Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Österreichische Literatur in China

Zhang Yushu (Beijing)

Es ist bemerkenswert, daß der Beginn der Vermittlung der österreichischen Literatur in das Jahr 1919 fiel und Mao Dun(1), einer der Hauptrepräsentanten der modernen chinesischen Literatur als der erste Schnitzler-Übersetzer auch der erste Vermittler der österreichischen Literatur in China war.

Im Jahre 1919 brach am 4. Mai die berühmte Vierte-Mai-Bewegung(2) in Peking aus. Im Geiste der Vierten-Mai-Bewegung hat Mao Dun im Jahre 1919 in dem Feuilletonblatt der Zeitung "Neues Blatt der Nachrichten" den Einakter "Denksteine" in "Anatol" von Schnitzler veröffentlicht. Im Februar 1920 veröffentlichte er seine Übersetzung eines anderen Einakters "Anatols Hochzeitsmorgen" von Schnitzler in der "Frauenzeitschrift". Die Veröffentlichung dieser beiden Einakter von Schnitzler, alle aus dem Englischen ins Chinesische übersetzt, stellt den Auftakt der Vermittlung der österreichischen Literatur in China dar und versprach gleichzeitig auch die Begeisterung der chinesischen Leser für Schnitzler. Denn in den darauffolgenden Jahren war Schnitzler der populärste Schriftsteller der österreichischen. Literatur in China. Im Gegensatz zu denen in Europa, die Schnitzler als einen Schriftsteller "der Liebe und des Todes" betrachteten und ihn als einen unsittlichen Schriftsteller zu verdammen trachteten, hat Mao Dun den gesellschaftskritischen Wert der Schnitzlerschen Werke voll und ganz begriffen. Mao Dun, der in den dreißiger Jahren in seinem hervorragenden Roman "Shanghai im Zwielicht" verschiedene Gesellschaftsschichten in Shanghai - vor allem die chinesische Bourgeoisie - mit allen Nuancen beschrieb, muß von Schnitzler, der mit seinem scharfen Blick bis in die Tiefe der Wiener Gesellschaft eindrang und seine Figuren - vor allem deren Seelen - wie ein Chirurg genau sezierte, sehr viel gelernt haben.

Im Jahr 1921 wurde die "Gesellschaft für die Literaturforschung" von Mao Dun und seinen Freunden, alle repräsentative Persönlichkeiten der neuen chinesischen Literatur, in Peking gegründet. Im darauffolgenden Jahr wurde "Anatol" in Buchform herausgegeben und in die Bücherei der "Gesellschaft für die Literaturforschung" aufgenommen. Das ist die erste chinesische Schnitzler-Übersetzung in Buchform. Im Jahre 1924 erschien schon die zweite Auflage von "Anatol", was beweist, wie gefragt dieses Buch war. In bezug auf die Vermittlung der österreichischen Literatur ist die Zeitschrift "Xiao Shuo Yue Bao" (Monatsschrift für das erzählerische Werk) zu erwähnen, deren Chefredakteur Mao Dun war. Da diese Zeitschrift ein führendes literarisches Magazin in den zwanziger und dreißiger Jahren in Shanghai, damit auch in ganz China war, wurden alle Artikel, die dort erschienen, sehr geschätzt und die Informationen, die dort mitgeteilt wurden, von allen beachtet. Man bekam im Jahre 1929 zu lesen: "Hoffmansthal ist am 15. Juli dieses Jahres gestorben" und im Jahre 1934 berichtete diese Zeitschrift über den Tod von Wassermann und Bahr: "Wassermann ist in Österreich gestorben." "Hermann Bahr, der sich mit Schnitzler zusammen für die Entwicklung der Wiener Literatur eingesetzt hat, ist am 15. Januar gestorben, was ein großer Verlust für den Wiener Literaturkreis ist."

In der Rubrik "Nachrichten über die ausländische Literatur" dieses Magazins hat Mao Dun selbst dem chinesischen Publikum mit Wärme eine junge österreichische Schriftstellerin - Grete von Urbanitzky - vorgestellt: "Unter den jungen österreichischen Schriftstellerinnen ist Grete von Urbanitzky die berühmteste. Mit 23 Jahren hat sie ihr Erstlingswerk, einen Gedichtband, veröffentlicht. Inzwischen sind 8 Jahre verflossen, in denen sie manches gute Werke geschrieben hat. Neulich wurden der Roman ‚Die goldene Peitsche' und eine Sammlung von 6 Erzählungen mit dem Titel ,Masken der Liebe' von ihr veröffentlicht."

Aber die österreichische Literatur war von 1919 bis 1949 hauptsächlich durch Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Rainer Maria Rilke vertreten, wobei sich Schnitzler bei der chinesischen Leserschaft von damals einer viel größeren Beliebtheit als die beiden anderen erfreute.

1928 wurde "Der grüne Kakadu" in der Zeitschrift "Dong Fang Zha Zhi" (Zeitschrift für den Osten) mit einem kurzen Lebenslauf von Schnitzler veröffentlicht. 1929 wurden "Liebelei" und "Der grüne Kakadu" in Buchform herausgegeben.

Der Übersetzer Zhao Boyan, der in Wien studiert hat, ist durch seine Übersetzung von "Reigen" bekannt geworden, weil er im Gegensatz zu anderen Übersetzern den "Reigen" direkt aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzte und auch weil er Arthur Schnitzler persönlich kennengelernt hatte. Zhao Boyan schrieb in seinem Vorwort zu seiner Übersetzung von "Reigen":

Da ich in Wien fast drei Jahre studiert habe, kenne ich einigermaßen die Sitten und Gebräuche der Wiener. Im Mai 1926 habe ich durch die Vermittlung von Prof. Castle, Professor für Theaterwissenschaft an der Wiener Universität, Schnitzler in seiner Wohnung in der Sternwartestraße 71 besucht, der damals schon 62 Jahre alt war. Er sagte mir, daß er seine medizinischen Kenntnisse noch nicht vergaß. Falls jemand in seiner Familie Unpäßlichkeiten wie Erkältungen hatte, pflegte er selbst dem Erkrankten den Pulsschlag zu messen und ein Rezept zu verschreiben. Er war sehr freundlich. Er sagte, unter seinen Besuchern aus dem Morgenland gab es Japaner, aber ich war der erste Chinese. Als er am 15. Mai seinen Geburtstag feierte, lud er mich zum Tee ein und erlaubte mir, seine Werke ins Chinesische zu übersetzen. Ich darf ihm hier meinen herzlichen Dank dafür aussprechen.

