Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juli 2004
 

1.1. Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Anil Bhatti (New Delhi) / Jeroen Dewulf (Porto)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Politik der Differenz oder Politik des Universalismus?
Fragen nach der europäischen Integrität

Andrea Albrecht (Akademie der Wissenschaften, Göttingen)

 

1. Identitätsprüfungen

In seinem Essay "Mörderische Identitäten" aus dem Jahr 1998 prangerte Amin Maalouf die identitätspolitischen Mechanismen unserer Gesellschaft an, die ihm - einem Araber christlichen Glaubens, der sich sowohl dem Libanon als auch Frankreich zugehörig fühlt - immer wieder eindeutige Aussagen zu seiner persönlichen Identität abverlangten. Die hinter diesem Appell zur "Identitätsprüfung" stehende Auffassung treibe die Menschen in eine "parteiische, sektiererische, intolerante, herrische, manchmal selbstmörderische Haltung", klagte er.(1) Das "Wort Identität sei" daher zur Selbstdarstellung eines Kollektivs ein gefährlicher, "ein 'falscher Freund'".(2)

Etwa zur gleichen Zeit diagnostizierte der Historiker Lutz Niethammer aus kulturwissenschaftlicher Perspektive eine irritierende, "unheimliche[] Hochkonjunktur"(3) des "Plastikworts"(4) Identität und beklagte ganz im Sinne Maaloufs das "semantische Gefahrenpotential" dieses "neuen Modeworts":(5) Da Identitätskonzepte, sobald sie auf Kollektive übertragen würden, unkontrollierbare politische Folgen für die identifizierten Individuen und Kollektive zeitigen könnten, plädierte er für einen generellen Begriffsverzicht,(6) ohne allerdings - wie Hans-Ulrich Wehler in seiner Rezension bemerkte - überzeugende begriffliche Alternativen anzubieten.

Der "unheimlichen Hochkonjunktur" hat weder Maaloufs Protest noch Niethammers engagierter Appell Einhalt gebieten können. Die Passepartout-Vokabel Identität erfreut sich weiterhin größter Beliebtheit, in letzter Zeit besonders ausgeprägt im Zusammenhang politisch-kultureller Gemeinschaftsbildungen wie der europäischen Integration. Die aktuellste und politisch nicht ohne Wirkung gebliebene Variante einer Identitätsbestimmung Europas stammt aus der Feder von Jacques Derrida und Jürgen Habermas. Im Rahmen einer Initiative europäischer Intellektueller nahmen sie Ende Mai 2003 die aus europäischer Sicht desolate politische Situation zum Anlass, eine "Wiedergeburt Europas" anzumahnen und dazu erneut nach der "europäischen Identität"(7) zu fragen - erneut, weil beide bereits anlässlich des Endes des Kalten Krieges Überlegungen zur Identität Europas angestellt hatten.

 

2. Die Selbstbesinnung Europas

Werfen wir zunächst einen kurzen Blick zurück auf Derridas Europa-Essay "Das andere Kap" aus dem Jahr 1990. Identität, genauer: die "kulturelle Identität Europas"(8) gilt auch hier schon als problematischer Begriff. Zum einen seien "im Namen der [europäischen, A.A.] Identität [...] die schlimmsten Gewalttätigkeiten" verübt worden. Derrida nennt "Ausländerfeindlichkeit", "Rassismus", "Antisemitismus", "religiösen und nationalistischen Fanatismus",(9) also die auch von Maalouf und Niethammer angeprangerten Implikationen einer auf Einheit und Homogenität setzenden kollektiven Identitätspolitik.

Zum anderen ist Europa nach Derridas Einschätzung im Zuge der weltpolitischen Umwälzungen, die durch die Wende von 1989 markiert werden, an die Grenze seiner diskursiven identifikatorischen "Selbstvergegenwärtigung" gestoßen. Die Frage nach der europäischen Identität sei daher ein überkommenes, "verbrauchte[s]" und "erschöpfte[s] Thema",(10) ein Thema des "alten Europa",(11) das nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr wisse, "was oder wer" überhaupt noch Europa heißen soll.(12)

