Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Zwei geistig verwandte Literaturkritiker:
der Österreicher Hugo von Hofmannsthal und der Rumäne Ion Marin Sadoveanu

Mariana Lazarescu (Bukarest)

Der Name des österreichischen Dichters Hugo von Hofmannsthal wird in zahlreichen rumänischen Studien, Beiträgen und Büchern zur Literaturkritik und Literaturgeschichte hauptsächlich mit komparatistischen Absichten genannt und gilt als Galionsfigur für die Lyrik und das Theater des 20. Jahrhunderts in Europa. Rumänische Persönlichkeiten wie Lucian Blaga, Tudor Vianu, George Càlineseu, Ion Marin Sadoveanu, Al. Philippide Perpessicius, Eugen Lovinescu und Ion Pillat, um nur einige aufzuzählen, haben sich in ihren literaturhistorischen und -kritischen Arbeiten oft auf Hofmannsthal und auf sein obwohl in das vielen Hinsichten fragmentarisches, dennoch bahnbrechendes dichterisches Oeuvre bezogen. Wir wollen im folgenden auf einige Aspekte der geistigen Verwandtschaft zwischen dem die Wiener Hofmannsthal (1874-1929) und dem Bukarester Ion Marin Sadoveanu (1893-1964) eingehen. Ion Marin Sadoveanu hegte für Hugo von Hofmannsthal eine konstante Zuneigung, zumal ihm die Gelegenheit gegeben wurde, Hofmannsthal 1927 auf dem 11. Internationalen Kritikerkongreß in Salzburg persönlich kennengelernt zu haben. Die Erinnerung an Hofmannsthal sollte Sadoveanu 1934 in seinem Vortrag Bühnenbearbeitungen - Hugo von Hofmannsthal (Adaptàrile teatrale si Hugo von Hofmannsthal)(1) festhalten. In die Atmosphäre des Schlosses Leopoldskron, das Max Reinhardt von der Stadtverwaltung Salzburg als Geschenk bekommen hatte und das stark an Maria Theresia erinnerte, schien Hofmannsthal vollkommen hineinzupassen, meinte Sadoveanu eindrucksvoll. Seine Bewunderung und Verehrung für den österreichischen Dichter, den er "einen Ästheten der Wiener Schriftstellerwelt" nannte, sollte lebenslänglich sein. Indem Sadoveanu in seinen Behauptungen von Hofmannsthals Theaterschaffen ausging, seine Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Bühne hervorhob und dann sein ganzes Werk ins Auge faßte, betrachtete er Hofmannsthal als das zweite große Moment in der deutschen Literatur nach Schiller mit seiner Lyrik und Dramatik.

Bühnenbearbeitungen sind für Ion Marin Sadoveanu die Umschreibung des Bühnenstoffs für eine neue Sensibilität, was sich vom Lokalisieren im Sinne eines geographischen Auf-die-Bühne-Bringens des Bühnenstoffs einerseits und von der contaminatio im Sinne der Griechen und Römer andererseits wesentlich unterscheidet. Bei der Bühnenbearbeitung wird mit Hilfe einer neuen und modernen Sensibilität umgeschrieben, ein altes Thema in einen neuen Umlauf gesetzt. Ein hervorragender Vertreter dieser Auffassung war, so Sadoveanu, der Wiener Dichter Hofmannsthal, dessen Kunst, Stil und Sprache Sadoveanu besonders hochschätzt.

Sadoveanu demonstriert seine These von der Umschreibung eines Stoffs von mehreren Händen am Beispiel des Elektra-Stoffes, den Hofmannsthal von den griechischen Tragödien übernimmt. Wie Äschylus, Sophokles und Euripides dem gleichen Publikum, aber jeder in seiner Art, als Ergebnis ihrer Persönlichkeit und ihres Stils, den Elektra-Stoff behandeln, ist Sadoveanu eine Untersuchung wert.