Zhao lobte Schnitzler auch in seinem Vorwort:

Er [Schnitzler] schreibt mit einer ernsthaften Haltung. Was die erotische Beschreibung betrifft, so zieht er die psychologische Beschreibung der realistischen Darstellung vor, im kritischen Moment benutzt er Zeichen der Auslassung, um durch Andeutungen der direkten Beschreibung ganz geschickt aus dem Weg zu gehen.

Zhao versprach, einen Bericht über seinen Besuch bei Schnitzler zu schreiben, konnte aber sein Versprechen nicht einlösen, weil er am 29. November 1929 an Typhus in Nanking gestorben ist, ein großer Verlust nicht nur für die neue chinesische Literatur, sondern auch für die Vermittlung der österreichischen Literatur in China.

Etwas später als seine Dramen wurde auch das erzählerische Werk von Schnitzler ins Chinesische übersetzt, was in erster Linie dem Schriftsteller und Literaturforscher Shi Zhecun zu verdanken ist. In den dreißiger und vierziger Jahren wurden hauptsächlich von ihm und anderen folgende Werke von Schnitzler übersetzt: "Die Hirtenflöte" (1929), "Die zärtliche Witwe" (Frau Bertha Garlan) (1929), "Sterben" (1930, 1933), "Frau Berta Garlan" (1931, 1932), "Fräulein Else" (1931, 1945, 1949), "Vor dem Selbstmord" (Leutnant Gustl) (1931, 1945), "Der Tod des Junggesellen" (1932), "Die Frau des Weisen" (1932), "Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg" (1934, 1937, 1941), "Die unglückliche Therese" (Therese) (1937).

Daß die Werke von Schnitzler nicht auf heftigen Protest stießen und keine skandalöse Aufregung auslösten, zeugt von der Aufgeschlossenheit und der Aufnahmefähigkeit des chinesischen Publikums der damaligen Zeit.

Neben Arthur Schnitzler war Stefan Zweig ein Hauptrepräsentant der österreichischen Literatur in China. In seinen Erinnerungen "Die Welt von Gestern" hat Stefan Zweig erwähnt, daß zur Zeit seines 50. Geburtstages, also im Jahre 1931, seine Werke schon ins Chinesische übersetzt worden sind:

Da lag, als Geschenk des Insel-Verlags zu meinem fünfzigsten Geburtstag gedruckt, eine Bibliographie meiner in allen Sprachen erschienenen Bücher und war in sich selbst schon ein Buch; keine Sprache fehlte, nicht Bulgarisch und Finnisch, nicht Portugiesisch, nicht Chinesisch und Maratti.(3)

Stefan Zweig muß ganz richtig informiert gewesen sein, denn tatsächlich wurde im Jahre 1926 die Zweigsche Romain Rolland-Biographie in einer Zeitschrift in Peking in 6 Fortsetzungen veröffentlicht und seine Novelle "Die Gouvernante" wurde im Jahre 1927 vom dem Slawisten Geng Jizhi ins Chinesische übersetzt. Im Jahre 1928 wurde eine neue Übersetzung von der Zweigschen Romain Rolland-Biographie in Buchform in Shanghai herausgegeben, mit dem Historiker Yang Renbian als Übersetzer, der in Frankreich studiert hat. Im Jahre 1929 wurde die Erzählung "Geschichte in der Dämmerung" in der bekannten Zeitschrift "Xiao Shuo Yue Bao" veröffentlicht, übersetzt ebenfalls von dem Slawisten Geng Jizhi.

Als die Werke von Stefan Zweig nach der Machtergreifung von Hitler in Deutschland verboten und verbrannt wurden, war das Interesse der chinesischen Leser für diesen österreichischen Schriftsteller trotz seiner jüdischen Abstammung ungeschwächt und seine folgenden Werke wurden herausgegeben und weiter mit Begeisterung gelesen: "Brief einer Unbekannten" (1933, 1935, 1940, 1945)", "Amok" (1936,1941, 1942), "Tolstoi" (1940), "Dostojewski" (1941), "Hölderlin" (1942).

Wenn Arthur Schnitzler und Stefan Zweig in der Periode zwischen 1919-1949 die österreichische Literatur auf dem Gebiet des Dramas und des erzählerischen Werkes repräsentierten, so war die österreichische Lyrik allein durch Rainer Maria Rilke in China vertreten. Feng Zhi, der in Heidelberg studierte und als Lyriker und Germanist zugleich berühmt war, hat in den dreißiger Jahren Gedichte von Rilke übersetzt. Und ein anderer Lyriker, Xu Chi, hat 1943 in seinem Artikel "Lobgesang auf Rilke"(4) voller Begeisterung und Verständnis über diesen hervorragenden österreichischen Lyriker geschrieben: "Durch Rilke verstehe ich das Glück meiner Kindheit, das Glück der Liebe, die Liebenswürdigkeit der Frauen, Glück der Einsamkeit und erkenne ich den wertvollsten Teil meiner Gefühle..."

Nach einer kurzen Biographie von Rilke fuhr Xu Chi fort:

Ohne Gefühle ist die Menschheit keine Menschheit mehr. Daher besang Rilke die gereinigten menschlichen Gefühle. Aber gerade deswegen könnte er ignoriert und sogar getadelt werden. Was er anstrebte, war nicht die reine Vernunft, was er besaß, waren reine Gefühle, reine und tiefe Gefühle. Falls das der Grund ist, warum Rilke ignoriert und getadelt wurde, dann würde er auch deswegen nach und nach immer mehr verstanden und geliebt werden ...

Zum Schluß schrieb Xu Chi:

Wir denken an die größten Dichter des 20. Jahrhunderts, Lorca von Spanien und Rilke von Deutschland. Der erstere, der nicht über den spanischen Krieg geschrieben hat, wurde von Faschisten ermordet. Der letztere, der eine würdevolle ruhige Haltung zum Weltkrieg bewahrte, wurde seines Passports und seiner Müchener Wohnung beraubt, so daß er schrieb. ,Meine Aufenthaltserlaubnis wird in ein paar Tagen ablaufen... die bayerische Regierung begrüßt 'Fremde' nicht... Ich werde bald einen tschechischen Passport haben... wenn ich nach Paris komme, werde ich verhungern... die gleichen Schwierigkeiten hindern mich, nach Italien zu fahren.(5) ... Drei Jahre im Exil lassen seine würdevolle Ruhe reifen und er schrieb Die Duineser Elegien'. Das ist ein Teil seines Blutes, seines Blickes, seiner Geste, auch ein Teil der gereinigten menschlichen Gefühle, auch ein innerer, nicht zu entdeckender Teil im Körper unseres Lesers.