Doch gerade weil das "alte Europa [...] alle Möglichkeiten [...], Diskurse und Gegen-Diskurse über seine eigene Identifikation hervorzubringen",(13) erschöpft habe, nimmt Derrida die "Wende" zum Anlass einer erneuten europäischen "Selbstbesinnung".(14) Die Wende habe "die Grenzen und die Umrisse", "das Ende und de[n] äußerste[n] Rand" Europas sichtbar werden lassen.(15) Sie stelle das Allgemeine und Universelle, für das die europäische Identität stehe, in Frage, eröffne aber zugleich die Chance, das eschaton, die Verbindlichkeit, die Europa der Welt und sich selbst gegenüber eingegangen sei, angesichts der Erfahrung der eigenen Begrenztheit ins Bewusstsein zu rufen. Es sei "Pflicht", "in Erinnerung zu bringen" und "erneut zu identifizieren, was sich unter dem Namen Europa als Versprechen" sich und anderen gegenüber "ankündigte",(16) heißt es in diesem Sinne programmatisch.

Halten sich diese Bestimmungen aber überhaupt noch im Rahmen des klassischen Identitätsdiskurses? "Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist", heißt es im gleichen Atemzug bei Derrida. "Es gibt keine Kultur, und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst".(17) Derrida dekonstruiert also eine Identitätsvorstellung, indem er statt auf Homogenität, Einheit, Kongruenz und Konsistenz auf Heterogenität, Vielheit, Divergenz und Inkonsistenz als Bedingung der Möglichkeit von Identifikation setzt. Unter der Hand sehen wir damit aber auch den Diskursrahmen ausgetauscht. Durch die Verwendung der Begriffe Versprechen, Verantwortung und Pflicht wechselt Derrida zu einem ethisch-politischen Diskurs über, den ich hier und im Folgenden als Integritätsdiskurs bezeichnen und dem Identitätsdiskurs gegenüberstellen möchte.

Während der Identitätsdiskurs primär darauf zielt, durch Exklusion und Inklusion die Grenzen eines Kollektivs zu bestimmen und eine das Kollektiv und die ihm zugehörigen Mitglieder identifizierende Merkmalsmenge anzugeben, lenkt der Integritätsdiskurs den Blick auf den Zusammenhalt, die moralische Glaubwürdigkeit und politische Handlungsfähigkeit eines Kollektivs, selbst wenn dieses sich nicht als homogen, sondern als different und hybrid erweist und gerade als solches von seinen Mitgliedern wie von anderen Kollektiven anerkannt werden soll. Eine Verhältnisbestimmung von Identität und Integrität könnte - und dieser Hypothese geht dieser Beitrag nach - den festgefahrenen Identitätsdiskurs aufbrechen oder zumindest in ein anderes Licht rücken.

Nach Derridas Modellierung stehen Identität und Integrität Europas in einem komplizierten Wechselverhältnis. "Auf der einen Seite" müsse Europa den "Wert des Beispielhaften" für die Welt behaupten und verteidigen.(18) Es könne und dürfe seine Identität deshalb "nicht einer Zerstreuung überantworten, die eine Unzahl nichtiger Provinzen" oder "kleinlicher Nationalismen" hervorbringen würde. "Auf der anderen Seite" könne und dürfe die europäische Identität "nicht die Kapitale einer vereinheitlichenden Autorität hinnehmen" oder selbst darstellen, "die [...] Kontrolle ausübt und Gleichförmigkeit herstellt."(19) Es würde dann gerade nicht seine "Beispielhaftigkeit" behaupten, sondern zum Zweck der Behauptung von ihr abfallen.

Identitätstheoretisch gesehen befindet sich Europa also in einer Aporie. Setzt es im herkömmlichen Sinne auf Identität, neigt es zur Homogenisierung und Hegemonialisierung, verliert also seine politische und moralische Integrität. Zerstreut es sich und verzichtet somit auf eine identifikatorische Einheitsbildung, kann es seiner Pflicht, in seiner Singularität beispielhaft zu sein, nicht nachkommen, verliert also ebenfalls seine politische und moralische Integrität. Die Lösung dieser Aporie präsentiert uns Derrida in Gestalt einer Aufgabenstellung: Durch das bewusste Aushalten und die bewusste Anerkennung der herausgestellten aporetischen Spannung könne Europa seine kollektive Integrität im Sinne eines souveränen, moralisch vertretbaren Selbstentwurfs behaupten. Dazu müsse Europa a) seiner universalistischen Tradition folgen (d.h. den demokratischen Rechtsstaat weiter ausbauen), sich b) über die Risiken der Universalisierung und Verrechtlichung Rechenschaft ablegen und sich c) den Anforderungen der kulturellen Differenzierung stellen. An den von Derrida konkret ins Auge gefassten "politisch-institutionelle[n] Gesten, Diskurse[n] und Praktiken", die in allen Bereichen der Kultur, im Recht ebenso wie in der Moral, der Politik, der Kunst, der Wissenschaft und der Religion, etabliert werden sollen, wäre das Projekt näher auszuführen.(20)