Äschylus’ Elektra scheint Sadoveanu als Theaterstück ziemlich knapp, äußerst tragisch, sehr grausam, primitiv romantisch, etwas derb und tief religiös zu sein. Bei Sophokles, der die Blüte der griechischen Klassik im 5. vorchristlichen Jahrhundert verkörpert, ist der Stoff etwas besser ausgeglichen und das Ende des Stücks erhaben. Äschylus’ religiöse Beschäftigung, Sophokles’ Streben nach dem Einklang zwischen Gehalt und Form im klassischen Sinne, all das entartet bei Euripides, meint Sadoveanu, zu einer dekadenten Literatur. Er hält Euripides für den ersten Psychologen, den ersten Analytiker der dramatischen Dichtkunst in der Weltliteratur. Wenn wir es bei Äschylus und Sophokles mit einer rachsüchtigen Elektra zu tun haben, deren eigenes Handeln mit dem Handeln der anderen Gestalten verwoben ist, so stellt Euripides’ Elektra den harten Willen dar, der keine Rührung mehr empfindet und der den doppelten Mord verursacht.

Drei eigentlich gleiche Themen, drei Versionen, drei Temperamente, die alle miteinander für die gleiche Sensibilität umgeschrieben wurden. Das ist nach Sadoveanus Auffassung aber noch nicht die Bühnenbearbeitung, so wie er sie versteht. Die Bearbeitung ist entweder die Verflechtung eines Stoffes oder das Überbauen eines Stoffes oder letztendlich die Umschreibung des Bühnenstoffes einer neuen Sensibilität entsprechend.

Hofmannsthals Elektra ist laut Sadoveanu ein immenser Monolog, aber um sich Theater nennen zu können, muß es einen Konflikt zwischen mindestens zwei Personen geben. Der Übergangsstil von der Lyrik zur Dramatik ist für Hofmannsthal der Balladenstil. Somit bezeichnet Sadoveanu das Stück als Ballade, das ist für ihn sein ästhetischer Wert. Weder Suarès noch D'Annunzio haben Mykene, die tragische goldene Welt, so schön, so lebendig, so bunt beschrieben wie Hofmannsthal. Die große Aussagekraft Hofmannsthals geht auf seine einmalige dichterische Begabung zurück, auf sein Wissen und Wollen, den alten Stoff zu bearbeiten und umzuschreiben. Ein genialer Leser und Zuschauer war Hofmannsthal, er hatte ein besonderes Gefühl für das Vergangene. Nur der geniale Leser oder der begabte Zuschauer akzeptiert jeden Stoff unabhängig von der Form; sei er naturalistisch, sei er romantisch, sei er symbolistisch, der Stoff muß authentische und schöpferische Elemente haben und dann wird er in dem gesamten literarischen Schaffen der Welt beheimatet sein. Hofmannsthals Elektra ist anders als Sophokles' Elektra, und das ist dem Stilisten Hofmannsthal zu verdanken. Laut Sadoveanu ist Hofmannsthal der größte Stilist und "Bearbeiter", den die deutsche Sprache und Literatur seit Goethe gehabt hat. Nur D'Annunzio komme in seine Nähe, der die italienische Sprache um viele Redewendungen wesentlich bereichert habe.

Das größte Verdienst Hofmannsthals ist es, wenn nicht ein dramatisches Werk geschaffen, so doch einen dramatischen Stoff in Umlauf gesetzt zu haben. Das ist ein neues Pathos, das dramatische Pathos, das Hofmannsthal der deutschen Literatur beschert. Es ist ein minder abstraktes Pathos als bei Schiller, ein zur modernen Sensibilität passendes Pathos, ein einfacheres, dafür nuancenreicheres Pathos. Sadoveanu urteilt streng genug, wenn er Hofmannsthal zu den "Kleineren" zählt, der seine "Schwäche" dadurch bezeugt, daß er ein Schöpfer aus zweiter Hand ist. Er übernimmt einen Stoff von irgendwo und kleidet ihn in dieses Pathos und in diese Sprache, Auf diese Weise bemüht er sich, eine ganze Reihe von Themen, sei es aus dem Mittelalter - siehe Jedermann - , sei es von Molière - siehe Der Bürger als Edelmann - , sei es von Calderón - siehe Der Turm -, sei es von Sophokles - siehe Elektra - in Umlauf zu bringen.

Sadoveanu wollte als Direktor zwei der repräsentativsten Stücke Hofmannsthals in das Repertoire des rumänischen Nationaltheaters aufnehmen, und zwar den Turm und Das Salzburger große Welttheater. Aus diesem Grund begann er, sie zu übersetzen. Leider gelang es ihm nicht, deren Übersetzung fertigzustellen. Er veröffentlichte zu Lebzeiten bloß ein Fragment aus dem Turm in der Zeitschrift România literarà vom 16. Juli 1932. Das Salzburger große Welttheater, das Sadoveanu stets für "ein Meisterwerk der Weltliteratur" hielt, ist als Übersetzung unvollständig geblieben und erschien erst nach seinem Tode.

