Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Robert Schindel und der Holocaust

Gerlinde Ulm Sanford (Syracuse)
[BIO]

 

Die Frage, was der Holocaust für uns Heutige noch bedeutet und welche Konsequenzen wir daraus ziehen sollten, stellen sich wohl viele sensible Menschen, Juden und Nicht-Juden. Für einen Menschen aber, dessen Angehörige unter den Nazis gelitten haben oder gar im Konzentrationslager umgekommen sind, für einen solchen Menschen ist diese Frage besonders brennend. Robert Schindel ist ein solcher Mensch. Die in seinem Roman ‘Gebürtig’(1) und in seinen Gedichten(2) aufgezeigten Probleme sind zwar meist bedingt durch die menschliche Natur im allgemeinen, aber ebenfalls durch divergente politische Überzeugungen oder durch das Gegenüber von Jude und Nicht-Jude und vor allem durch Verschiedenheiten in der Verarbeitung der Holocaustvergangenheit. Immer wieder geht es ihm um die psychischen Nachwirkungen im Leben von Holocaust-Nachkommen.

Zunächst einige kurze Bemerkungen über Schindels Leben, aus denen hervorgeht, inwiefern Robert Schindel persönlich vom Holocaust betroffen war.

Robert Schindels Eltern waren jüdische Kommunisten, die nach Frankreich ausgewandert waren. Zur Zeit des Nationalsozialismus kehrten sie nach Österreich zurück, um Widerstand gegen die Nazis zu leisten. Robert wurde am 4. April 1944 in Bad Hall in Oberösterreich geboren. Seine Mutter wurde vier Monate nach seiner Geburt festgenommen, Robert aber kam unter dem falschen Namen Robert Sodl in die Obhut der nationalsozialistischen Wohlfahrt. Der Vater wurde am 30. März 1945 in Dachau hingerichtet. Die Mutter überlebte das Konzentrationslager in Auschwitz.(3)

Mit grimmigem Humor behauptet Robert Schindel von sich, daß er als Kind "potthäßlich"(4) war, daß er das hat, was "die Welt ein jüdisches Gesicht" nennt. Seine Berufslaufbahn erstreckt sich über ein abgebrochenes Philosophiestudium, eine Ausbildung als Therapeut, Jobs als Bibliothekar, gruppendynamischer Trainer, Nachtredakteur, Drehbuchschreiber und Schauspieler.(5)

In seinem Roman Gebürtig spricht Schindel vor allem über jene Befangenheiten und Verstrickungen in Scham und Lüge, die sich als gläserne Wand' immer wieder aufs neue zwischen die unsere Jahrhundertkatastrophe überlebenden Juden und die nachgewachsenen deutsch-österreichischen Nichtjuden schiebt. "Müssen wir Verzweifelte sein?"(6)

Diese Frage stellt Schindel an alle Juden und Nichtjuden und vor allem an sich selbst.

Im Folgenden werde ich versuchen, Robert Schindels Haltung gegenüber dem Holocaust zu skizzieren, indem ich das Gedicht "Ein Feuerchen im Hintennach" untersuche. Man könnte Schindels Haltung gegenüber dem Holocaust auch aus einer Analyse seines Romans Gebürtig oder zahlreicher anderer Gedichte(7) ableiten. Ich habe mich für dieses Gedicht entschieden, da der Holocaust darin sehr ausführlich zur Sprache kommt und da es etliche interessante interpretatorische Hürden setzt, die ich im großen und ganzen mit diesem Aufsatz überwunden zu haben hoffe.

Wie so manches Gedicht von Schindel ist auch dieses zunächst schwer zugänglich. Es handelt sich um ein relativ langes und wichtiges Gedicht aus seinem viertem Lyrikbändchen, dem dieses Gedicht auch als Titel dient: Ein Feuerchen im Hintennach.(8) Ein Großteil der Gedichte dieses Bändchens wurde in den Jahren 1986-1992 geschrieben. In vielen Gedichten dieses Bandes wird die Frage gestellt:

Wie lebt einer, vor allem aber wie kann einer - und noch dazu auf deutsch - Lyrik schreiben, dessen Familie ins KZ deportiert wurde, während er selber als angebliches Kind von Asozialen in einem Heim der "Volkswohlfahrt" überlebte?

Adornos 1949 geprägtes und siebzehn Jahre später von ihm selbst zurückgenommene Diktum, daß es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist als gefährliches Moment der Lähmung, aber auch als Stachel der Herausforderung in Schindels Gedichten stets latent gegenwärtig.(9)

Ich spreche zunächst kurz über die Bedeutung des Gedichttitels: "Ein Feuerchen im Hintennach." Das Hintennach bedeutet das Nachhinein. Nachhinein bezieht sich auf die Menschen nach dem Holocaust.

Schindel empfindet sich eigentlich stets und also auch in diesem Gedicht als Nachkomme seiner im Holocaust umgekommenen Angehörigen. Er fragt sich immer wieder, wie ein Mensch in einer solchen Situation sich zu verhalten habe. Er ist ein "Feuerchen", also nur ein kleines Feuer, aber doch ein Feuerchen. Das heißt auch in ihm brennt das große Feuer des Holocausts noch irgendwie weiter.

Ein Feuerchen im Hintennach

(Für Dagobert und Karl Wolf Biermann)

I

1 Ich bin im Hintennach ein Feuerchen
2 Rutsche durch Landschaften, ich ruhe gut, ein Reisender.
3 Zwischen den Amtsgewalten zur Verbesserung des Menschen
4 Lutsch ich mich selbst bis hin zum Aha. Es schmeckt süß.

5 Davongelaufen sind die mit dem Rucksack unterbrust
6 Zu einer ruhigen Sonderfläche namens Andersleben
7 Sind von den wirren Wäldern langgeweilt umzingelt,
8 Die Bäche gehen träge kreuz und quer, es lebt sich.

9 Mag sein, ein junges Tier, vorbeigegangen ists
10 An meinem Zwischenzauder, quert die Wälder
11 Und findet statt bei jenen Abendsassen
12 Doch wenns danach noch redet stirbts danach womöglich.

13 Ich bleib das Hintennach und muß ins Vornehin durch Rauch
14 Sodaß ich knurrend hust in den Gedächtnissen:
15 So sei doch solidarisch. Denk an dich. Zerbeiß die Knochen.
16 Und hebe nichts als was dich in die Flucht bringt.