 

3. Integrität als Anerkennungsverhältnis

Verweilen wir, bevor wir zu der aktuellen Europa-Debatte zurückkehren, noch einen Augenblick bei dem ins Spiel gebrachten, von Derrida selbst nicht verwendeten "Integritäts"-Begriff. Ohne dass man bislang von einer deutlich konturierten Debatte sprechen könnte, erfreut sich der Terminus seit dem Ende des Kalten Krieges in der sozialwissenschaftlichen, moral- und rechtsphilosophischen Theoriebildung zunehmender Attraktivität.(21) Im Zentrum der Überlegungen stehen wie bei der Identitätstheorie am Individuum orientierte Ansätze, die erst in einem zweiten Schritt auf Kollektive übertragen werden.

Die Integrität einer Person wird nach dem analytischen Problemaufriss Axel Honneths durch die intersubjektive Anerkennung der physischen, rechtlichen und kulturellen Unversehrtheit der Person bestimmt. Den drei Integritätsbestimmungen entsprechen drei systematisch unterscheidbare "Interaktionssphären",(22) in denen sich Anerkennungsverhältnisse aushandeln lassen: "auf dem Weg emotionaler Bindungen, der Zuerkennung von Rechten" und "der gemeinsamen Orientierung an Werten".(23) Im Rückgriff auf Hegel und Georg Herbert Mead kann Honneth so drei Formen der Integritätsverletzung unterscheiden: die Missachtung der leiblichen Integrität durch körperliche Gewalt, die Missachtung des normativen Selbstverständnisses durch strukturellen Ausschluss aus dem Rechtsverband und schließlich die "Herabwürdigung von individuellen oder kollektiven Lebensweisen".(24) Nach Maßgabe der hinter diesem Konzept stehenden Gesellschaftstheorie gewährleisten intersubjektive Anerkennungsverhältnisse, seien sie nun auf individueller oder gesellschaftlich-institutioneller Ebene realisiert, die persönliche Integrität des Individuums. Sie stellen - formuliert man die Honneth'sche Theorie transzendentalphilosophisch - Bedingungen der Möglichkeit für die persönliche Integrität dar.

Persönliche Integrität ist somit ein relationales Konzept, das zum Konzept persönlicher Identität in einem Wechselverhältnis steht: Einerseits ist Integrität eine Voraussetzung für die Ausbildung eines identitären Selbstbildes. Im "Kampf um Anerkennung", d. h. im Zuge der Integritätsbewährung, kann sich ein propositionales "Wissen um" die eigene Identität(25) herausbilden, das es im Individuationsprozess(26) zu steigern und auszugestalten gilt. Integritätsverletzungen können Individuen in dem "positiven Verständnis ihrer selbst" beeinträchtigen und im Extremfall ihre "Identität [...] zum Einsturz bringen".(27) Andererseits ist keine Anerkennung ohne Identifikation möglich, Identifizierbarkeit also eine Voraussetzung für Integrität. Die im "Kampf um Anerkennung" erfolgende Abgleichung von Integritätsstandards nimmt ihren Ausgang in der Regel bei einem Identifikationsprozess. So bildet oftmals die Zuschreibung eines identitätsstiftenden Merkmals, sei es in- oder exkludierend, in auf- oder abwertender Absicht, erst den Anlass für den emanzipatorischen Kampf um die Anerkennung individueller Unterschiedenheit.