In seinem obengenannten Vortrag erwähnt Sadoveanu auch Hofmannsthals Zusammenarbeit mit Richard Strauss, aus der zahlreiche Opernlibretti und ein wertvoller Briefwechsel hervorgegangen sind. Das ausgesprochen lyrische Temperament Hofmannsthals ist für die Produktion dieser Libretti entscheidend gewesen.

Sadoveanu bewundert Hofmannsthal auch für die Art, in der er für sich sein Schreiben dokumentiert. Er erscheint ihm als ein gründlicher Leser und Kenner von Werken über die Geschichte der Kunst und der Zivilisation. Alles wird bei ihm zum poetischen Stoff. Er reagiert nicht mit sehr großer Empfindlichkeit auf die unmittelbare Natur, auf das Leben. Diese Berührung schüchtert ihn etwas ein. Hingegen ist er den Kultur- und Zivilisationsformen gegenüber aufgeschlossen. Diese Passage erinnert uns an Hofmannstahls Essay Poesie und Leben (1896), wo es heißt: "Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie".(2) Und etwas weiter heißt es:

Der eigene Ton ist alles; wer den nicht hält, begibt sich der inneren Freiheit, die erst das Werk möglich machen kann. Der Mutigste und der Stärkste ist der, der seine Worte am freiesten zu stellen vermag; denn es ist nichts so schwer, als sie aus ihren festen, falschen Verbindungen zu reißen. Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für die Seelen...(3)

Wie umfangreich die publizistische Tätigkeit Ion Marin Sadoveanus auch gewesen sein mag, seine konstante Beschäftigung galt der Situation des rumänischen Theaters. Seine Leidenschaft für das Theater hat sein ganzes Leben beeinflußt. Sadoveanu war zur gleichen Zeit Zuschauer, Dramenautor, Theaterkritiker, Theaterhistoriker und Theaterdirektor. Leider ist es ihm nicht gelungen, alle Theaterchroniken, die er im Laufe der Jahre in verschiedenen Publikationen der Zeit veröffentlicht hat, in einem selbständigen Band zu sammeln, sonst erfreuten wir uns heute eines für die rumänische Fachliteratur äußerst wichtigen Werkes. Viele Artikel erschienen in den rumänischen Zeitschriften Gîndirea, Revista vremii, Contemporanul, Cuget românesc, Teatrul, Rampa. Im Rahmen der Spalte Drama und Theater und Theaterchronik wurden die Aufführungen der Bukarester Theater kommentiert, wichtige, pertinente Urteile im Hinblick auf die dramatischen Texte gefällt, originelle Meinungen zum Verhältnis Autor-Regisseur-Schauspieler geäußert. Sadoveanu versuchte immer wieder, die rumänischen Theaterproduktionen in einen größeren universalen Kontext zu situierten und setzte sich stets für die Erneuerung der Ausdrucksmittel auf den Bühnen ein. Der unerschöpfliche Ideenreichtum seiner Schriften, der sich gut mit dem essayistischen Gedankengut Hofmannsthals vergleichen läßt, beschränkt sich nicht nur auf die einheimische Problematik des Theaters, sondern ermöglicht einen ausführlichen Einblick in das Schaffen von Autoren wie Shakespeare, Goethe, Molière, Calderón usw. Sadoveanu als Chronist und Hofmannsthal als Essayist erfassen wesentliche Merkmale der Theorie und der Geschichte des Theaters sowie Einzelheiten über Vertreter des rumänischen bzw. des österreichischen Theaterlebens einerseits und der Weltbühnen andererseits.