II

17 Wohin noch flüchten? Nah des Baches Nachtmäander
18 Verflüstern sich die zögerlichen Wandersassen
19 Und kommentieren mir mein schwarzes Haar ins Graue
20 Entnehmen rucksackweis Fleischstücke und sie braten

21 Die Hoffnungen zu Schmalz und Kruste
22 Trinken den Roten, singen Internationale
23 Fahren mit bloßen Panzern ins Geschlecht
24 Ihriger Wörterfraun, lagern am Bach hernach und träumen

25 Sich unversehrt ins Komitee der Weltgeschichte.
26 Ich dorthin nicht. Als Hintennach, als Feuerchen
27 Wend ich mich nordnordsüd zum Wörterdelta
28 Da ja versammelt ward, was je die Krähen sprachen.

29 Stumm ist das Heim der aushäusigen Wörter
30 Von außen ziehts, und innen ist das Blut
31 Erinnerlich die eigentliche Sonderfläche
32 Dort ich mich schwimmend strecken kann, daheim, daheim.

III

33 Auch ein Daheim. Die Meinigen sind ausgehaust
34 Schon längst und haben im Rumbulawald nächst Riga
35 Sich zum Skelett gestreckt und knurrend schlafen sie mein Schlaf
36 Unschuldig wie vertilgte Tierchen wittern sie bei diesen. Salomon.

37 Vererben uns nur ihre dreisten Träume die sich
38 Mit meinem Leben mischen ein Feuerchen im Hintennach
39 Rutsch ich entlang der Menschenlandschaft
40 Hin zu den Öfen, doch so kalt war nie ein Ofen

41 Als der als welcher er dort steht mit vollem Bauch
42 Der Anverwandten ist er jetzt prachtvoll Gedenken
43 Und Lebensmenschen landen da mit Düsenjägern
44 Schreiten einher, ein Walzer, schmücken ihn mit Pflanzen

45 Mit Schleifen, darauf Wörter, nie vergessen,
46 Und Totenwürde, Lebensrest, ich bleib als Sasse
47 Im Adijöh zurück, so ist mir rätselig
48 Die Sonderfläche meines Daseins.

IV

49 Und schuldig ich, und wie, ein Halbgerechter
50 Denn ich vergnüg mich gar nicht schlecht in deutschen Landen
51 Schütte entlang der Wiener Donau meinen Samen
52 Ins helle Lachen und mein Blick geht in die Belsen fremd

53 Hinein in die Konturen innerlicher Keuchkommandos
54 Denn Feuerchen bin ich im Hintennach, da drechsel
55 Ich Wörter noch und noch, damit vor mir da liegen
56 Die Augenspiele aus den frühen Wäldern

57 Lieb ich die Nähe flieh mich ins ganz Nahe
58 Sodaß die ferne Zeit mich sprachlos bloß umzingelt
59 Wächst mir der Rucksack mit den Knochen unterbrust
60 Ich fall nach vorn auf meine Sonderfläche. Salomon.

61 Davongelaufen sind mir viele die ich mochte
62 Auch wenn sie ihr Gestorbensein als Ehrgeiz hin und her
63 Gewendet hatten, so als ob sie knurren können
64 Als ob ich atmen kann und knurrn im Hintennach zuhaus.

V

65 Und geh mit meiner jungen Liebe gehe ich nach Belsen
66 Nach Binsen und Verschleiß geh ich mit Li
67 Steh vor den großen grasbewachsnen Hügeln
68 Worein sich je die Tausenden verrottet krümmten

69 Und dort ich steh und geh zwischen den Hügeln
70 Schläft keiner von den Toten seinen Tod zu End
71 Fahren die Natopanzer klirrend durch den Schlaf
72 Schießen Granaten ab, so schießts und kracht es dauernd.

73 Was Bergen Belsen sonst einst war, es ist ein Truppenübungsplatz
74 Mitten in Deutschland, nicht in Thule hinter Vineta
75 Nah Celle ist zuhaus der Trauerfluß von dem
76 Die Energie für Künftiges geliefert wird. Ein Monument

77 Des Ernstes und der Sammlung Anne Frank
78 Kauert wohl sprungbereit im Staub der Lüneburger Heide
79 Und leg ich dennoch einen Stein auf einen ihrer Hügel
80 Bis mich die deutsche Freundin nimmt um meine Hüften schnell.

VI

81 Und fahren wir zurück unter dem großen bleichen
82 Und Himmel Norddeutschland, sind Tränen schon
83 Längst eingesammelt in den Schrein der Leidenschaft.
84 Ich liege bei der Deutschen da in Deutschland.

85 Und stehe auf, besteige frei den Zug. Komme
86 Zurück, ein Feuerchen von Hintennach,
87 In meine Wortheimat, mein Wien am Donaufluß
88 Dort lächelt sich Vergangenes hinein

89 In die etwelche Gegenwart, in allen Beiseln
90 Sitzen die Lachenden mit Rotwein in den Gurgeln
91 Schlempern den Lethefluß, der kreuz und quer der Hofburg
92 Unserem Vergessenskaiser wäscht die Zehen blutig.

93 Daher bin ich geflohn? Die Jesuitenwiese geh ich
94 Großer Gesang aus Wien am Binsenstrom
95 Die Amseln brechen ab links rechts nach Süden. Krähen
96 Falln ein in dieses enge Land. Sind gern daheim.

I

Das lange sechsteilige Gedicht "Ein Feuerchen im Hintennach" ist eigentlich eine Art von Selbstportrait Schindels oder jedenfalls das Portrait eines Menschen, dessen Leben und Lebensphilosophie vieles mit ihm gemeinsam haben. Es spielt an mehreren Orten. Der mit I überschriebene Teil ist vielleicht als eine Einleitung zu betrachten, wo das männliche Ich des Gedichts von Wien aus, das er als seine "Wortheimat" (87) betrachtet, über seine Situation reflektiert. Sein Leben ist nicht unangenehm. Er sieht sich als einen, der die Welt kennenlernt: "Ich ... rutsche durch Landschaften ... ein Reisender" (2). Es geht ihm gut, er kann auch gut schlafen -"ich ruhe gut" -im Gegensatz zu den Holocaustopfern (70), die sogar im Tode noch keine Ruhe finden. Um dies zu erklären, springe ich vor zu Zeile 71ff. Die Holocaust-Toten finden keine Ruhe, einerseits, weil etwa die Natopanzer in Bergen-Belsen unter Krachen und Schießen ihre Truppenübungen abhalten, andrerseits aber vielleicht auch, weil sie noch immer nicht Genugtuung bekommen haben für den ungerechten Tod, den sie erlitten haben.