Während sich Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Rainer Maria Rilke in Europa einer großen Popularität erfreuten, waren sie auch in China bekannt. In der Zeit, wo die Werke von Schnitzler und Zweig in Deutschland als salonunfähige Dinge in den "Giftschrank" eingesperrt, auf den Scheiterhaufen geworfen und dadurch dem Publikum unzugänglich gemacht wurden, waren sie in China immer noch gefragt. Ein Zeichen, daß die Chinesen völlig frei von Antisemitismus sind.

Nach 1949 sind Schnitzler, Zweig und Rilke dem chinesischen Publikum plötzlich völlig aus den Augen verloren gegangen. Der Grund liegt wohl darin, daß eine politische Bewegung der anderen folgte und der Proletkult, der damals in der chinesischen Literaturlandschaft vorherrschend war, dazu führte, daß ausländische Literatur sehr einseitig und reduziert vorgestellt wurde. Manche Übersetzer, die früher "aus Liebe und Zuneigung zur deutschen Literatur einiges von der deutschen Literatur auf dem Umweg über die zweite oder dritte Sprache ins Chinesische übersetzt"(6) haben, widmeten sich ihren Facharbeiten, wie zum Beispiel der Übersetzer der Zweigschen Romain Rolland-Biographie Yang Renbian, Professor der Geschichte an der Peking-Universität und der Amok-Übersetzer Chen Zhanyuan, Romanistik-Professor ebenfalls an der Peking-Universität, und ein anderer Zweig-Übersetzer Geng Jizhi, ein berühmter Slawist und Dostojewski-Übersetzer. Aber viel folgenschwerer ist der radikale Dogmatismus, vertreten durch Georg Lukács und Literaturwissenschafter der Sowjetunion und der DDR, der seinen katastrophalen Niederschlag in der "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur"(7) findet. Unter dem Einfluß der ultralinken Linie mußten Feng Zhi, der selbst vor 1949 ein Rilke-Verehrer war, und seine Kollegen in ihrer Literaturgeschichte Rilke verurteilen:

Nach Nietzsche (der Hauptverteidiger der Bourgeoisie in der Zeit des Imperialismus) hätte die Bourgeoisie noch brutaler das Volk unterdrücken und noch entschiedener den Sozialismus ersticken sollen. Was Literatur und Kunst betrifft, so befürwortet er ‘Kunst um der Kunst willen'. Kunst über alles', so daß die Schriftsteller der Dekadenz, die vor der Realität flüchten, nun mit gutem Gewissen ihren Weg fortsetzen können, weiterhin von der Realität abzuweichen, wobei sie irgendwie noch als Erneuerer und Reformer der Literatur und Kunst' zu sein wähnen... Geleitet von solcher Ideologie entsteht dann die Literatur des deutschen Symbolismus, dessen Hauptrepräsentanten Stefan George und Rainer Maria Rilke sind.(8)

Die drei Wiener Meister, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig, an denen man kaum vorbeigehen konnte, wenn man die Literatur der Jahrhundertwende und die der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts behandeln will, werden unerklärlicherweise und ungerechterweise in diesem Buch(9) mit keinem einzigen Wort erwähnt, als hätten sie in der Literaturgeschichte überhaupt nicht existiert. (10)

Also blieb die österreichische Literatur in China lange Jahre unberücksichtigt. Es ist Stefan Zweig, der als der österreichische Schriftsteller dem chinesischen Publikum nach 1949 vorgestellt wurde, während die beiden anderen noch über zwanzig Jahre warten mußten. Im Jahre 1956 wurde die Novelle "Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau" von Stefan Zweig in der "Weltliteratur" veröffentlicht, die damals die einzige Zeitschrift für literarische Übersetzungen war. Das war eine angenehme Überraschung für die chinesischen Leser, denn in den fünfziger Jahren hat man lauter Werke aus der DDR-Literatur übersetzt. Man hatte die Nase voll von diesen ideologischen Lehrmaterialien in literarischer Form. Nach dem Mißerfolg des kommunistischen Experimentes in der "Volkskommune", die vom Jahre 1958 bis Anfang der sechziger Jahre in China praktiziert wurde, war man schon sehr skeptisch gegenüber all diesen Lobgesängen auf die sozialistische Umgestaltung in der Industrie und in der Landwirtschaft, auch in bezug auf die ideologische Umerziehung der Menschen ist man vorsichtig geworden. "Proletarische" Dichter, chinesische und ausländische, wie zum Beispiel Bertolt Brecht wollten die Leser mit ihren Werken schulmeisterhaft belehren und die Leute immer wieder zum Nachdenken zwingen. In anderen Ländern mochte das Nachdenken noch notwendig sein. Aber sollte man sich in China, wo man jeden Tag nachdachte und nachdenken mußte, in der restlichen Zeit noch belehren lassen von einem ausländischen Dichter, dessen eigener Standpunkt auch ziemlich zwiespältig zu sein schien? Selbst die Werke von diesem "proletarischen Dichter" Brecht wirkten nicht überzeugend genug, geschweige denn die der anderen. Die Menschen in der DDR wurden in ihrer Literatur dargestellt wie Figuren auf einem Schachbrett, die nur dazu da sind, um eine ideologische Wahrheit zu beweisen, daher wirkten die Menschen wie Schatten oder Marionetten, ohne Blut und Fleisch, ohne eigenen Willen. Solche schablonenhaften, nach Etiketten geformten Helden, die aus lauter politischen Begriffen bestehen, können nicht Mitleid und Furcht erregen. Und die Ironie wollte es, daß die Kampfgefährten oder Nachfolger von diesen in der Literatur verherrlichten Helden oder die Schriftsteller, die durch ihre literarischen Werke Lehrmaterial geliefert haben, auch gegeneinander auftraten. Dieses brüderliche Bündnis schien nicht so fest zu sein, wie man behauptete. Wozu sollte man sich für solche Dinge interessieren, die an sich auch nicht sehr interessant dargestellt wurden? Und vor diesem historischen Hintergrund erschien plötzlich die Novelle von Stefan Zweig, etwas, was uns völlig fremd, neu und daher umso attraktiver vorkam.