Alternativ zum gängigen Identitätsmodell - und zwar unabhängig davon, ob man in klassischer Manier an einem homogenen und konsistenten Identitätsbegriff festhält oder aber, wie z.B. Anthony Giddens oder Stuart Hall, ein komplexes, flexibles und plurales Identitätskonzept zugrundelegt(28) - beschäftigen sich Integritätsmodelle nicht mit den Inhalten oder der Merkmalsmenge der im Anerkennungskampf harmonierenden oder konfligierenden Identitätsdefinitionen, sondern versuchen die Bedingungen zu klären, unter denen Individuen innerhalb eines Kollektivs oder innerhalb mehrerer Kollektive eine integere, und das heißt: verträgliche Identität ausbilden können, um in ihrer Verschiedenheit wie in ihrer Gleichheit anerkannt zu werden, als moralisch zurechenbar zu gelten und souverän handeln zu können. Der Fokus des Integritätsdiskurses richtet sich daher nicht auf die Identifikations-, sondern zum einen auf die Integrations- bzw. Desintegrationsprozesse und zum anderen auf die Emanzipations- bzw. Diskriminierungsprozesse, die eine Gesellschaft prägen und ihren Wandel kennzeichnen.

 

4. Kollektive Integrität

Das für unsere Fragestellung zentrale Problem steckt in der Übertragung des ausdrücklich individualistischen Modells auf Kollektive. Lässt sich von 'kollektiver Integrität', von der Integrität einer Gruppe überhaupt sinnvoll sprechen?

Relativ einfach nimmt sich die Frage im völkerrechtlichen Sinne aus. Souveräne Kollektive werden hinsichtlich ihrer territorialen, rechtlichen und kulturellen Hoheit durch das Völkerrecht anerkannt und sind somit (zumindest rechtstheoretisch) gegenüber Integritätsverletzungen von außen, also gegenüber Verletzungen durch andere Kollektive, geschützt. Wie aber sieht es mit der Integrität von Kollektiven gegenüber ihren Trägern oder Mitgliedern und wie mit der Integrität von Trägern und Mitgliedern gegenüber den Kollektiven aus? Die nationalstaatlichen Grenzen eines Kollektivs decken sich in der Regel nicht mit den politischen, ökonomischen, religiösen oder kulturellen Grenzen, sodass Individuen sowohl innerhalb des eigenen Kollektivs besondere Gruppenbildungen betreiben als auch außerhalb des eigenen Kollektivs Allianzen bilden können.

Für den Liberalismus Habermas'scher Prägung ist klar, dass sich rechtsstaatliche Integritätsstandards nur für Individuen formulieren lassen. Die "individualistisch angelegte Theorie der Rechte" soll aber dennoch auch "jenen Kämpfen um Anerkennung gerecht" werden, "in denen es [...] um die Artikulation und Behauptung kollektiver Identitäten" geht.(29) Die Gewährleistung individueller Grundrechte stimuliert nach Habermas "Selbstverständigungsdiskurse"(30) der Individuen wie der Kollektive und ermöglicht auf diese Weise Gemeinschafts- und Gruppenbildungen. Universell gültige, rechtsstaatlich gewährleistete Integritätsstandards haben dafür einzustehen, dass die Teilhabe an solchen Diskursen friedlich verläuft und universell gewährleistet wird, also Frauen ebenso mitsprechen können wie Männer, Ausländer ebenso wie Inländer, Vertreter von Minderheiten ebenso wie Vertreter von Mehrheiten etc. Über eine rechtlich institutionalisierte universelle Chancengleichheit der demokratischen Partizipation sei zu erreichen, dass die definierenden Wertsetzungen den Bedürfnissen des Kollektivs wie der Individuen angepasst und ausgehandelt(31) oder aber, im Falle unlösbarer Konflikte, "durch Ritualisierung auf Dauer gestellt und zur Quelle von innovativen Energien" gemacht werden.(32) Ein weiterführendes Integritätskonzept für Kollektive benötige man nicht.

Kontrovers diskutiert wurde dieser universalistische, liberale Ansatz im Rahmen des sogenannten Kommunitarismusstreits der 1990er Jahre. In seinem vieldiskutierten Essay zur Politik der Anerkennung plädierte Charles Taylor(33) für den rechtsstaatlich zu gewährenden "Schutz der Integrität der Lebensformen und Traditionen, in denen sich Angehörige diskriminierter Gruppen wiedererkennen können."(34) Der Rechtsstaat habe, so Taylor, dafür Sorge zu tragen, dass die kollektive Integrität bestimmter Gruppen vor den Ansprüchen einzelner Individuen sowie vor den Ansprüchen anderer Kollektive geschützt werde, sobald diese Ansprüche die distinkte Besonderheit eines Kollektivs in ihrer Existenz gefährden. Nach kommunitaristischer Auffassung hat man im Fall einer Kollision von individuellen und kollektiven Anerkennungsansprüchen die kollektiven Ansprüche unter Umständen über die Ansprüche des Individuums zu stellen, die Integrität der Gemeinschaft stünde also in bestimmten Fällen über der Integrität der Person.