Das Ich des Gedichts lebt in Wien (87), wo bekanntlich der Bürokratismus der Ämter blüht. Er aber versteht es gut, daran vorbei oder darum herum zu kommen. "Zwischen den Amtsgewalten zur Verbesserung des Menschen/ Lutsch ich mich selbst bis hin zum Aha" (3f.). Man lutscht ein Eis oder ein Bonbon. Das ist ein langsamer, allmählicher Vorgang. Nur so kann es gelingen, die Amtsgewalten zu vermeiden und sogar bis "zum Aha" (4) zu gelangen. Das "Aha" ist hier wahrscheinlich ein Aha-Erlebnis, also ein überraschendes Erlebnis, eine Art von Offenbarung, die man nur als freies Individuum erleben kann. Jemand, der sich der Herrschaft des Amtsschimmels unterwirft oder unterwerfen muß, wird ein solches Erlebnis nie haben können. Ein. Leben mit dem Gefühl der Freiheit ist schön. "Es schmeckt süß" (4). Dieses Gefühl der Freiheit wird später in Zeile 85 noch einmal angedeutet. Es steht wohl im krassen Gegensatz zu dem Gefühl des Getrieben und Verjagtwerdens der Holocaustopfer, wie dies etwa in Zeile 33 angedeutet wird: "... Die Meinigen sind ausgehaust..."

Es gibt viele, die einen "Rucksack unterbrust" (5) tragen. Das sind wahrscheinlich Menschen, die sozusagen einen Rucksack voller Sorgen oder Trauer, vielleicht auch voller Hoffhungen auf eine bessere Zukunft mit sich herumschleppen. Sie tragen diesen Rucksack aber "unterbrust" und nicht auf dem Rücken, wo man normalerweise einen Rucksack trägt, den man freiwillig geschultert hat. Dieser Rucksack lastet "unterbrust," dort also, wo Herz und Gemüt sitzen. Man kann ihn eigentlich auch nicht ablegen, sondern man trägt ihn mit sich als Teil seines Körpers.(10) Wer sind nun diese Menschen, die einen solchen "Rucksack unterbrust" (5) tragen? Gemeint sind wohl vor allem Menschen, die - wie Schindel selbst direkt oder indirekt durch den Holocaust gelitten haben und die dieses "Erbe" nun immer und überall mit sich tragen müssen. Gemeint sein könnten aber auch andere, die sich aus der Gesellschaft ausgestoßen fühlen, wie etwa jene die "Internationale" singenden Kommunisten im Teil II des Gedichts.

Viele von diesen Menschen, denen eine solche innerliche Last aufgebürdet wurde, haben sich abgesondert von der Allgemeinheit "Zu einer ruhigen Sonderfläche namens Andersleben" (6) und leben so ganz gut ein bequemes Leben. "Die Bäche gehen träge kreuz und quer, es lebt sich" (8).

Das in Zeile 5ff. angedeutete Bild des Davonlaufens in eine Wald- und Bachgegend wird weitergeführt. Auch das Ich des Gedichts hat sich auf den Weg dahin begeben. Er ist aber nicht sicher, ob es richtig ist, sich so abzusondern. So macht er vielleicht Pause, um zu überlegen. Das könnte mit dem Wort "Zwischenzauder" gemeint sein. Ein junges Tier kommt vorbei an der Raststelle des Ichs und geht dann weiter zu den anderen, die sich abgesondert haben, zu den "Abendsassen". Dieses Wort "Abendsassen" weist einerseits voraus auf Zeile 20ff., wo diese Menschen am Abend in einem Camp gezeigt werden. Andererseits sind diese sich Absondernden insofern "Abendsassen", als dies Menschen sind, die sich zur Ruhe setzen wollen, anstatt aktiv ihre Probleme und die Probleme der Welt zu lösen versuchen. Das erwähnte junge Tier kann also weiter gehen zu den Abendsassen und dort eine Rast-"statt" finden, genauso wie das Ich des Gedichts sich ihnen anschließen kann. Aber das Tier riskiert doch einiges. Vielleicht verliert es sein Leben und wird gebraten wie die Fleischstücke in Zeile 20. Ich glaube, daß das Ich des Gedichts seine Situation mit der des jungen Tieres gleichsetzt. Auch er wird in gewisser Weise "sterben," wenn er sich diesen "Abendsassen" anschließt. Eine Bestätigung dieser Interpretation bietet Zeile 62, wo dieses Davongelaufensein mit "Gestorbensein" gleichgesetzt wird. Die Interpretation, daß er seine Lage mit der des jungen Tieres vergleicht, wird auch unterstützt durch Zeile 36, in der die Verwesung der Holocaustopfer in ihren Gräbern mit der Verwesung unschuldig vertilgter "Tierchen" verglichen wird.

Der Sprecher im Gedicht - vielleicht gleichzusetzen mit Schindel selbst kann aber nicht einfach das Vergangene vergessen, er fühlt sich als Holocaust-Nachkomme: "Ich bleib das Hintennach und muß ins Vornehin durch Rauch/ Sodaß ich knurrend hust in den Gedächtnissen" (13f.). Das Bild der campierenden "Abendsassen" wird weitergeführt. Das zuerst noch hinten gebliebene Ich des Gedichts kommt schließlich zu ihrem rauchigen Campfeuer. "Ich bleib das Hintennach und muß ins Vornehin durch Rauch" (13). In der übertragenen Bedeutung sind dann die "Gedächtnisse" (14) die Erinnerungen an die umgekommenen Opfer des Holocaust. Diese wirken wie Rauch, der zum Husten bringt. Diese "Gedächtnisse" sind gewissermaßen lästig so wie Rauch. Er möchte sie abstreifen, aber sie sind so wie Rauch, den man einatmen muß. Er muß husten, mag er noch so darüber "knurren". Vergeblich redet er sich zu oder reden die andern ihm zu: Mach es wie die andern, denk an dein Wohl, schluck die Vergangenheit hinunter, und rette dich, indem du wie die andern flüchtest. "So sei doch solidarisch. Denk an dich. Zerbeiß die Knochen./ Und hebe nichts als was dich in die Flucht bringt" (15f.), in die Flucht nämlich "Zu einer ruhigen Sonderfläche namens Andersleben"(6).