Das Leben einer Frau. Was für eine Frau? Eine bürgerliche, und dazu die Liebesgeschichte dieser Frau mit einem Spieler, der dann Selbstmord begangen hat. Haben Willi Bredel, Erwin Strittmatter und Dieter Noll je solche Motive behandelt? Unerklärlicher- aber doch erklärlicherweise liegen uns diese bürgerlichen Gestalten wegen ihrer menschlichen Gefühlsregungen trotz ihrer Klassenherkunft viel näher als alle Helden, die zwar besungen werden mußten, aber so unerreichbar hoch standen, daß sie mehr wie revolutionäre Titanen der modernen Zeit auf uns herabschauen als mit uns das Schicksal teilen. Aber diese Mrs. C. in der Novelle "Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau" ist ein normaler Mensch, hilfsbereit, gutherzig, mit edelmütigen Gefühlen und menschlichen Schwächen, ein Mensch wie wir alle. Diese Novelle ist so anders, so abweichend von der traditionellen Vorstellung von der Literatur und deren erzieherischen Funktion, daß die orthodoxen Literaturkritiker frustriert und verwirrt wurden. Aber die chinesischen Leser fühlten sich angenehm angetan.

Nun kam die Kulturrevolution, die sich ironischerweise als eine "Revolution" gegen die Kultur erwies. Viele große Meister der Weltliteratur wurden aus Bibliotheken und Buchhandlungen verbannt. Der Autor der Novelle "Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau" wäre beinahe in Mitleidenschaft gezogen worden, wenn die Kulturdespoten und Kulturnihilisten, die an der Macht waren, mehr von ihm gewußt hätten. So wurde Zweig während der Kulturrevolution verschont wegen seiner damals noch geringen Popularität.

Stefan Zweig, der vor der Kulturrevolution als der einzige österreichische Schriftsteller dem chinesischen Publikum vorgestellt wurde, hat kurz nach der Kulturrevolution durch die Veröffentlichung seiner "Schachnovelle" wieder großes Aufsehen in China erregt. Schon in den fünfziger Jahren haben die chinesischen Leser durch die Romane von Willi Bredel und Anna Seghers die Greueltaten der Gestapo kennengelernt, in deren Schilderungen es sich mehr um physische Folterungen handelt. Da die meisten Helden aus "besonderem Material" gemacht worden sind, wie Stalin einmal auf einem Parteitag der KPDSU gepredigt hat, so ließen sie sich nicht einschüchtern und konnten auch unerträgliche Schmerzen ertragen und trotz aller Mißhandlungen und Folterungen standhaft bleiben. Viele schablonenhafte Schilderungen und formalistische Figuren, von denen wir schon längst die Nase voll hatten. Da zeigte uns Stefan Zweig in seiner "Schachnovelle" etwas anderes. Er ist nicht an der Oberfläche stehengeblieben, sondern in die Seele der Menschen eingedrungen. Für die sensiblen Menschen, für die Intellektuellen sind die geistigen Qualen noch unerträglicher als die physischen. Außerdem sind die seelischen Folterungen viel raffinierter, sie treffen auch viel mehr Leute, die, selbst wenn sie nicht ins Gefängnis geworfen werden, doch auch den unsichtbaren teuflischen seelischen Mißhandlungen ausgesetzt sind. Die chinesischen Leser, die vor ein paar Jahren mehr oder weniger ähnliche seelischen Qualen erlitten hatten, waren besonders empfänglich für solche Beschreibungen. Es kam ihnen vor, als ob der Schriftsteller ihnen aus dem Herzen gesprochen hätte. Es wurde keine Märchenwelt geschildert, es war eine Welt, die vor kurzem noch wie ein Alptraum auf uns drückte.

Diese Realitätsnähe und Aktualitätsbezogenheit dieser Novelle hat mitgeholfen, daß sie in China zu einer populären Lektüre geworden ist. Dazu kam noch das tragische Schicksal des Verfassers, der sich im Jahre 1942 mit seiner Frau zusammen im Exil das Leben genommen hat. Mehr hat man in der Zeitung noch nicht zu lesen bekommen. Aber sein Selbstmord ist ja ein Beweis dafür, daß er ein Opfer der faschistischen Verfolgung war und daher das Mitleid der Leser verdienen sollte. Das Schicksal des Autors erinnert viele an das Schicksal derer, die ihnen nah standen und auch Opfer der Kulturrevolution geworden sind.

Daraus wird ersichtlich, daß die chinesischen Leser damals unter solchen emotionellen seelischen Voraussetzungen diese Novelle gelesen und den Schriftsteller kennengelernt haben. Das war die erste Begegnung der Chinesen mit Stefan Zweig, nach einer langen Unterbrechung.

Im Jahre 1979 erlebte die österreichische Literatur durch Stefan Zweig in China einen Durchbruch bei der Vermittlung und Rezeption. Nach der "Schachnovelle" war die Nachfrage nach seinen Werken so groß, daß der größte Literaturverlag in China, der Volksliteraturverlag in Peking, sofort eine Sammlung(11) von Stefan Zweigs Novellen vorbereitete, die folgende vier Erzählungen und Novellen enthält: "Unsichtbare Sammlung", "Brief einer Unbekannten", "Die Gouvernante" und "Die Schachnovelle", wodurch dem chinesischen Publikum eine neue Welt erschlossen wurde: die Welt des seelischen Lebens und der Liebe. Wie ein Maler aus der Dürerschen Schule versteht Zweig haargenau die seelischen Regungen der Figuren, die in seinen Schriften auftauchen, zu schildern. Er versteht sehr gut, die empfindlichen Saiten der menschlichen Seele durch seine Schilderung zu berühren und Akkorde und Resonanzen zu erwecken.

Manche chinesischen Literaturkritiker der ultralinken Schule verstanden es wunderbar, mit keulenschwingender Kritik ausländische Dichter zu erschlagen. Und eine ihrer bevorzugten Keulen war ja: Der betreffende Schriftsteller sei einer, der im Sinne von l’art pour l’art, Kunst um der Kunst willen, schreibt und nichts Gemeinsames hat mit dem leidenden Volk. Diese Kritik ging an der Erzählung "Unsichtbare Sammlung" vorbei, weil der Verfasser darin ein tiefes Mitleid mit den armen Leuten hatte, die unter der Inflation litten und über Nacht um all ihre Ersparnisse gebracht wurden und im Nu völlig verarmt waren, weil er trotz aller Objektivität doch einen humanistischen Standpunkt wahrte. Zweig ist kein unpolitischer Schriftsteller, kein Anhänger des unpolitischen Ästhetizismus, der sich im Elfenbeinturm einsperrt, nur der Schönheit weihte und nicht darum kümmerte, was um ihn geschehen ist und geschieht.