Liberalisten, die wie John Rawls oder Jürgen Habermas dieser kommunitaristischen Auffassung widersprechen und die Integrität der Gruppe der Integrität des Individuums grundsätzlich unterordnen wollen, verkennen nach Taylor, dass der liberale, individualistische Universalismus eine "Spiegelung[] ganz bestimmter, besonderer Kulturen" des säkularisierten, westlichen Abendlandes und damit ein "Partikularismus unter der Maske des Universellen" sei.(35) Der formalrechtliche Universalismus der Grundrechte ebne unter Berufung auf das Konstrukt eines freien und autonomen, von der Gruppe unabhängigen Individuums die von der Gruppe getragenen differenziellen Unterschiede ein. Der "Politik des Universalismus",(36) die sich um die "differenz-blinde",(37) gleichförmige Anerkennung universeller Rechte jedes Individuums kümmere, sei eine "Politik der Differenz"(38) an die Seite zu stellen, die den Fortbestand der Unterschiedenheit und in diesem Sinne die Integrität bestimmter Kollektive (Familien, Glaubensgemeinschaften, ethnische oder kulturelle Minderheiten etc.) sichere.(39)

Wir müssen hier den Details des Kommunitarismus-Liberalismus-Streits nicht weiter nachgehen. Zur Abwägung der Positionen sei nur noch bemerkt, dass Liberalisten wie Kommunitaristen eine rechtsstaatlich und demokratisch organisierte Gesellschaft voraussetzen, sich die Forderung nach Integritätsstandards für Individuen wie für Kollektive also nicht ohne weiteres generalisieren lässt. Festzuhalten bleibt aber, dass offensichtlich auch innerhalb dieser Debatte im Namen individueller bzw. kollektiver Integrität differenzialistische und universalistische Bestimmungen in ein komplexes Wechselverhältnis geraten, das man wie Derrida als auszutragende Aporie kennzeichnen, wie Taylor zugunsten des Differenziellen oder wie Habermas zugunsten des Universellen akzentuieren kann. Die Integrität eines Kollektivs kann demnach nicht nur von außen, sondern auch von innen in Frage gestellt werden. So wie ein Individuum sich selbst bilden und seine Besonderheit intersubjektiv zur Anerkennung bringen kann, kann sich auch ein Kollektiv zu einem Ganzen bilden und sich intersubjektiv oder über autorisierte Regelungsinstanzen zur Anerkennung bringen - sowohl gegenüber anderen Kollektiven als auch gegenüber seinen Mitgliedern und den Mitgliedern anderer Kollektive. Kommt es dabei zu keiner angemessenen Verhältnisbestimmung von Differenzialität und Universalität, verliert das Kollektiv seine Integrität: Es kann seinen Zusammenhalt, seine moralische Glaubwürdigkeit und seine politische Handlungsfähigkeit ebenso einbüßen wie die Anerkennung durch seine Mitglieder oder durch andere Kollektive und deren Mitglieder. Die Wahrung oder Behauptung kollektiver Integrität ist an Auflagen geknüpft, die innerhalb der Wechselbeziehung zwischen Kollektiven einerseits, integrierten Individuen und Kollektiven sowie anderen Individuen und Kollektiven andererseits ausgehandelt werden müssen. Die Anerkennung der Integrität des individuell oder kollektiv gesetzten Anderen, Differenten scheint dabei eine zentrale Bedingung für die Bewährung kollektiver Integrität zu sein.

 

5. Die Integrität Europas

Was bedeutet dies nun für die Frage nach der europäischen Identität, insbesondere angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Situation? Die Bewährung der bisher vor allem im Westen und für den Westen geführten Integritäts-Debatte steht nicht zuletzt im Hinblick auf andere Regionen und Kulturen noch aus. Dennoch lässt sich nach der (funktionalen) Integrität Europas in seinem Verhältnis zu integrierten (und noch zu integrierenden) Kollektiven wie zu nicht-integrierten, also nicht-europäischen Kulturen fragen.