II

Im zweiten Teil des Gedichts sehen wir eine Gruppe solcher Leute, die sich geflüchtet haben. Die Szene ist vielleicht ein Abend an einem Campfeuer, weg von anderen Menschen. Es könnte übertragen aber auch jede Situation gemeint sein, bei der eine Gruppe sich zu isolieren versucht. Hier handelt es sich um eine Gruppe junger Kommunisten.(11) Man sitzt um das Feuer, man redet dem Ich des Gedichts zu, wie schon in der vorigen Strophe (15f.) formuliert: "So sei doch solidarisch. Denk an dich. Zerbeiß die Knochen./ Und liebe nichts als was dich in die Flucht bringt." Man argumentiert und kommentiert "[sein] schwarzes Haar ins Graue" (19). Das heißt wohl, daß solche Gespräche ihn bedrücken.

Diese ihn überreden wollenden Menschen mißfallen dem Ich des Gedichts. Ich glaube, sie mißfallen ihm, weil sie zwar anders sein wollen, aber in Wirklichkeit eigentlich doch nicht anders sind als Durchschnittsmenschen. Es wird gegrillt und Rotwein getrunken. Die "Internationale," also die Hymne der internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung, wird gesungen. Es wird zwar viel geredet, doch wenig geleistet. Sie "Entnehmen rucksackweis Fleischstücke und sie braten/ Die Hoffnungen zu Schmalz und Kruste/ Trinken den Roten, singen Internationale" (20ff.) Diese Leute tragen offenbar den Rucksack nicht "unterbrust" (5), sondern sie haben ihn abzulegen versucht wie einen normalen Rucksack. In dem Rucksack aber waren Hoffnungen auf eine Besserung der Welt. Diese Hoffnungen werden nun "zu Schmalz und Kruste" gebraten, d. h. sie werden zunichte. Anstatt wirklich etwas zu unternehmen für die Gleichheit aller Menschen, bleibt es eben beim Reden, die einzige Aktion, die hervorgeht ist der - vielleicht kampfartige - Beischlaf. Sie "Fahren mit bloßen Panzern ins Geschlecht/ Ihriger Wörterfraun, lagern am Bach hernach und träumen/ Sich unversehrt ins Komitee der Weltgeschichte" (23ff.).

Was Schindel unter "Wörterfraun" versteht, ist nicht ganz eindeutig. Vielleicht sind das Frauen, die nur den "Wörtern"(12) nach, also dem Gerede nach, nicht aber den amtlichen Dokumenten nach ihre Frauen sind. Vielleicht sind das Frauen, die ihren "Wörtern" nach, ihrem Gerede nach mit den Männern dieser Gruppe übereinstimmen.

Das Ich des Gedichts kann sich mit diesen Leuten nicht identifizieren: "Ich dorthin nicht. Als Hintennach, als Feuerchen" (26) wendet er sich "nordnordsüd zum Wörterdelta" (27). Er muß für sich alleine eine Antwort finden auf die Frage, wie er sein Leben leben soll und speziell, wie für ihn der Holocaust zu verarbeiten sei."[N]ordnordsüd" heißt in diesem Kontext vielleicht: Er begibt sich in den extremen Norden, nämlich in die Rigaer (34) Gegend und von dort südlich, vielleicht nach Buchenwald oder auch nach Auschwitz (39ff.) und schließlich nach Bergen-Belsen (65).

Hier an den Hinrichtungsstätten wie etwa im Rumbulawald bei Riga (34) oder in den Konzentrationslagern wie etwa in Bergen-Belsen, da wurden Menschen - vor allem Juden - zusammengetrieben, die alle möglichen Sprachen redeten. Darauf bezieht sich vielleicht das "Wörterdelta/ Da ja versammelt ward, was je die Krähen sprachen" (28). Die Krähen (28, auch 95) sind gescheite, aber meistens nicht beliebte Vögel. Hier symbolisieren sie wohl die Juden. Kommt man jetzt an diese Holocauststätten, so ist es stumm dort. Niemand der dort umgekommenen Menschen spricht mehr. "Stumm ist das Heim der aushäusigen Wörter/ Von außen ziehts" (30). Das Ich des Gedichts aber wird sich seiner Person und seiner Situation hier erst so eigentlich bewußt: "... und innen ist das Blut/ Erinnerlich die eigentliche Sonderfläche" (30f.). Es wird ihm plötzlich klar, daß diese Stätten des Todes sein eigentliches Daheim sind. Das ist die "eigentliche Sonderfläche" seines Daseins. Nur da und nur so kann er sich "schwimmend strecken," da ist er "daheim". "Dort ich mich schwimmend strecken kann, daheim, daheim"(32). Das heißt, es ist keine Lösung, einfach davonzulaufen zu einer "Sonderfläche namens Andersleben",(13) sondern sein Leben muß die Holocaust-Vergangenheit einbeziehen können, sie ist die "eigentliche Sonderfläche" (31), auf der er existieren kann. Die Vergangenheit darf nicht einfach verdrängt werden. Wirkliche Freiheit gewinnt man nicht durch Davonlaufen, sondern in dem man sich mit den Gegebenheiten auseinandersetzt. Nur so kann man - kann das Ich des Gedichts - sich "schwimmend strecken," (32) oder den [Lebens-]Zug "frei" besteigen (85).

III

Auch eine solche Situation kann eine Art von" Daheim" sein. Die Aushausung der Angehörigen des Ichs im Gedicht ist schon lange her, die Toten liegen schon lange nicht mehr verkrampft im Grab, sondern sie haben sich schon lange "zum Skelett gestreckt und knurrend schlafen sie mein Schlaf" (35). Sie schlafen knurrend seinen Schlaf, heißt, sie stören seinen Schlaf dadurch, daß er sich immer wieder, ob er will oder nicht, mit ihrem schrecklichen Schicksal auseinandersetzen muß. "[K]nurrend schlafen sie," weil sie ja alle noch gerne gelebt hätten. Jetzt aber [ver]"wittern" sie "Unschuldig wie vertilgte Tierchen"(14) Seite an Seite mit eben diesen Tierchen. Vergeblich befragt man Salomon den Weisen, wie man sich dazu verhalten soll. (37ff.:) Alles was nun von diesen Menschen noch übrig ist, sind "ihre dreisten Träume," also Träume vielleicht von Lebensmut und Unternehmungsgeist, die in ihren Nachkommen weiterleben.