Besonders warm aufgenommen wurde die Novelle "Brief einer Unbekannten" in dieser Sammlung. Daß diese Novelle als eine Lieblingslektüre begrüßt wurde, ist aus vielen Gründen zu erklären: Jahrelang galt Liebe oder die Liebesthematik in China als ein Tabu. Im Zug des revolutionären Sturms wurden feine Gefühlsregungen wie Liebe, Zuneigung oder Zärtlichkeit als bürgerlich oder dekadent abgestempelt, als ob die Revolutionäre nur eine Art von Gefühlen kennten, nämlich Klassenhaß und Klassenliebe, proletarischen Revolutionselan. Typisch ist, daß während der Kulturrevolution sämtliche Meisterwerke mitsamt allen weniger meisterhaften Werken der chinesischen Literatur und der Weltliteratur verboten und verurteilt wurden, daß acht Stücke der sogenannten modernen revolutionären Peking-Oper, die damals zum Verdruß der Zuschauer immer wieder aufgeführt wurden, ausnahmslos ohne Liebesmotive waren. In der "Roten Signallaterne"(12) finden wir eine revolutionäre Familie von drei Generationen aus drei verschiedenen Familie vor. Die Mutter ist die verwitwete Frau des im Streik gefallenen Meisters von dem Sohn, der aber die Tochter des von der reaktionären Regierung hingerichteten Kameraden als eigene Tochter aufnimmt. Also eine Familie von drei Generationen besteht aus drei völlig fremden, nicht miteinander verwandten Familien, die nur durch proletarische Klassengefühle miteinander verbunden sind. In dem Stück "Mit Taktik den Tigerberg erstürmen"(13) gibt es eine Familie, Vater und Tochter. Bemerkenswert ist dieser Vers in einer Arie der Tochter: In der langen schlaflosen Winternacht dachte Vati an Omi und ich an Mutti". In dem dritten Stück ist die Heldin eine Witwe, und in dem vierten ist die Heldin zwar eine verheiratete Frau, deren Mann aber nie auftauchte, so daß sie ganz allein den revolutionären Kämpfen nachgehen sollte. In dieser scheinheiligen puritanischen Atmosphäre war es ein Verbrechen, daß man sich ineinander verliebte und die Liebe zu besingen glich für den armen Dichter einem Selbstmordversuch. In der ganzen Weltliteratur gab es nur zwei Dichter, die damals als salonfähig galten. Der eine ist der Verfasser der "Internationale", des Kampfhymnus des Weltproletariats, der Franzose Eugène Pottier, und der andere ist der persönliche Freund von Marx und Engels, der Feuilletonredakteur der "Neuen Rheinischen Zeitung", der Deutsche Georg Weerth, dessen Liebeslyrik an erotischer Offenheit und Direktheit auch die Heinesche übertroffen hat. In der chinesischen Auswahl seiner Gedichte, der einzigen Publikation aus der Weltliteratur während der Kulturrevolution, hat man, wie es sich versteht, die Liebesgedichte sorgfältig gestrichen und nur politische Kampflieder präsentiert. Deshalb freute man sich riesig, als man plötzlich eine deutschsprachige Novelle zu lesen bekam - "Brief einer Unbekannten" - eine schöne ergreifende Liebesgeschichte. Aufatmend feierte man die geistige Befreiung, die Befreiung der menschlichen Gefühle. Man fühlte sich von der Heldin der Erzählung angezogen, weil sie in vieler Hinsicht dem Frauenideal der Chinesen entspricht: Ein junges Mädchen, das sich durch die fördernde Wirkung der echten Liebe, durch eine wunderwirkende Zauberkraft, wodurch man sich beflügelt fühlt und Unmögliches möglich macht, von einer mittelmäßigen Schülerin in der Schule in die beste ihrer Klasse verwandelt, ein junges Mädchen, das zu lieben mag, wen sie liebt, bedingungslos, voller Hingabe, ohne Berechnung, ohne selbstsüchtige Absicht, eine junge Frau, die wertvolle Wesenszüge aufweist: Charakterstärke, trotz der körperlichen Zartheit, Selbstlosigkeit und absolute Hingabe in der Liebe, vor allem die außergewöhnliche Selbstachtung und die stoische Willenskraft, womit sie alle Demütigungen wie alle Schicksalsschläge im Leben ertragen hat, was sie veredelt und wodurch sie auch Mitleid und Achtung der chinesischen Leser gewonnen hat, eine Frau, die Zweig mit Achtung schildert, deren Schicksal den alten Meister Gorki zum Weinen gerührt hat.

In seinem Brief vom 18. September 1923 schrieb Maxim Gorki an Stefan Zweig:

[Die Novelle 'Brief einer Unbekannten'] erregte mich bis in die Tiefe meines Herzens durch ihren ergreifend aufrichtigen Ton, durch ihre übermenschliche Zartheit im Verhältnis zur Frau, die Originalität des Themas und durch jene magische Darstellungskraft, die nur dem wahren Künstler eigen ist. Als ich diese Novelle las, lachte ich vor Freude, so schön haben Sie das gemacht! Und ohne jede Scham weinte ich vor Mitleid mit Ihrer Heldin, überwältigt von der Erschütterung, die diese Gestalt und das traurige Lied ihres Herzens hervorgerufen hat.(14)

Voller Anerkennung schrieb Gorki in seinem Vorwort zur russischen Ausgabe der Zweigschen Werke:

Ich kenne keinen Künstler, der mit so viel Achtung und so viel Zärtlichkeit über die Frau zu schreiben vermag. Man hat uns sehr viel von der 'unglücklichen Liebe' erzählt, aber ich entsinne mich keiner Erzählung, die so erfüllt ist von reinem und keuschen Lyrismus wie ,Brief einer Unbekannten' von Zweig.(15)

Ich denke, in den Tagen eines düsteren Chaos der sexuellen Beziehungen, wie wir es heute erleben, werden die ausgezeichneten Bücher Zweigs von großem Nutzen sein. (16)

In dieser Hinsicht stimmen die Chinesen diesem russischen Schriftsteller vollkommen zu, in deren Augen die Liebe etwas Poetisches, Erhabenes, ja sogar etwas Heiliges sein sollte und die Frauen weder Sex-Bomben noch Lust-Objekte für die Männer sein sollten, sondern etwas Göttliches, was man anbeten muß. Daher finden die Chinesen jede direkte, unverhüllte Beschreibung der Geschlechtsliebe abstoßend und vulgär. Die Art und Weise, wie Zweig die Liebe und die Frauengestalten behandelt, entspricht vollkommen dem ästhetischen Geschmack der Chinesen.

Nach der oben erwähnten Sammlung der vier Erzählungen und Novellen erschienen fast gleichzeitig im Jahre 1981 zwei Sammlungen der Meisternovellen von Stefan Zweig, die eine vom Volksliteraturverlag(17) in Peking, und die andere vom Hundertblumenverlag der Stadt Tian Jing.(18) Ein Zeichen dafür, daß ein Zweig-Fieber in China ausgebrochen war.