Im Rekurs auf die "Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften", auf das "gemeinsame politische Schicksal und die überzeugende Perspektive einer gemeinsamen Zukunft" plädieren Jürgen Habermas und Jacques Derrida in ihrem Essay "Die Wiedergeburt Europas" für die Besinnung auf ein Europa, das als "'Vision' für ein künftiges Europa"(40) dienen kann. Europa wird als politisches Konstrukt definiert, das sich zu einer Reihe von Prinzipien bekennt. Darunter fallen "Säkularisierung", eine Privilegierung des Staates vor dem Markt und der "Solidarität vor der Leistung", die "Technikskepsis", das "Bewußtsein für die Paradoxien des Fortschritts", die "Abkehr vom Recht des Stärkeren" und schließlich die "Friedensorientierung aufgrund geschichtlicher Verlusterfahrungen".(41)

Einerseits versammeln diese Bestimmungen brauchbares Allgemeingut, was auch Habermas und Derrida bemerken,(42) andererseits handelt es sich um Grundsätze, die - geprägt durch spezielle Erfahrungen - schon in Europa nicht unmittelbar auf alle integrierten Kollektive übertragbar sind. Das Gemeinschaftsplädoyer hat daher auch kritische Repliken provoziert und eine noch anhaltende Diskussion ausgelöst, die diese Setzung kollektiver europäischer Identität in zweierlei Hinsicht problematisiert. Zum einen bezögen - so ein verbreiteter Vorwurf - Habermas und Derrida das identifikatorische Potenzial aus einer Dichotomisierung von Europa und den USA: Europa solle sich als das Andere der Vereinigten Staaten, als alter ego der einzig verbliebenen Weltmacht begreifen. Lässt sich der enge Zusammenhang der beiden Gesellschaften und ihrer Staaten aber durch eine polarisierende Grenzziehung dieser Art beiseite schaffen? "Wir [Europäer] sind derart verflochten mit Amerika, daß eine Scheidung ein Ding der Unmöglichkeit ist", heißt es aus mitteleuropäischer, ungarischer Sicht bei György Konrád. Zum anderen drohe die Vorstellung eines "Kerneuropa", nämlich einer von Frankreich, Deutschland und den Benelux-Staaten repräsentierten europäischen Avantgarde, die im Innern der europäischen Gemeinschaft verlaufenden Bruchlinien zu vertiefen. Wie soll sich etwa Großbritannien als Verbindungsglied zwischen Europa und den USA mit einem latenten oder auch aktuellen Anti-Amerikanismus anfreunden können, nachdem es gerade erst durch die transatlantische Bindung sein Gewicht gegenüber Kontinentaleuropa neu austariert hat? Entsprechendes zeigt sich im Feld der ehemaligen Ostblockstaaten. Als einen "eigenartig naive[n] Gedanke[n]" disqualifiziert Konrád die Vorstellung, "die Osteuropäer würden Rußland und China mehr vertrauen als den Amerikanern."(43)

Tatsächlich legt das im Essay propagierte Identitätskonzept die Reduktion Europas auf ein "Kleineuropa"(44) und damit eine zu eng gefasste homogene und selektive Europavorstellung nahe, wie es - nicht weniger exklusiv - mit entsprechender Schärfe in dem Debattenbeitrag von Hans-Ulrich Wehler assoziiert wird: Europa habe sich als "distinkte[] Einheit" auf das gemeinsame "Erbe der israelitischen, griechischen und römischen Antike" zu berufen, seine "Kulturgrenzen" gegenüber dem orthodoxen Christentum und dem Islam aber mit Entschiedenheit zu konturieren und "gegen die Zumutung ständiger Aufweichung" zu verteidigen.(45)

Impliziert aber die Vorstellung eines "Kerneuropa" notwendig den Mechanismus von Inklusion und Exklusion? Eine Europavorstellung, die wie die Wehler'sche eine strikte Scheidung von europakompatiblen und "nicht europakompatiblen Staaten"(46) anstrebt, kollidiert mit Habermas' und Derridas Votum für eine postnationale europäische Konstellation, weil erstere nach Maßgabe des Identitätsdiskurses auf eine Dichotomisierung zielt, Habermas und Derrida hingegen nach Maßgabe des Integritätsdiskurses auf eine Dichotomisierung reagieren. Europäische Postnationalität sollte jedenfalls mehr bedeuten als den Übergang zu einer wiederum exklusiven europäischen Gemeinschaftsidentität.

