Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs

Was Kulturen verbindet - und trennt

Elfriede Maria Bonet (Wien)

 

Zusammenfassung: Wer über Verbindendes spricht, hat - im selben Ausmaß - das Trennende im Sinn. Und so ist es unumgänglich, in Überlegungen zum "Verbindenden der Kulturen" das "Trennende der Kulturen" in (kognitiven) Augenschein zu nehmen, die Thematik dahingehend auszuweiten. Denn Lösungen, so die Vermutung, sind nur auf Basis der Kenntnis sowohl des Verbindenden als auch des Trennenden zu finden. - Die Problematik, die zu einer Trennung der Kulturen und zu Konflikten zwischen ihnen führt, liegt, so der Ansatz, in dem begründet, was "Werte" genannt wird: Als oberster Wert jeder (Hoch-)Kultur gilt "das Gute", verschwistert mit seinem Gegenpart, "dem Bösen". Hier gibt es Übereinstimmung. Als (abstrakte) Begriffe aber sind "das Gute" und "das Böse" zunächst leer und müssen mit (konkreten) Inhalten gefüllt werden. Die (Aus-)Wahl dieser Konkreta aber entspricht der jeweils vorgestellten aktuellen Situation, in der eine bestimmte Kultur sich befindet - plus ein Quentchen Wunsch, wie und wohin sie sich verändern möchte.

 

Die Struktur

Im Mittelpunkt des Interesses steht der Begriff "Kultur" - in seiner (Trag-)Weite ebenso umfassend wie unklar. Definitionen, wie etwa jene von Edward B. Tylor, einem der Väter der Kulturanthropologie, helfen hier nicht viel weiter. Dieser versteht unter "Kultur"

jenes komplexe Ganze, das die Formen des Wissens, die Glaubensüberzeugungen, die Moral, die Sitten, das Recht, die Kunst und jedwelche andere Fähigkeit oder Gewohnheit umfaßt, die der Mensch als Mitglied einer Gesellschaft erworben hat (zit. n. De Marchi 1988: 21).

Was hier fehlt, ist die Aufweisung der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Elementen.

Sicherlich ließe sich hier Gemeinsames finden, und auch Unterschiedliches. Aber: Gemeinsamesist nicht notwendigerweiseVerbindendesund Verschiedenes nicht zugleich auch Trennendes. Um feststellen zu können, ob und wie Gemeinsames zu Verbindendem wird oder werden kann und Verschiedenes zu Trennendem gerät, ist eine andere Zugangsweise erforderlich, muß der summative Kulturbegriff durch einen strukturalen ergänzt werden.

Denn: Ob Semiotik oder Strukturalismus, es hat sich eine Verfahrensweise bewährt, die den Phänomenen "auf den Grund" geht und dort etwas entdeckt, das sie "Struktur" nennt.

Ob Ferdinand de Saussure (1916), für den Struktur ein System ist, in dem a) jeder Wert durch Positionen und Differenzen bestimmt wird und das b) nur in Erscheinung tritt, wenn man verschiedene Phänomene durch Rückführung auf dasselbe Bezugssystem miteinander vergleicht, oder Claude Lévi-Strauss (zit. n. Eco 41994: 62):

Struktur ist nur die Zusammenstellung, die zwei Bedingungen entspricht: Sie ist ein System, das von einer inneren Kohäsion zusammengehalten wird. Und diese Kohäsion, die dem Beobachter eines isolierten Systems unzugänglich ist, enthüllt sich in der Untersuchung der Transformationen, durch die ähnliche Eigenschaften in scheinbar verschiedenen Systemen enthüllt werden,

es läßt sich mit Umberto Eco sagen (41994: 63):

Eine Struktur ist ein Modell, das nach Vereinfachungsoperationen konstruiert ist, die es ermöglichen, verschiedene Phänomene von einem einzigen Gesichtspunkt aus zu vereinheitlichen [...] um auf homogene Art und Weise verschiedene Dinge benennen zu können.