In der Sammlung "Ausgewählte Novellen und Erzählungen der deutschsprachigen Länder"(19), in die insgesamt 20 Schriftsteller mit 22 Novellen und Erzählungen aufgenommen wurden, war die österreichische Literatur durch drei Wiener Meister vertreten - "Die Toten schweigen" von Schnitzler, "Lucidor" von Hofmannsthal und die "Schachnovelle" von Zweig. Im Vorwort des Herausgebers wurden Schnitzler und Hofmannsthal zum ersten Mal dem chinesischen Leser rehabilitiert vorgestellt:

"Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal sind für die chinesischen Leser völlig unbekannt. Das ist eine Lücke in unserer Literaturvermittlung. Es ist ungerecht, daß man diese Schriftsteller als dekadent verworfen hat, ohne sich mit ihnen auseinandergesetzt zu haben."

Als Höhepunkt der Zweig-Begeisterung in China kam man die Übersetzung des Romans "Ungeduld des Herzens" betrachten. Im Jahre 1981/82 sind mehrere Übersetzer fast gleichzeitig auf die Idee gekommen, des 100. Geburtstages und des 40. Todestages des Dichters durch Übersetzung seines einzigen Romans zu gedenken, der zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde: "Ungeduld des Herzens". Verlage aus vier Provinzen haben nacheinander Übersetzungen dieses Romans herausgegeben. Allein meine eigene im Literatur- und Kunst-Verlag der Provinz Zhejiang lag bei 70.000 Exemplaren, die Auflageziffern der anderen sind auch nicht wesentlich geringer. In wenigen Jahren ist Stefan Zweig von einem Hauptrepräsentanten der Dekadenz, wie die "Kurze Geschichte der deutschen Literatur"(20) bewertet hat, zu einem der Lieblingsdichter der chinesischen Leser geworden.

Was Zweig bei den chinesischen Lesern beliebt machte, ist seine künstlerische Leistung, nicht seine politische Haltung oder sein tragisches Schicksal. In einem Artikel für das "Börsenblatt" erklärte ich: "Interessant ist bei ihm (Stefan Zweig) nicht das Äußere, sondern das Innere eines Menschen". Im Vorwort zur chinesischen Übersetzung des Romans "Ungeduld des Herzens" versuchte ich folgendermaßen einen Wesenszug seiner Kunst darzustellen:

In ‘Ungeduld des Herzens’ setzt er den Wesenszug seiner Meisternovellen wie ‘Brief einer Unbekannten’, ‘Schachnovelle’ und ‘Amok’ fort, indem er im Verzicht auf eine große Palette von Gestalten, einen breiten Hintergrund, eine ganze Reihe von farbenprächtigen, pittoresken Sittenbildern und komplizierten, verwickelten Handlungen, die das Interesse der Leser erregen, mit heftigen, wilden, inneren Kämpfen, seltsamen, unberechenbaren Ebben und Fluten der Gefühle, also mit tiefschürfenden, stürmischen Veränderungen und tiefgehenden scharfen Konflikten in der inneren Welt des Menschen versucht, die Leser zu faszinieren und zu reizen.

Stefan Zweig zeigt uns, wie der Einfluß der äußeren Umgebung die stürmischen Wogen und Brandungen im Herzen des Helden erregt und wie Ebbe und Flut der inneren Welt die Gefühle, Handlungen und seelischen Krisen der Helden beeinflussen, die schließlich zum tragischen Schicksal dieses jungen Paares führte. Die Vernachlässigung des seelischen Lebens hat zwangsläufig die Schwarz-Weiß-Malerei zur Folge, eine Tendenz, die in der chinesischen Literatur eine Zeitlang grassierte. Die Kunst des Erzählers besteht nicht darin, unbedingt einen Engel und einen Teufel zu erfinden. In den Werken von Zweig findet man den Spruch von Goethe bestätigt: ,Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.' Das Dämonische und das Menschliche, ja sogar das Übermenschliche, das Gemeine und das Erhabene existieren in den Figuren von Zweig oft parallel zueinander. Es sind keine eindimensionalen Schatten, sondern lebendige Menschen aus Fleisch und Blut. Kein Wunder, daß man seine Werke als wirksame Heilmittel gegen die Schwarz-Weiß-Malerei betrachtet.

Ein anderer Faktor, der die Werke von Stefan Zweig bei den Chinesen beliebt macht, ist der poetische Hauch, der durch sein Werk geht und vor allem über seinen Frauengestalten schwebt. Das kommt bei chinesischen Lesern gut an, die, durch ihre klassische Literatur und Malerei geschult, immer eine Zuneigung zum Poetischen und Lyrischen haben.(21)

Auch seine Schreibweise, die ihm mit zum Weltruhm verholfen hat, hat dazu beigetragen, daß er sich in China einer immer größer gewordenen Popularität erfreut. In "Die Welt von Gestern" hat er von dem Geheimnis seines Erfolges erzählt:

Letzten Endes glaube ich, stammt er (der Erfolg) von einer persönlichen Untugend her, nämlich, daß ich ein ungeduldiger und temperamentvoller Leser bin. Jede Weitschweifigkeit, alles Schwelgerische und Vage-Schwärmerisehe, alles Undeutliche und Unklare, alles Überflüssig-Retardierende in einem Roman, einer Biographie, einer geistigen Auseinandersetzung irritiert mich. Nur ein Buch, das ständig, Blatt für Blatt, die Höhe hält, und bis zur letzten Seite in einem Zuge atemlos mitreißt, gibt mir einen vollkommenen Genuß. Neun Zehntel aller Bücher, die mir in die Hand geraten, finde ich mit überflüssigen Schilderungen, geschwätzigen Dialogen und unnötigen Nebenfiguren zu sehr in die Breite gedehnt, darum zu wenig spannend, zu wenig dynamisch. Selbst bei den berühmtesten klassischen Meisterwerken stören mich die vielen sandigen und schleppenden Stellen... Diese Abneigung gegen alles Weitschweifige und Langwierige mußte sich notwendigerweise von der Lektüre fremder Werke auf das Schreiben der eigenen übertragen und mich zu einer besonderen Wachsamkeit erziehen.(22)

Im Zuge des Zweig-Fiebers wurden nach und nach auch seine Biographien der historischen Persönlichkeiten ins Chinesische übersetzt, meistens aus dem Englischen, Russischen, sogar aus dem Französischen: Fouché, Marie Antoinette, das Gewissen gegen die Gewalt, Balzac, in denen er uns zeigt, daß man auch anders an die historischen Figuren, die Schriftsteller wie die Politiker herangehen kann, nämlich von der menschlichen Seite, indem man die Figuren seelisch seziert. Es versteht sich, daß solche Werke auf chinesische Dichter und Historiker anregend gewirkt haben und auch weiter wirken werden.