Sadoveanu plädierte für ein Theater mit komplexen kulturell-erzieherisch-patriotischen Eigenschaften, mißbilligte aber die Rolle des Unterhaltungstheaters(4) nicht. Hofmannsthal meinte 1922:

Das Theater ist von den weltlichen Institutionen die einzig überbliebene gewaltige und gemeingültige, die unsere Festfreude, Schaulust, Lachlust, Lust an Rührung, Spannung, Aufregung, Durchschütterung geradhin an den alten Festtrieb des alten ewigen Menschengeschlechtes bindet. Es hat seine Wurzeln tief und weit in den Unterbau getrieben, auf dem vor Jahrtausenden das Gebäude unserer Kultur errichtet ist; wer sich ihm ergibt, ist über manches, das die anderen begrenzt und bindet, hinweggehoben.(5)

Sadoveanu schilderte die kulturelle Atmosphäre der rumänischen Städte nach dem ersten Weltkrieg, als man das Fehlen einer Theatertradition verzeichnete, die sich auf die Herausbildung eines öffentlichen Geschmacks ausgewirkt hätte, als unser Theaterpublikum noch am Anfang war. Sadoveanu interessierte sich wie Hofmannsthal für die Gegenüberstellung zwischen dem Theater und der Gesellschaft. Er analysierte des öfteren das Verhältnis zwischen Drama und Theater und hob die Tatsache hervor, daß in der Blütezeit des Welttheaters eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Schaffenden und dem Schauspieler verwirklicht wurde. Der Exkurs in die Geschichte der europäischen Kultur beginnt mit der antiken Tragödie, der commedia dell’arte, dem elisabethanischen Drama usw. Die meisten Ideen, die in den Chroniken zum Ausdruck gebracht wurden, sollten im Rahmen der experimentellen Konferenzen wiederaufgenommen werden. Ein besonderes Augenmerk richtet Sadoveanu auf die Übersetzungen aus dem fremden Repertoire, unterstützt aber hartnäckig die Notwendigkeit, das rumänische volkstümliche Element zu pflegen und durchzusetzen. Mit großer Begeisterung reagierte Sadoveanu auf jedes Theaterexperiment und gab viele Anregungen für die Verbesserung der jeweiligen Aufführungen.

Mit seinen Chroniken, Vorträgen und Artikeln hat Sadoveanu beabsichtigt, die Erfahrung großer Ensembles aus dem Ausland bekanntzumachen, die der Theaterarbeit und der Schauspielkunst einen neuen Stil und Aufschwung aufprägen sollten. Die großen Meisterwerke der dramatischen Weltliteratur durften in einem kompletten Repertoire nicht fehlen. "Repertorium, so sagt der Wortsinn, soll eine Fundgrube sein, daraus Tag um Tag das Altbewährte hervorgenommen und ans Licht gestellt wird."(6)

Sowohl Sadoveanu als auch Hofmannsthal haben in ihrer schriftstellerischen Laufbahn das Theater über alle Maßen geliebt und gewürdigt, über das Theater und seine Pfleger theoretisiert und die Unsterblichkeit des Theaters postuliert, denn:

Alles, was sich aufs Theater - das wahrhafte, nicht das der Literatur bezieht, ist lebendig, gemeingültig, menschenhaft. Je näher man dem Eigentümlichen des Theaterwesens kommt, desto mehr tritt man aus dem Bann der eigenen Zeit heraus. Theatralisches Gerät und Gerüst, sei es was es sei - nicht mit Bildungssinn, nur mit Lebenssinn können wir es ansehen. Der Vorhang, vor den die Jongleurs der mittelalterlichen Fürstenhöfe heraustraten, er ist der gleiche, vor dem wir schon als Kinder pochenden Herzens saßen und auf dem der Fügersche Apollo oder etwa eine feiste Mannsfigur mit den Zügen des Wenzel Scholz gemalt war. Nichts ist demnach weniger historisch als eine Ausstellung aufs Theater bezüglicher Gegenstände. Alles soll hier - und wäre es fünftausend Jahre alt - in seiner augenblicklichen Anwendbarkeit auf ein noch Daseiendes erkannt und gewertet werden.(7)

Zur Autorin


Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6.Jg., Nr.2/97. S. 21-23.

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Anmerkungen:

(1) Ion Marin Sadoveanu: Scrieri VII. Hrsg. von I. Oprisan. Ed. Minerva. Bucuresti 1983, S. 307-327.

(2) Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze I. 1891-1913. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 1979, S. 16.

(3) Ebda., S. 17.

(4) Vgl. Màdàlina Nicolau: Pe urmele lui Ion Marin Sadoveanu. Ed. Sport-Turism. Bucuresti 1988, S. 69f.

(5) Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze II. 1914-1924. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 1979, S. 269.

(6) Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze III. 1925-1929. Hrsg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert in Beratung mit Rudolf Hirsch. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 1980, S. 173.

(7) Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze II. 1914-1924, a.a.0, S. 270.


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