht umsonst selbst auf einen Einfluss der Filme Godards verweist. Das "äußere Szenarium verzahnt(.)" sich mit dem "inneren Chaos" des Autors und kreiert eine "Angstsuppe". "Das Idyllische", so Robert Schindel, "wie verlogen es auch sein mag, gehört zu den Illusionen, und diese sind auch psychische Mutterkuchen."(41) Mit Bildern ernährt sich der Dichter. Die Schreckbilder isst man dabei unweigerlich mit, so wie die tägliche "Suppe aus Geknoch und Blut". Was andere Filmemacher ausfiltern würden, lässt Schindel im Film. Was andere Wortemacher im Text lassen würden, spart Schindel aus. Seine Schnitttechnik ist, wie in einem surrealistischen Film, ein Schnitt durchs Auge, die Angst vor dem Schnitt mit eingeschlossen. Die beinahe physische Angst, die vor einem solchen Schnitt besteht, prägt die lyrischen Bilder Schindels. Die hinter den Zeilen verborgene physische Anwesenheit des lyrischen Ichs geht durch Räume und Zeiten ohne wirklich erlebbar zu sein. Sie ist immer schon vergangenes Erlebnis, nur noch Erinnerung an eine territoriale Anwesenheit des Ichs. In den Texten spricht sich ein Unterwegssein aus, in dem es nur "Fremde unter Fremden" gibt, ein dialektisches Bild, das, wenn man es ganz ins offene Ende denkt, so etwas wie ein Gefühl des Zuhauseseins kreieren kann: "Ich wohne nirgends. Ich bin überall daheim".(42) Es ist ein Zuhausesein wie in der Diaspora, ein Zuhausesein ohne Territorium, in einem Österreich ohne Land, in einem Wien, das schon lange keine römische Kolonie mehr ist, sondern in dem die "Leopoldstadt […] schon in Vorzeiten ein Ansiedlungsgebiet der Juden gewesen" ist.(43)

Das Österreich der Nachkriegszeit ist ein unabhängiges freies Land, aber unabhängig und frei von der Geschichte ist es nicht, oder mit Schindels Worten gesagt, ist es das immernie. Das Territorium, das Schindel absteckt, ist grenzenlos. Aber es ist alles andere als angstlos: Es ist eine nach Innen gewandte Utopie, die sich aus den Bildern der Vergangenheit und aus der Erinnerung auch an die Shoa nährt.(44) Vielleicht ist das ja dieses Fremd bei sich selbst-Sein, von dem er in einem seiner Gedichte aus dem Band "Im Herzen die Krätze" gedichtet hat.(45) Man ist sogar so fremd unter Fremden, dass man dann selbst "Das Ausland in der Brust" hat. Das Gute an diesem Bild: "Die persönlichen Feinde/ Sterben aus. Ich bin so mild. Kein Streit." Könnte das nicht auch Schindels politische Utopie eines "anderen, hoffnungsvolleren, zivilen und kulturellen Österreichs" sein(46), wie es jüngsten Interviews mit dem Autor zu entnehmen ist? Doch eine solche Utopie könnte schließlich auch langweilig werden, zumindest fürs Gedicht: "So leb ich nicht so gern." Gut, dass es da die Politik gibt, die einen noch am Leben lässt: "Die Politik/ Aber läßt mich nicht sterben. Der Entbehrliche/ Wird noch gebraucht. So lebe ich."(47) Das Passiv ist nicht zu überhören: man wird noch gebraucht, gerade als anders Denkender, gerade als vermeintlich Entbehrlicher ist man unentbehrlich. Ein Anderssein ist ohne Andersdenkende unmöglich, und das bringt uns zum Motto auch Robert Schindels zurück: Gott schütz uns vor den guten Menschen.