In diesem Jahr wird ein neuer Aufschwung bei der Zweig-Vermittlung bemerkbar, als Nachklang der Gedenkfeier für den Sieg über den Faschismus vor fünfzig Jahren. Eine dreibändige Sammlung der erzählerischen Werke von Zweig(23), in die außer Novellen und Erzählungen auch "Sternstunden der Menschheit" und "Legenden" aufgenommen wurden, ist schon erschienen. Eine andere Auswahl von seinen Erzählungen und Novellen auch in drei Bänden(24), in der außer meiner Übersetzung des Romans "Ungeduld des Herzens" und der Meisternovellen wie "Brief einer Unbekannten", "Amok", "Schachnovelle", "Geschichte in der Dämmerung" auch noch die Übersetzung von dem Roman aus seinem Nachlaß "Rausch der Verwandlung", Übersetzungen von Novellen aus seinem Nachlaß wie "Die spät bezahlte Schuld", "War er es?" und neuen Übersetzungen der früher schon übersetzten Novellen enthalten sind, wird noch in diesem Jahr herausgegeben werden. Andere Verlage sollen noch ähnliche Pläne in diesem Jahr verwirklichen.

Etwas später als Stefan Zweig wurde Arthur Schnitzler nach der Kulturrevolution dem chinesischen Publikum neu präsentiert. Die Erzählung "Der letzte Brief eines Literaten" von Schnitzler wurde 1986 in der "Ausländischen Literatur der Gegenwart"(25) veröffentlicht. Auch ein Band der ausgewählten Erzählungen und Novellen von ihm führt den Titel "Der letzte Brief eines Literaturen".(26) Eine andere Auswahl der Schnitzlerschen Erzählungen und Novellen mit dem Titel "Leutnant Gustl"(27) wurde im Jahre 1991 herausgegeben. Inzwischen erschienen einzelne Erzählungen und Novellen von Schnitzler in verschiedenen Zeitschriften: "Der bittere Wein der Sehnsucht" (Frau Bertha Garlan) (1988)", "Der Tod des Junggesellen" (1988), "Leutnant Gustl" (1989), "Frau des Weisen" (1990), "Schicksal des Freiherrn von Leisenbogh" (1994).

Ein anderer österreichischer Schriftsteller, der in den vergangenen zehn Jahren in China als einer der Hauptrepräsentanten der Literatur der Moderne gefeiert wurde und einen starken Einfluß auf junge chinesische Schriftsteller ausgeübt hat, ist Franz Kafka. Fast alle Werke von ihm wurden schon ins Chinesische übersetzt.

Was die österreichische Lyrik betrifft, so wurden in den vergangenen fünfzehn Jahren viele Dichter der österreichischen Literatur mit Rilke an der Spitze dem chinesischen Publikum durch neue Übersetzungen vorgestellt. In dieser Periode waren die chinesischen Dichter der jüngeren Generation besonders aktiv. Mit der Öffnung des Landes wurden manche Tabus in China gebrochen und die Literatur der Moderne wird nicht mehr als ketzerisch verdammt. Man hat jetzt die Möglichkeit, sich in der Welt umzuschauen und sehr viel von Rilke zu hören. Noch einmal begannen die chinesischen Dichter in den ausländischen Kulturgütern nach "neuen Tönen" zu suchen, um frisches Blut in ihr eigenes Schaffen einzuführen. Da sie, der deutschen Sprache nicht mächtig, die Gedichte von Rilke nicht im Original lesen konnten und auf Übersetzungen angewiesen sind, so sind die Übersetzungen sehr gefragt. In dem "Lexikon der ausländischen lyrischen Gedichte"(28) wird die österreichische Lyrik durch folgende Dichter repräsentiert: Rainer Maria Rilke, Georg Trakl, Paul Celan, Hans Carl Artmann, Ingeborg Bachmann. Bei der Vermittlung der österreichischen Lyrik ist ein namhafter chinesischer Lyriker Lu Yuan hervorgetreten, der ungerechterweise sieben Jahre hinter Gitter verbrachte, unter unglaublich schwierigen Bedingungen die deutsche Sprache erlernte und dann, als er wieder die Freiheit genießen durfte, mit den mühsam erworbenen deutschen Sprachkenntnissen Rilke und andere österreichische Dichter mit einer erstaunlichen Virtuosität ins Chinesische übersetzt hat, aus Liebe zu seinem österreichischen Dichterkollegen und auch angespornt durch den starken Wunsch seiner chinesischen Dichterkollegen jüngerer Generation, Rilke kennenzulernen, den großen österreichischen Dichter, der auch über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus gefeiert wird. Im Jahre 1987 wurde der Gedichtband "Flöten der Nachbarn"(29) mit ausgewählten modernen ausländischen Gedichten herausgegeben, in denen Gedichte aus "Duineser Elegien", "Das Stundenbuch" enthalten sind. Ein Gedichtband(30) mit dem ersten Satz eines Briefes von Rilke an die jungen Dichter betitelt "Gehen sie in sich" präsentiert Gedichte von Rilke, Ingeborg Bachmann, Günther Eich, Gertrud Fusseneger, Christine Busta, Thomas Sessler, Alfred Gesswein, Ernst Schönwiese, Hugo Huppert, Hedwig Katscher, Wilhelm Szabo. In einigen Jahren wurden nacheinander große Gedichtsammlungen herausgegeben, in denen die Rilke-Übersetzungen von Lu Yuan enthalten sind: "Ausgewählte Gedichte der zehn europäischen und amerikanischen modernen Dichterschulen"(31) und die zehnbändige Gedichtsammlung für Gedichte aller Länder mit dem Titel "Bibhoteca mundi poetica"(32).

Wir wollen zum Schluß ein paar Sätze von Thomas Mann über Stefan Zweig zitieren:

Sein (Stefan Zweigs) literarischer Ruhm reichte bis in den letzten Winkel der Erde - ein merkwürdiges Vorkommnis bei der geringen Popularität, deren sonst deutsches Schrifttum im Vergleich mit französischem und englischen sich erfreut. Vielleicht ist seit den Tagen des Erasmus (über den er glänzend gearbeitet hat) kein Schriftsteller mehr so berühmt gewesen wie Stefan Zweig.(33)

Daraus wird ersichtlich, daß die deutschsprachige Literatur im Ausland mit einer heftigen Konkurrenz mit der französischen und englischen Literatur konfrontiert ist. In Wirklichkeit sind die russische, amerikanische, lateinamerikanische und japanische Literatur in China auch sehr konkurrenzfähig. Mit der Entwicklung der chinesischen Germanistik wird sich die deutschsprachige, darunter auch die österreichische Literatur, in China einer immer größeren Popularität bei der chinesischen Leserschaft erfreuen, weil sie Dichter und Schriftsteller wie Stefan Zweig, Franz Kafka und Rainer Maria Rilke besitzt.