Die nächste Station in der "Menschenlandschaft" (39) ist ein Konzentrationslager mit Verbrennungsöfen. Aber zunächst kurz zu dem Wort "Menschenlandschaft": Das kann bedeuten "eine von Menschen geformte, geprägte Landschaft," es kann aber auch bedeuten "eine Landschaft, wo man immer wieder auf Menschen trifft." Schließlich könnten damit auch die durch die toten Menschenleiber gebildeten Hügel der Landschaft gemeint sein, wie etwa in den Zeilen 67,69. Das Ich des Gedichts "rutscht" weiter "Hin zu den Öfen" (40).

Eine Gedenkstätte menschlicher Greuel wie etwa ein Verbrennungsofen der Nazis kann heutzutage für einen feinfühligen Menschen sehr leicht seine beabsichtigte Wirkung verfehlen. Das Ich des Gedichts erlebt hier folgendes: Die Menschen, die "Lebensmenschen" (43) kommen vielleicht mit dicken Autos zu diesen Gedenkstätten angefahren, oder ein Staatsoberhaupt samt Entourage landet etwa gar in einem Düsenjäger.(15) Musik wird gespielt, vielleicht nicht gerade Walzer, wie es in Zeile 44 heißt, aber immerhin Musik. Kränze und Schleifen mit Wörtern werden niedergelegt. Worte werden gesprochen. Die Wörter auf den Schleifen und die gesprochenen Worte versprechen, daß die Toten nie vergessen werden, sie sprechen von der Würde der Toten. Das ist also der Rest des Lebens derer, die da umgekommen sind. Sie sind keine "Sassen"(16) mehr, keine Ansässigen, keine Einwohner also. Sie sind schon lange "ausgehaust" (33), sie sind ohne Heimstatt, der Heimat beraubt, unbeheimatet.

Das Ich des Gedichts aber bleibt "als Sasse/ Im Adijöh zurück" (46f.). "Adieu" bedeutet eigentlich "Gott befohlen," es bedeutet auch "Abschied." Beide Bedeutungen sind hier sinnvoll. Das Adieu, der Abschied, die Situation der Trennung von den Seinen, das ist die Sonderfläche [s]eines Daseins" (31, 48), auf der er "Gott befohlen" leben muß. Diese "Sonderfläche [s]eines Daseins" ist ihm "rätselig" (47), denn er weiß nicht genau, wie er sich angesichts der Vergangenheit des Holocausts zu verhalten hat. Oder man könnte "ich bleib als Sasse/ Im Adijöh zurück" paraphrasieren als: Beim Abschied bleibt doch noch immer ein Teil von mir dort.

IV

Er fühlt sich schuldig und wie ein "Halbgerechter",(17) also wie ein Mensch, der nicht ganz gerecht, nicht ganz ehrlich ist, "Denn [er] vergnüg[t] [s]ich gar nicht schlecht in deutschen Landen" (50). Er ist ein Mensch, der [s]ehr sinnenhaft und lebensfroh"(18) ist. Es gibt vielleicht viele, die er mit seiner Liebe beglückt. "Schütte entlang der Wiener Donau meinen Samen/ Ins helle Lachen" (51f.). Zugleich aber geht "[s]ein Blick ... in die Belsen fremd" (52). Das heißt vielleicht, daß ihn immer wieder der Gedanke an seine Sondersituation beirrt. Mitten im Beischlaf mag ihn eine solche Beirrung überfallen, mitten "Hinein in die Konturen innerlicher Keuchkommandos" (53), denn er ist und bleibt eben doch ein Nachkomme derer, die im Holocaust zugrunde gegangen sind. "Denn Feuerchen bin ich im Hintennach" (54). Durch Schreiben versucht er die Situation für sich zu klären, er versucht sich vorzustellen, wie sich in der Vergangenheit in diesen Exekutionswäldem des Nordens die Tragödie seiner Angehörigen abgespielt hat: "... da drechsel/ Ich Wörter noch und noch, damit vor mir da liegen/ Die Augenspiele aus den frühen Wäldern" (54ff.). Er versucht sich vielleicht freizuschreiben von diesen immer wiederkehrenden Greuelvisionen.

Er liebt "die Nähe flie[ht] [s]ich ins ganz Nahe" (57). Vielleicht ist das abermals(19) die Umarmung einer Geliebten, auf die hier angespielt wird. Immer wieder sucht er solch menschliche Nähe, denn da fühlt er sich von der Vergangenheit schwächer bedrängt: "Sodaß die ferne Zeit mich sprachlos bloß umzingelt" (58).

Jedoch immer wieder "Wächst [ihm] der Rucksack mit den Knochen unterbrust." "Ich fall nach vom auf meine Sonderfläche. Salomon" (60). Die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit ist etwas, was nie erledigt ist, sie wird immer wieder aufs neue von ihm verlangt. "Ich fall nach vom" bedeutet wohl, daß auch in der Zukunft diese Auseinandersetzung stattfinden wird.(20)

Davongelaufen sind mir viele die ich mochte
Auch wenn sie ihr Gestorbensein als Ehrgeiz hin und her
Gewendet hatten, so als ob sie knurren können
Als ob ich atmen kann und knurrn im Hintennach zuhaus. (61ff.)

Viele Menschen, die er eigentlich gern hatte, haben sich von ihm getrennt. Sie sind "Davongelaufen ... Zu einer ruhigen Sonderfläche namens Andersleben" (vgl. 6f). Sie sind so gut wie gestorben (62), sie setzen sich für nichts mehr ein mit der Begründung, daß dies sowieso nur "Ehrgeiz" (62) gewesen sei. Ihm werfen sie wohl vor, daß er nur aus Ehrgeiz über die Holocaustgreuel "knurrt." Als Davongelaufene, als Gestorbene können sie nicht mehr "knurren." Nur wer teilnimmt, kann knurren, kann seinen Protest verlautbaren. Für ihn, der nicht davongelaufen ist, bleibt die Situation zwiespältig. Er kann nicht atmen und knurren zugleich. "Als ob ich atmen kann und knurrn im Hintennach zuhaus" (64). Das Atmen schließt das Knurren aus und umgekehrt. Und doch wird ein Mensch wie er, einer der "im Hintennach zuhaus" (64) ist, eben immer hin und hergerissen sein zwischen dem Wunsch zu vergessen (= "atmen") und dem Drang, sich dagegen aufzulehnen (="knurren").