© Markus Hallensleben (Hongo)

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Anmerkungen:

(1) Robert Schindel. Geleitbrief. In: Ohneland. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. S.7. Ohneland enthält allerdings Gedichte, die erst später als die der später erschienenen Gedichtbände entstanden sind. Valentins Text "Die Fremden" findet sich vollständig in: Karl Valentin. Gesammelte Werke. Bd. 1. Monologe und Dialoge. München/ Zürich: Piper. S.158-183.

(2) Vgl. Gilles Deleuze/ Félix Guattari. Tausend Plateaus. Berlin: Merve 1992. S.239-241. Insofern könnte man am Fall Schindel auch das Theorem einer "kleinen Literatur" im Sinne einer Minderheitenliteratur erörtern (vgl. Gilles Deleuze/ Félix Guattari. Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. S.24-27.) Im Grunde handelt es sich bei Schindel um eine Verdoppelung des Phänomens der Deterritorialisierung der Sprache, wie noch zu sehen sein wird.

(3) Zur Begriffsbestimmung siehe Homi K. Bhabha. Postkoloniale Kritik. Vom Überleben einer Kultur. In: Das Argument. 38. Jg. Heft 3 (1996). S.345-359. Es geht dabei darum, Kultur als Konstrukt und Tradition als Erfindung wahrzunehmen (vgl. S. 346), oder auch "außerhalb des Satzes zugleich kultiviert und wild zu denken" (S.354).

(4) Dies ist nur eines seiner Leitthemen - es gibt natürlich noch andere wie Liebe und Körperlichkeit etc.

(5) Thomas Rothschild: Das Recht anders zu sein. Aufsätze zur Politik. Wien: Der Apfel. 1995.

(6) Das andere Österreich. Eine Vorstellung. Hrsg. von Konstanze Fliedl. München: dtv. 1998.

(7) Österreich. Berichte aus Quarantanien. Hrsg. von Isolde Charim und Doron Rabinovici. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 2000. Schindels Beitrag auf S.78-88.

(8) Ebd. S.95f.

(9) Ein wichtiger Bestandteil der Einwanderungsbestimmungen sind gemeinhin die Quarantäneregelungen.

(10) Robert Schindel. Mein Wien. In: Österreich. Berichte aus Quarantanien. A.a.O. S.78.

(11) Ebd. S.81.

(12) Ebd. S.88.

(13) Wohl auch in Anspielung an Jura Soyfers "Vineta" (1937). Den Hinweis verdanke ich Eberhard Scheiffele, Tokyo. Siehe ferner: Jürgen Doll. Von Vineta nach Jumne. Zu Erich Frieds Hörspielfassungen von Jura Soyfers "Vineta". In: Jura Soyfer Online. Nr.3 (2000). http://www.soyfer.at/online/nr03/doll_fried.htm#t24 [10.02.2001].

(14) Robert Schindel. Ein Feuerchen im Hintennach. Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. S.53.

(15) Heinrich Heine. "Fresko-Sonette an Christian S." In: Buch der Lieder. Werke und Briefe. Hrsg. von Hans Kaufmann. Berlin/ Weimar: Aufbau 1961-64. Bd. 1, S. 66-67.

(16) In Geleitbrief aus dem Band Ohneland zitiert Schindel Freud: "Gedächtnis und Bewußtsein/ schließen einander aus" (a.a.O.).

(17) Ich lese die von Schindel mit Absicht nicht zyklisch zusammengefassten, aber nach ihrer Entstehungszeit chronologisch durchnumerierten Gedichte hier als Zyklen.

(18) Robert Schindel. Vineta 2. In: Ein Feuerchen im Hintennach. A.a.O. S.18. Typisch für Schindel ist, dass er diesen Namenwitz vor Vineta 1 stellt.

(19) Zur Definition: "Nach Bhabhas Vorstellung nutzen koloniale Hybridität oder Mimikry dem kolonialen Diskurs inhärente Ambivalenz und Widersprüche, um sich eulenspiegelhaft über das Bestehende hinwegzusetzen." (Gesa Mackenthun. "E Pluribus Unum?" - Die Position der USA. In: Das Argument. A.a.O. S.376.