Was hätte man durch die Bestimmung der kulturellen Identität Europas gewonnen, wenn das daraus resultierende kulturelle Gebilde weder widerständige Elemente zu integrieren und zu einem Ganzen zu verbinden vermag, noch den berechtigten Anspruch auf eine moralisch, politisch oder kulturell verbürgte Anerkennung sowohl durch seine Mitglieder als auch durch nicht-europäische Kulturen erheben kann? Solange die dekretierte europäische Identität als oktroyiert erfahren wird, wird diese kaum zu einem integeren europäischen Selbstverständnis führen.

Fragt man dagegen nach der Integrität statt nach der Identität Europas, lassen sich die Frageakzente verschieben: Zielpunkt ist dann nicht mehr die Nivellierung interner Differenzen, um einen möglichst homogenen, von innen und außen bequem identifizierbaren Zusammenschluss zu begründen. Zum Zielpunkt rückt stattdessen die Etablierung von Verfahren auf, die einen Zusammenhalt zwischen differenten europäischen und differenten nicht-europäischen Partikularismen, Zugehörigkeiten und Identitäten herzustellen vermögen. Der Fokus ist dann sowohl auf das Zentrum Europas als auch auf die Peripherie zu richten, weniger auf seine identitäre als auf seine hybride Zusammensetzung, weil in der hybriden Zusammensetzung der Grenzbereiche wie der Kernbereiche das integrative Potenzial europäischer Zugehörigkeiten nach außen wie nach innen liegt.

Mit guten Gründen kann man daher fragen, wie Adolf Muschg dies unlängst getan hat, ob für das europäische Projekt "Identität nicht das falsche Wort"(47) ist und man sich demzufolge von diesem "Phantasiegebilde" nicht besser ganz verabschieden sollte?(48) Die literarischen Phantasien haben sich jedenfalls längst auf den Weg zu einer integritätsorientierten Dekonstruktion kollektiver Identitätsvorstellungen gemacht, so der eingangs zitierte Amin Maalouf, so aber auch der Spanier Juan Goytisolo. Letzterer bietet in seinen Texten der 1960er und 70er Jahre die Integrität eines diskriminierten Einzelnen gegen den "ideologische[n] Monolithismus",(49) die "kulturellen Blockaden" und die "Insichversunkenheit" der spanischen Kultur(50) auf, und zwar im Anschluss an eine skeptische Beobachtung Américo Castros, die man ebenso gut für Europa formulieren könnte:

"Das einzige, was den Spanier beunruhigte, war die Befürchtung, ins Zentrum oder in die Wurzel seines Wesens seien andersartige Elemente eingeflossen, die seine Integrität verändern könnten."(51)

Da, in den Worten Juan Goytisolos, Kultur "die Summe der Einflüsse von außen" ist, und daher "heute nicht ausschließlich spanisch oder französisch oder deutsch [...], nicht einmal europäisch" sein kann, "sondern allein mestizisch, ein Bastard, befruchtet von" anderen "Kulturen",(52)

stellt die Verhältnisbestimmung zu differenten Elementen für ein Kollektiv die entscheidende Möglichkeit dar, seine Integrität gegenüber seinen Mitgliedern und anderen Kollektiven unter Beweis zu stellen.

© Andrea Albrecht (Akademie der Wissenschaften, Göttingen)


ANMERKUNGEN

(1) Amin Maalouf, Mörderische Identitäten, übers. v. Christian Hansen, Frankfurt am Main 2000, S. 31.

(2) Ebd., S. 33.

(3) Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Hochkonjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000.

(4) Ebd., S. 9ff.

(5) So Hans-Ulrich Wehler in seiner Rezension: Identität: Unheimliche Hochkonjunktur eines 'Plastikworts', in: Hans-Ulrich Wehler, Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays, München 2003, S. 147ff.

(6) Niethammer, Kollektive Identität, S. 627ff.

(7) Jürgen Habermas, Jacques Derrida, Die Wiedergeburt Europas. Plädoyer für eine gemeinsame Außenpolitik - zunächst in Kerneuropa, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Juli 2003, S. 877-881 (erstmals erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Pariser Libération, 31. Mai 2003), hier: S. 879.

(8) Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. v. Alexander Garcia Düttmann, Frankfurt am Main 1992, S. 19.