V

Das Ich des Gedichts versucht zu leben, auch unter solch schwierigen Bedingungen. Er geht mit seiner Geliebten Li (66), einer Deutschen (66, 84) nach Belsen (65) und besucht dort das Konzentrationslager. Er geht aber mit ihr auch "nach Binsen und Verschleiß" (66). "In die Binsen gehen" heißt "verschwinden" oder auch "verbraucht zerstört werden." Ich glaube, "nach Binsen und Verschleiß" (66) bedeutet hier so viel wie, daß er mit ihr überall hin geht, durch "dick und dünn" etwa.

Nun erlebt er mit dieser Geliebten den Holocaust-Friedhof von Bergen-Belsen, sieht dort die großen Massengräber, wo Tausende auf einmal verscharrt wurden. Er steht mit ihr "vor den großen grasbewachsnen Hügeln/ Worein sich je die Tausenden verrottet krümmten" (67f.). Aber selbst in diesen miserablen Gräbern finden die Toten noch keine Ruhe, denn ganz in der Nähe ist nun dort ein Nato-Truppenübungsplatz (71,73)."Und dort ich steh und geh zwischen den Hügeln/ Schläft keiner von den Toten seinen Tod zu End/ Fahren die Natopanzer klirrend durch den Schlaf/ Schießen Granaten ab, so schießts und kracht es dauernd./ Was Bergen-Belsen sonst einst war, es ist ein Truppenübungsplatz" (69ff.).

Mitten in Deutschland, nicht in Thule hinter Vineta
Nah Celle ist zuhaus der Trauerfluß von dem
Die Energie für Künftiges geliefert wird. (74ff.)

Hier mitten in Deutschland und in unserer Jetztzeit haben wir also ein Beispiel für tragisches Vergessenwerden. Die sagenhaften Orte Vineta(21) und Thule(22) sind Beispiele von Menschensiedlungen in der Ostsee oder Nordsee, die vor sehr langer Zeit untergegangen sind und vergessen wurden. Gewissermaßen sind sie im Trauerfluß (75) Lethe, von dem auch in Zeile 91 die Rede ist, also im Fluß des Vergessens untergegangen. Wir haben die Umstände ihres Unterganges vergessen und nur wenig oder nichts daraus gelernt. Aber man braucht gar nicht so weit weg oder so weit zurückzugehen, denn hier mitten in Deutschland haben wir ein anderes Beispiel eines solchen Vergessens. Daß an diesem Ort Bergen-Belsen, der ein "Monument/ Des Ernstes und der Sammlung" (76f.) sein sollte, Truppenübungen der Nato die Ruhe der Todesstätte stören dürfen, ist ein Beispiel tragischen Vergessens, "von dem/ Die Energie für Künftiges geliefert wird." Gemeint ist wohl "Künftiges" Schreckliches, gemeint ist wohl, daß wir weder von Thule und Vineta, noch vom Holocaust genug gelernt haben, um die Energie für künftige Greueltaten zu bändigen. Der Trauerfluß des Vergessens ist auch hier "zuhaus" (75). ,

"Die Energie für Künftiges" (76) könnte aber auch eine Anspielung sein auf die zahlreichen Erdölquellen ausgerechnet in der Nähe von Celle, in der Nähe von Bergen-Belsen, die man nun zu nützen begonnen hat. Daß das Erdöl keineswegs nur für humanitäre Zwecke fließt, sondern auch die Energie liefert für Kriege und Unmenschlichkeiten, beweist sich heute genau so wie in der Vergangenheit. Insofern könnte dann auch das Fließen der Erdölquellen mit dem Trauerfluß Lethe gleichgesetzt werden.

Die beiden vorgeschlagenen Interpretationen widersprechen einander nicht. Sie laufen beide darauf hinaus, daß wir aus der Vergangenheit nichts lernen, die Gefahr eines Holocaust ist keineswegs überwunden.

Bergen-Belsen sollte "Ein Monument/ Des Ernstes und der Sammlung" (76f.) sein. Aber dies ist eben gerade nicht der Fall. Auch Anne Frank, die im März 1945 in Bergen-Belsen starb, kann unter solchen Umständen nicht zur Ruhe kommen. "Anne Frank/ Kauert wohl sprungbereit im Staub der Lüneburger Heide" (78).

Ich glaube, Schindel empfindet hier, daß auch eine noch so gutgemeinte Gedenkstätte nicht immer den Ernst und die Sammlung bewirkt, die ihr gebühren würde; vor allem dann nicht, wenn - wie weiter vorne in dem Gedicht "Lebensmenschen landen ... mit Düsenjägern" (43), oder wenn im Hintergrund der Lärm von Natopanzern (71) zu hören ist. Das Ich des Gedichts ist dennoch irgendwie ergriffen und legt wenigstens "einen Stein auf einen ihrer Hügel" (79), um damit den Hügel als Grabstätte zu kennzeichnen.

Dann aber faßt ihn wieder das Leben in Gestalt seiner deutschen Freundin, die ihren Arm um seine Hüfte schlingt.

VI

Sie fahren zurück, wahrscheinlich in die Stadt, in der die deutsche Freundin wohnt. Tränen über die Holocaustgreuel gehen vielleicht über in Tränen der Leidenschaft, und er findet sich in den Armen der Geliebten. "Tränen [sind] schon/ Längst eingesammelt in den Schrein der Leidenschaft./ Ich liege bei der Deutschen da in Deutschland" (82f.). Er kann in Deutschland eine Deutsche lieben, obwohl "die Deutschen" und "Deutschland" verantwortlich sind für den Untergang seiner Vorfahren! Das heißt, er kann leben und lieben, ohne daß er die Vergangenheit verdrängen muß.