(20) Robert Schindel. Traktat vom Streifenmenschen (Pour Hölderlin IX). In: Ohneland. A.a.O. S.35.

(21) Friedrich Hölderlin. Gedichte 1800-1804. In: Sämtliche Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe [KSA], hrsg. von Friedrich Beissner, Stuttgart: Cotta, 1946-1962. Bd. 2, S. 95.

(22) "Car Je est un autre" (Œuvres, hrsg. von Suzanne Bernard Paris: Garnier 1960, S.345). Vgl. dazu bei Schindel: "Doch schreite ich mit meinen Andern" (Angelus Novus I). In: Ohneland. A.a.O. S.38.

(23) KSA, a.a.O. Bd.2, S.98.

(24) Vgl. Fabula rasa. Gedichte und Maulwürfe. Stuttgart: Reclam 1986. S.11.

(25) Vgl. Walter Benjamin. "Über den Begriff der Geschichte" (1940): These IX. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Band I/2. S. 697f.

(26) Angelus Novus 1. In: Ohneland. A.a.O. S.37.

(27) Angelus Novus 2. Ebd. S.42.

(28) Ebd. S.41.

(29) Erinnert sei hier auch an den mundartlichen Limerick: "Wer samma? Mia samma? Wo samma? Hia samma? Wia samma? Mei san wia guat!" (Wer sind wir? Wir sind wir. Wo sind wir? Hier sind wir. Wie sind wir? Ach, sind wir gut!)

(30) Robert Schindel. Geier sind pünktliche Tiere. Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. S.83 u. 93.

(31) Robert Schindel. Im Herzen die Krätze. Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S.18f.

(32) Robert Schindel. Ein Feuerchen im Hintennach. A.a.O. S.12, 15, 78f.

(33) Siehe zu diesem Aspekt auch Yoko Yamaguchis Beitrag "Gedicht als Schrift und Gedicht als Speise:
Kommunikationsbilder bei Paul Celan und Robert Schindel
" in der vorliegenden Nummer von Trans.

(34) Robert Schindel. Immernie. Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. S.31, 18, 39.

(35) Die Reise der Wörter 1 (Inmitten des Karstes). Ebd. S.19.

(36) Schindels Gedichtbände sind alle wie Romane in Kapitel eingeteilt und holen so das Epische in die Struktur der lyrischen Sammlungen zurück, d.h. sie manifestieren auf diese Art und Weise einen Erzählgestus, der in den einzelnen Versen sprachlich oft mit Absicht ausgespart ist.

(37) Ebd. S.62.

(38) Unter der Voraussetzung, dass man Hut hier als Homonym versteht.

(39) "Literatur - Auskunftsbüro der Angst. Wiener Vorlesungen zur Literatur. II. A. Die Bilder", in: Robert Schindel. Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis - Auskunftsbüro der Angst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. S.89ff.

(40) Ebd. S.90.

(41) Ebd. S.94.

(42) Ich wohne nirgends. In: Robert Schindel. Im Herzen die Krätze. A.a.O. S.89.

(43) Mein Wien. A.a.O. S.79.

(44) Selbst wenn Schindel, wie kürzlich erlebt, durch Tokyo geht und sich Kanjis merkt, ist diese Erinnerung an Auschwitz über die symbolische Bedeutung visualisierter Schriftzeichen noch da.

(45) Fremd bei mir selbst. In: Robert Schindel. Im Herzen die Krätze. Gedichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S.94.

(46) "Zeigen, dass es auch ein anderes, ziviles Österreich gibt." Robert Schindel, Juryvorsitzender beim Klagenfurter Bachmann-Preis, will den Kulturkampf mit Haider. In: taz vom 15.02.2000.

(47) Fremd bei mir selbst. A.a.O.


Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 28.01.2002