Um das Verbindende bzw. das Trennende von Kulturen ermitteln zu können, ist es zuvor erforderlich, zu eruieren, was eine Kultur ausmacht und zusammenhält, sie als solche erkennbar macht. Sowohl diachron als auch synchron ergibt sich folgende Struktur:

Jede (Hoch-)Kultur weist jeweils ein Zentrum, einen Mittelbereich und eine Peripherie auf.Zu fragen ist, wie diese Differenzierung entstanden ist und wodurch sich diese Bereiche voneinander unterscheiden. Eine solche Struktur ist Ex- und Abstrakt realer Gegebenheiten, kann auf diese zurückgeführt und auch angewendet werden; in einem ersten Schritt auf baulich-räumliche Gegebenheiten.

 

Die Topographien

Ein Blick auf alte, aber durchaus auch auf aktuelle Stadtkartenläßt diese Struktur klar erkennen.Im Zentrum befinden sich jene - zumeist auch ältesten - Bauwerke, von welchen aus die jeweilige Kultur ihre Strukturierung erfährt: Heiligtümer, Paläste, Kirchen, Tempel, Regierungsgebäude etc.; die Residua der Herrschenden. Nicht von ungefähr befinden sich die zentralen Anlagen oftmals an einem erhöhten Ort. Das demonstriert die Nähe zum himmlischen Vor- bzw. Urbild, das jedem Zentrum als Legitimation dient, und "erhöht" dadurch die Glaubwürdigkeit der damit verbundenen Ansprüche.

Zwischen Zentrum und Peripherie befinden sich die Wohnstätten der Untertanen resp. der Bürger, die den überwiegenden (An-)Teil der Bewohner ausmachen.

An/in der Peripherie finden sich die Wohnstätten deren, die zwar da sind, aber aus irgendeinem Grund nicht wirklich dazugehören (sollen). Hier finden sich die Slums (auch wenn sie als "sozialer Wohnbau" etikettiert werden), Flüchtlingslager, aber beispielsweise auch Friedhöfe etc.

Die Lebensläufe der Bewohner aller drei Regionen werden durch die Zugehörigkeit zur jeweiligen Region geprägt und weisen eine bestimmte Symmetrie auf: die Zukunft entspricht der Herkunft, und wessen Herkunft fragwürdig erscheint, dessen Zukunft ist fraglich.

Diese Zuordnungen, früher klar - laufen die Grenzen heute oftmals mittendurch, es entstehen Enklaven in anderen Zonen, Ghettos bzw. "Subkulturen" genannt.

Diese Ein- und Aufteilung, so selbstverständlich sie auch erscheinen mag, sollte dennoch hinterfragt werden - nach jenen Kriterien, die für die Zuordnung maßgebend sind bzw. jenen Mechanismen, die zu einer solchen Struktur führen und sie erhalten. Hier zeigt sich das Paradoxon von Kulturen allgemein, denn es ist gerade diese (identische) Struktur, die Kulturen trennt und zu den Konflikten (zwischen ihnen) führt.

Die Paradoxie aufgelöst, ergibt (sich) folgendes: "Kultur", ganz allgemein, bezeichnet eine bestimmte Verfaßtheit des Menschen, und zwar nicht nur jenen Anteil, der die "Natur" des Menschen übersteigt. Vielmehr zeigt sich "Kultur" als ein Kompendium aus zwei Komplexen, nämlich Verhalten und Handeln, und jede Art von Kulturforschung täte gut daran, dies zu berücksichtigen.

Im Verlauf der Geschichte hat es sich eingebürgert, zwischen "Natur" und "Kultur" eine scharfe Trennlinie zu ziehen, und es wäre an der Zeit, sich mehr um die Zusammenhänge zwischen beiden Bereichen zu kümmern. Dann stellte sich nämlich z.B. heraus, daß das Spezifikum des Menschen darin besteht, daß sein Verhalten, also seine "Natur" - in gewissem (Aus)Maß - in Handeln, also "Kultur", umgeformt werden kann. Diesen Vorgang nennt man "Kulturation", und genau das ist es, was sich in Aufbau und Strukturierung von Kulturen wiederspiegelt. D.h. er ist nicht nur in der Lage, sich - als Kollektiv - Normen zu setzen, sondern auch, sich - als Individuum - dementsprechend zu verhalten.