Am nächsten Tag steht er auf, fühlt sich nicht bedrückt, sondern "frei" (85) durch das Liebeserlebnis. "Frei" ist er aber auch im Gegensatz zu seinen Angehörigen, die durch Deutschland fuhren als Gefangene. Er kommt zurück in die Gegenwart von einer Reise in die Vergangenheit, er kommt zurück als "ein Feuerchen von Hintennach". Er fährt zurück nach Wien. Zwar fühlt er sich in Wien nicht ganz richtig daheim,(23) denn seine Heimat ist ja zugleich auch irgendwo da draußen, wo die Reste seiner Angehörigen sind, aber Wien ist immerhin seine "Wortheimat." Wien liegt am Donaufluß. Die Donau ist auch ein Lethefluß(24) (91), ein Vergessensfluß, ein Trauerfluß (vgl. Zeile 75). Doch in Wien da merkt man das nicht, da ist das Vergangene kein Greuel, sondern es wird stets vergoldet und lächelt sich (88) so in die Gegenwart hinein. Die Leute dort sind gemütlich, sie trinken gerne Rotwein. Sie "schlempern den Lethefluß" (91). "Schlempern" heißt "zu . viel trinken."(25) Vielleicht trinken sie also oft zu viel, sodaß der rote Wein die gleiche Wirkung hat wie der Fluß Lethe, der alles vergessen macht.

Dieser Lethefluß, mag er nun als Wein (91) oder Donau (87, und Fußnote (24)) oder sonstwie (75) auftreten, scheint besonders in Regierungskreisen zu fließen. Denn er ist ein Fluß, "der kreuz und quer der Hofburg/ Unserem Vergessenskaiser wäscht die Zehen blutig" (91f.). Wahrscheinlich ist dies eine Anspielung auf den österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim, der große Kontroversen verursachte, weil er viele Details seiner Tätigkeiten während der Nazizeit vergessen hatte.(26)

Das Ich des Gedichts - ein Mann fragt sich: "Daher bin ich geflohn?" Er fragt sich damit, ob hier in dieser Vergessensstadt, in diesem Land die "Sonderfläche" ist, auf der ein Mensch wie er existieren kann. Die Antwort wird nur indirekt gegeben. Er geht spazieren auf der Jesuitenwiese,(27) die sich in der Prater Au befindet. Auch das ist wohl irgendwie ein zu Hause. Im Sommer singen da die Amseln. Dann fliegen diese Zugvögel teilweise nach dem Süden. Die Krähen aber kommen. Auch das ist schön.

... Die Jesuitenwiese geh ich
Großer Gesang aus Wien am Binsenstrom
Die Amseln brechen ab links rechts nach Süden. Krähen
Falln ein in dieses enge Land. Sind gern daheim.(93ff.)

Wenn die Krähen in Zeile 27f. ("...nordnordsüd zum Wörterdelta/ Da ja versammelt ward, was je die Krähen sprachen") sich auf die Juden bezieht, so könnte "Krähen" hier in Zeile 96 bedeuten, daß viele Juden nun wieder nach Österreich kommen, denn - trotz Holocaust und schrecklicher Vergangenheit - sind sie "gern daheim." Die Amseln, Zugvögel, könnten dann etwa die Touristen bedeuten. Bei dieser Lesung stört mich allerdings, daß es heißt: "Krähen/ Falln ein(28) in dieses enge Land" (95f.), was sehr leicht negativ interpretiert werden könnte. Daß diese "Krähen" "gern daheim" (96) sind und dieses Land lieben, auch wenn es "eng" (96) ist im geographischen und vielleicht auch im übertragenen Sinn, erscheint mir aber wieder ein sehr positives Bild.

Zur Autorin


Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr.2/1996. S. 12-19.

home.gif (2030 Byte)buinst.gif (1751 Byte)        Inhalt: Nr. 7


Anmerkungen:                                                             Bibliographie

(1) Robert Schindel: Gebürtig. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1992.

(2) "Robert Schindel, der in letzter Zeit vor allem durch seinen Roman Gebürtig von sich reden machte, hatte sich zunächst als kontroverser Lyriker in der modernen Literaturszene etabliert. Aber auch jetzt noch, nachdem sein Romanerstling ihn über Nacht berühmt gemacht hat empfindet er sich nach seinen eigenen Worten - in erster Linie als Lyriker. Durch seine oft gepriesenen, oft verdammten eigenwilligen Metaphern, Wortschöpfungen, beziehungsweise Wortverfremdungen hat er sich eine Anhängerschaft von begeisterten ‘Schindelianern’ geschaffen, zugleich aber hat seine "Unverständlichkeit" auch vielfach "Verständnislosigkeit" hervorgerufen.
Robert Schindels Lyrik umfaßt bis jetzt vier Gedichtbändchen, jedes mit mehr oder weniger geheimnisvollem Titel: Ohneland kam 1986 heraus, Geier sind pünktliche Tiere 1987, Im Herzen die Krätze 1988. Letzteres enthält sowohl frühere als auch neuere Gedichte aus der Zeit von 1965 bis 1988. Der jüngste Gedichtband trägt den Titel Ein Feuerchen im Hintennach und kam 1992 heraus." Aus: Gerlinde Ulm Sanford: Wortschöpfungen und Wortverfremdungen in Robert Schindels Lyrik." In: Jura Soyfer, Zeitschrift der Jura Soyfer Gesellschaft 4, Jg., Nr. 2 (1995), S. 19.

(3) Dieser Absatz ist übernommen aus meinem Aufsatz: Zaubernähen, Immernie, Frostesonnen, nullerlei. Zu Robert Schindels ‘Liebliede’ und ähnlichen Gebilden." In: Modern Austrian Literature, Vol.27, Nrs.3/4,(1994), S. 155-171.

(4) Susanne Kippenberger: "Die ganze Weit ist ein Fußboden." In: Der Tagesspiegel, Nr. 14 (26. März 1992), S. 20.

(5) Ebd.

(6) Aus: Umschlagtext zu Gebürtig, 3.Auflage, Frankfurt/Main 1992.

(7) Ein anderes längeres Gedicht, das in diesem Zusammenhang behandelt werden könnte, ist "Der Rindfleischesser" (Noctumo) aus dem Gedichtband Geier sind pünktliche Tiere, Kapitel 8 Drauß-zwischen", S. 87ff.

(8) Im folgenden beziehen sich die Zahlen in Klammern auf die Verszahlen des Gedichts.

(9) Gunhild Kübler: "Einspruch gegen das Schweigegebot. Neue Gedichte von Robert Schindel." In: Neue Zürcher Zeitung, 22. Mai (1993), Feuilleton.

(10) Vgl. auch weiter vorne die Bemerkungen zu Zeile 59f.

(11) Auch Schindel hatte sich vorübergehend einer Gruppe der kommunistischen Wiener Arbeiterbewegung angeschlossen, 1968 trat er aber aus. Er war dann einer der Hauptaktivisten der kommunistischen Studentenbewegung und vorübergehend auch Mao-Sympathisant.