(9) Ebd., S. 10.

(10) Ebd., S. 10.

(11) Ebd., S. 11.

(12) Ebd., S. 9. Auch Niethammer (Kollektive Identität, S. 16) liest die Suche nach einer europäischen Identität als Ausdruck von "Ungewißheit und Unruhe".

(13) Derrida, Das andere Kap, S. 24.

(14) Ebd., S. 27.

(15) Ebd., S. 27.

(16) Ebd., S. 56.

(17) Ebd., S. 12.

(18) Ebd., S. 53; vgl. auch S. 22.

(19) Ebd., S. 31f.

(20) Ebd., S. 35.

(21) Vgl. u.a.: Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1994; Jürgen Habermas, Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat, in: Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1999, S. 237-276; Charles Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie. Aufsätze zur politischen Philosophie, übers. v. Klaus Nellen u.a., Frankfurt am Main 2002; Damian Cox, Marguerite La Caze, Michael Levine, "Integrity", in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2001 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL: <http://plato.stanford.edu/archives/sum2001/entries/integrity/>

(22) Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 152. Vgl. auch Axel Honneth, Integrität und Mißachtung, in: Merkur, 44. Jg. (1990), Nr. 501, S. 1043-1054.

(23) Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 152.

(24) Honneth, Integrität und Mißachtung, S. 1045ff.

(25) Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 42.

(26) Honneth (Kampf um Anerkennung, S. 33) spricht von einem "Anwachsen von Individualität".

(27) Ebd., S. 212f.

(28) Vgl. den instruktiven Überblick von Andreas Reckwitz, Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik, in: Werner Rammert, Gunther Knauthe, Klaus Buchenau, Florian Althöner (Hg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig 2001, S. 21-38.

(29) Habermas, Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat, S. 237.

(30) Ebd., S. 254.

(31) Ebd., S. 251.

(32) Jürgen Habermas, Braucht Europa eine Verfassung?, in: Jürgen Habermas, Zeitdiagnosen. Zwölf Essay 1980-2001, Frankfurt am Main 2003, S. 224-262, hier: S. 243.

(33) Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, übers. v. Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 1993.

(34) So formuliert in Habermas' Rekonstruktion: Habermas, Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat, S. 240.

(35) Taylor, Multikulturalismus, S. 34f.

(36) Ebd., S. 52f.

(37) Ebd., S. 34.

(38) Ebd., S. 28.

(39) Ebd., S. 59.

(40) Habermas, Derrida, Die Wiedergeburt Europas, S. 879.

(41) So die Zusammenfassung der Position: Europäische Identität und universalistisches Handeln. Nachfragen an Jürgen Habermas, in: Blättern für deutsche und internationale Politik, 7 (2003), S. 801-806, hier: S. 802.

(42) Habermas, Derrida, Die Wiedergeburt Europas, S. 879.

(43) György Konrád, Groß oder klein?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Juli 2003.

(44) Habermas, Derrida, Die Wiedergeburt Europas, S. 878. Vgl. dazu Konrád, Groß oder klein?: "Das Gerede von Kerneuropa und europäischen Achsen verbreitet in Mitteleuropa nur Schrecken." Und: "Klein-Europa ist die Strategie der Desintegration."

(45) Hans-Ulrich Wehler, Laßt Amerika stark sein!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Juni 2003.

(46) Ebd.

(47) Berlin als Frontstadt der Kultur. Ein Gespräch mit Adolf Muschg, Neue Zürcher Zeitung, 12./13. Juli 2003.

(48) So Christof Hamann, Cornelia Sieber (Hg.), Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur, Hildesheim, Zürich, New York 2002, S. 104, in Bezug auf kollektive Identitätskonzepte im postkolonialen Zeitalter.

(49) Juan Goytisolo, Dissidenten, übers. v. Joachim A. Frank, Frankfurt am Main 1984, S. 248.

(50) Ebd., S. 249.

(51) Américo Castro, zit. n. Juan Goytisolo, Spanien und die Spanier (1969), übers. v. Fritz Vogelgsang, Frankfurt am Main 1982, S. 36.

(52) Juan Goytisolo, Der Wald der Literatur. Wider den kulturellen Ethnozentrismus, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 13, 1995 (Edition Text und Kritik, hrsg. v. Claus-Dieter Krohn u.a.), S. 11-15, hier: S. 12.


1.1. Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen

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