Zum Autor


Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr.3/1996. S. 3-10.

home.gif (2030 Byte)buinst.gif (1751 Byte)        Inhalt: Nr. 7


Anmerkungen:

(1) Mao Dun (1896-1981): Künstlername von Shen Yanbin, einer der größten Romanciers der chinesischen Gegenwartsliteratur, Autor von vielen hervorragenden Romanen, darunter "Shanghai im Zwielicht". Auch Literaturtheoretiker und Übersetzer.

(2) Die Vierte-Mai-Bewegung: Im Januar 1919 nahmen die Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges in Paris an der "Friedenskonferenz" teil. China, auch ein Siegerstaat, wollte, daß die Sonderrechte anderer Staaten in China aufgegeben werden sollten und daß Japan China die chinesische Provinz Shandong zurückgeben sollte, die Japan während des Krieges als eine deutsche Kolonie eroberte und besetzt hielt. Aber diese Forderungen wurden abgelehnt, was unter dem chinesischen Volk eine Protestbewegung auslöste. Am 4. Mai demonstrierten daraufhin Studenten in Peking, der empfindlichste und aktivste Teil des Volkes, unter der Parole "Verteidigt die Souveränität, bestraft die Landesverräter!". Aus dieser Studentenbewegung entwickelte sich schließlich ein landesweiter Kampf gegen Imperialismus und Feudalismus. Diese politische Bewegung ist gleichzeitig auch als eine Bewegung für die neue Kultur in die Geschichte eingegangen, wobei man sich bemühte, alle geistigen Überbleibsel des Feudalismus zu verwerfen und geistige Güter aus dem Ausland einzuführen. Der Schwäche des eigenen Landes und der Korruption der eigenen Regierung bewußt suchte die chinesische Intelligenz nach einem Ausweg, um das Land aus allen Demütigungen, die man China aufzwang, zu retten. Die Schriftsteller sahen darin ihre Aufgabe, mit den kulturellen Errungenschaften des Auslandes die eigene Kultur und Literatur zu sanieren und eine neue Kultur und eine neue Literatur zu schaffen.

(3) Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. S. Fischer Verlag, 1981, S. 405.

(4) Xu Chi: Lobgesang auf Rilke. In: Shi Yu Cao Wen Yi (Zeit und Strömung der Literatur und Kunst). März 1943, Heft 1.

(5) Vom Verfasser dieses Artikels rückübersetzt aus dem Chinesischen.

(6) Zhang Yushu: Die Germanistik in China - Vergangenheit und Gegenwart. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Verlag Peter Lang, Jahrgang XVII, Heft 1.

(7) Die Verfasser der "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur" sind Germanisten der Peking Universität: Feng Zhi, Tian Dewang, Zhang Yushu, Li Shu, Sun Fengcheng und Du Wentang. Peking 1959. Volksliteraturverlag.

(8) Kurze Geschichte der deutschen Literatur, a.a.O), S. 332-333.

(9) Gemeint ist die "Kurze Geschichte der deutschen Literatur".

(10) Zhang Yushu: Die Germanistik in China - Vergangenheit und Gegenwart, a.a.O., S.173.

(11) Vier Erzählungen von Stefan Zweig. Herausgegeben und übersetzt von Zhang Yushu. Peking 1979. Volksliteraturverlag.

(12) Titel einer modernen revolutionären Peking-Oper.

(13) Titel einer modernen revolutionären Peking-Oper.

(14) Briefwechsel zwischen Maxim Gorki und Stefan Zweig, Herausgegeben von Kurt Böttcher. Frankfurt am Main 1974, S.41.

(15) Ebenda. Maxim Gorki über Stefan Zweig. Vorwort zur russischen Ausgabe der Erzählungen von Stefan Zweig (1927), S.110.

(16) Ebd., S. 109-110.

(17) Herausgegeben von Zhang Yushu.

(18) Herausgegeben von Gao Zhongfu.

(19) Ausgewählte Novellen und Erzählungen der deutschsprachigen Literatur. Herausgegeben von Zhang Yushu. Peking 1983.

(20) Kurze Geschichte der deutschen Literatur, a.a.O.

(21) Zhang Yushu: Seelenleben - Terra inkognita. Die Akzeptanz von Stefan Zweig in China nach der Kulturrevolution. Börsenblatt, Nr.20 (11.3.1986), S. 705.

(22) Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Stockholm 1949, S. 355.

(23) Novellen und Erzählungen von Zweig. Herausgegeben von Gao Zhongfu. Verlag der Stadt Xi An, Oktober 1995.

(24) Novellen und Erzählungen von Stefan Zweig. Herausgegeben von Zhang Yushu. Yuanfang Verlag der Inneren Mongolei, 1996.

(25) Der letzte Brief eines Literaten. Übersetzt von Zhang Yushu. Ausländische Literatur der Gegenwart. Zeitschrift der Nanking-Universität, 1986, Heft 4.

(26) Der letzte Brief eines Literaten. Ausgewählte Erzählungen und Novellen von Arthur Schnitzler. Herausgegeben von Zhang Yushu. Shanghai 1990. Der Übersetzungsverlag.

(27) Leutnant Gustl. Ausgewählte Erzählungen und Novellen von Arthur Schnitzler. Herausgegeben von Cai Hongjun. Der Literatur und Kunst-Verlag der Provinz An Hui, 1991.

(28) Das Lexikon der ausländischen lyrischen Gedichte. Herausgegeben von Zhang Yushu. Peking 1991.

(29) Flöten der Nachbarn. Herausgegeben von Lu Yuan. Peking 1987. Volksliteraturverlag,

(30) Gehen sie in sich. Herausgegeben und übersetzt von Lu Yuan. Volksverlag der Provinz Hunan, 1988.

(31) Ausgewählte Gedichte der zehn europäischen und amerikanischen modernen Dichterschulen. Herausgegeben von Yuan Kejia. Der Literatur- und Kunst-Verlag von Shanghai, 1991.

(32) Biblioteca mundi poetica. Herausgegeben von Feibai. Guangzhou 1994. Huacheng (Blumenstadt)-Verlag.

(33) Thomas Mann: Stefan Zweig zum zehnten Todestag 1952. In: Der große Europäer Stefan Zweig. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Arens. Fischer Taschenbuchverlag. Frankfurt am Main 1981, S. 87-188.


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