(12) Vielleicht benutzt Schindel absichtlich "Wörterfraun" anstatt "Wortfraun", um anzudeuten, daß ,Wörter« leer sein können, im Gegensatz zu Worten,« die meist etwas Ernstzunehmendes sind.

(13) Vgl. Z. 5f.

(14) Vgl. auch Z. 9ff.

(15) Weder das Holcaust Museum in Washington noch das Deutsche Information Center in New York konnte mir genaue Auskunft erteilen bezüglich der Frage, in der Nähe welchen Konzentrationslagers sich ein Flughafen für Düsenflugzeuge befindet.

(16) Im Österreichischen bedeutet "Sasse" soviel wie "Ansässiger, Einwohner". Im Hochdeutschen erscheint "Sasse" vor allem in Zusammensetzungen wie "ansässig, aufsässig" etc.

(17) "halb" wird in verschiedenen Verbindungen mit negativer Bedeutung verwendet; vgl. z.B.: Halbwelt, Halbstarker, Halbheit, Halbwissen etc.

(18) Vgl. "Bin 8 (Aufatme ich)" in: Ein Feuerchen im Hintennach, S.48: Ich hebe ab und atme auf, bin sowieso/ Sehr sinnenhaft und lebensfroh/ Und golden glänzen meine Larifariflügel./ - Prachtvoll links unten nun der Belsener Hügel/ Auf dem der Käfer geht mit Grille und mit Igel/ Dem Morgen zu. Vergangen brennt der lichterloh."

(19) Vgl. auch Z. 51 ff.

(20) Vgl. auch Z. 13ff. und meine Erwägungen oben zu diesen Zeilen.

(21) "Vineta, ehem., der Sage nach vorn Meer verschlungene Stadt an der Ostsee, deren Namen auf falsche Lesung des in Quellen des 10. und 11. Jh.s erwähnten Handelsplatzes Jumne oder Jumneta (die Jomsburg der Jomswikinger) an der Odermündung zurückgeht wahrscheinlich aber auf die Slawen- oder Wikingersiedlung Julin auf der Insel Wollin zu beziehen ist ..." Meyers Großes Universallexikon (Mannheim: 1986).

(22) "Antike Bez. einer Insel im N, erstmals von Pytheas erwähnt. Umstritten ist, ob er die Insel erreichte oder nach dem Hörensagen berichtete. Nach Tacitus die Shetlandinseln, nach dem byzantin. Geschichtsschreiber Prokop Skandinavien." Ebd.

(23) Vgl. auch das Gedicht "Vineta I" in: Ein Feuerchen im Hintennach, S.53: "Auch diese Stadt [=Wien] ist nicht fürs Alpenglühen da/ Sondern sie lebt, wie ich, längst in Diaspora."

(24) Vgl. auch das Gedicht "Vineta I" in: Ein Feuerchen im Hintennach, S.53: Hier heißt es über Wien: "Die schönste Stadt der Welt direkt am Lethefluß."

(25) Diese Bedeutung fand ich im Wörterbuch des Wiener Dialekts CHECK Verlag etc. Nach Auskunft eines Urwieners soll "Schlempern" aber "wackeln", "eiern", "sich ungeordnet exzentrisch bewegen" heißen; ein Besoffener schlempert ein ausgeleiertes Lager, ein Bolzen in einem zu großen Lager schlempert. Also, so weit ich verstanden habe, wohl irgendwie ein verballhorntes "schlenkern." Die Bedeutung "zu viel trinken" scheint mir jedoch besser in den Kontext des Gedichts zu passen.

(26) Vgl. auch das Gedicht "Vineta I" in: Ein Feuerchen im Hintennach, S. 53: wo wohl ebenfalls auf diesen Vergessenskaiser (92) angespielt wird, den man in der Hofburg als "Österreichs beste Leiche" riechen kann.

(27) Die Jesuitenwiese ist in der Prater-Au in der Ecke zwischen Rotundenallee (also der logischen Verlängerung der Rotundenbrücke über den Kanal) und der Rustenschacherallee, somit in Kanalnähe.

(28) Meine Hervorhebung.


Bibliographie

Drei Miniaturen. Gustav Ernst: "Trockenheit." Wolfgang Murawatz: "Moses." Robert Schindel: "Die Geschichte Onan." Nachwort von Leander Kaiser. Wien 1970.

Robert Schindel: Ohneland. Frankfurt/Main 1986.

Robert Schindel: Geier sind pünktliche Tiere. Frankfurt/Main 1987.

Robert Schindel: Im Herzen die Krätze. Frankfurt/Main 1988.

Robert Schindel: Ein Feuerchen im Hintennach. Frankfurt/Main 1992.

Robert Schindel: Gebürtig. Frankfurt am Main 1992.

Robert Schindel: Die Nacht der Harlekine.Erzählungen. 1 Aufl. Frankfurt am Main 1994.

Robert Schindel: Born-where. Übersetzung und Nachwort von Michael Roloff. Riverside 1995. Series: Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought. Translation Series.

Evelyn Holloway: Schattenschrift. Jüdische Identität in der modernen Literatur zu. a. zu den österreichischen Autoren Franz Kafka, Ruth Klüger, Robert Schindel. In: Literarität. Salzburg, S. 39-43.

Robert Schwarz: Die Nacht der Harlekine by Robert Schindel. In: World Literature Today. Vol.68, Nr.4. Autumn 1994, S. 807-808.

Hildegard Kernmeyer: Gebürtig Ohneland. Robert Schindel: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. In: Modern Austrian Literature. Vol.27, Nrs.3/4 (1994), S. 173-192.

Gerlinde Ulm Sanford: Zaubernähen, Immernie, Frostesonnen, nullerlei. Zu Robert Schindels "Liebliedern" und ähnlichen Gebilden. In: Modern Austrian Literature. Vol.27, Nrs.3/4 (1994), S. 155-171.

Gerlinde Ulm Sanford: Wortschöpfungen und Wortverfremdungen in Robert Schindels Lyrik. In: Jura Soyfer, Zeitschrift der Jura Soyfer Gesellschaft, 4.Jg., Nr.2 (1995), S. 19-24.

Renate Posthofen: Erinnerte Geschichte(n): Robert Schindels Roman Gebürtig. In: Modern Austrian Literature. Vol.27, Nrs.3/4, (1994), S.193-211.


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