Der "natürliche" Widerpart der Norm ist dieGewohnheit; die dem Bereich "Verhalten" entstammt, also der "Naturgeschichte" des Menschen und von der, das sei angenommen, ein kontinuierlicher Weg zur "Kultur" führt. Die gegenteilige Annahme ist jene, die den Menschen bzw. seine Kultur aus einem - wie immer gearteten - "Geist" herleiten will: Die "Natur" macht keine Sprünge, der "Geist" hingegen schon. Und so ist die Entstehung von Kultur aus dem "Geist" gespickt mit Absurditäten, gegen die sich ein gesunder "Geist" - mit Recht - zur Wehr setzen muß. Das "Naturwesen Mensch" wird ausgeblendet, der Mensch fällt zumeist als - bereits fertiges - "Kulturwesen" vom Himmel. Oft sogar läuft die Geschichte "verkehrt" herum, und es kommt zu einer Degeneration, Stichwort: Goldenes Zeitalter u.ä. - aber das ist Vergangenheit. Wie auch immer: Irgendwann und irgendwie kommt jede Kultur zur Einsicht, daß die "Natur" nicht auszublenden ist.

Spätestens aber, wenn es um Erziehung geht, wird klar, daß der Mensch ein "Mischwesen" ist; dessen "Natur" - meist mehr, eher weniger - durch "Kultur" verändert werden muß. Der Weg dahin besteht in einer "Überwindung" der Gewohnheiten und deren Ersetzung durch Normen; worüber unsägliche Erziehungskonzepte Aufschluss geben.

Die Struktur einer Kultur, so die Annahme, ist als Ergebnis dieser Bemühungen anzusehen. Es entsteht ein "kultureller Gradient", der folgendermaßen aussieht: Wer nur Normen kennt, ist ein "Gott". Damit unterscheidet er sich wesentlich von "den Göttern": Wo "Götter" noch Gewohnheiten haben, hat "der eine Gott" diese abgelegt; ein wichtiger Schritt in der Kultur-Genealogie, denn erst dann kann das eingeführt werden, was man "das Gesetz" nennt, das als Summe der Normen angesehen werden kann. Und erst dann ist der "heilige Ort" nicht mehr nur Mittelpunkt des Kults, sondern Mittelpunkt der Kultur.

Die Voraussetzung(en), das Zentrum einnehmen zu können, ist der Nachweis der "Gottgleichheit", zumindest "Gottähnlichkeit". Das kann auf verschiedene Art und Weise geschehen, in jedem Fall muß so jemand die Gewohnheit, d.h. das Gewöhnliche, verlassen, hinter sich gelassen haben. Er muss außergewöhnlich sein - und dies auch glaubhaft machen können, entweder durch eine außergewöhnliche Herkunft oder eine außergewöhnliche Geburt, ein außergewöhnliches Erlebnis etc. Nicht von ungefähr ist in den Biographien solcher Menschen häufig von "Versuchungen" die Rede, denen sie ausgesetzt waren - und widerstanden haben. Diese "Versuchungen" aber sind nichts anderes als Gewohnheiten; die auf diesem Wege denunziert werden.

Jedes Außergewöhnliche aber ist nur in Relation zu (s)einem Gewöhnlichen ein solches. Das "Gewöhnliche" aber ist zugleich auch das "Normale". Die synonyme Verwendung der beiden Begriffe weist (bereits) darauf hin, daß Gewohnheit und Norm hier - einigermaßen friedlich - koexistieren. Andererseits weist dies auch auf eine gewisse "Offenheit" für Verschiebungen nach einer der beiden Seiten hin - wodurch das Zentrum immer auch ein bedrohtes ist.

Bleibt noch die Peripherie. Sie gestaltet sich dort, wo (die) Gewohnheiten überwiegen, die Normen - auf verschiedenste Weise - gebrochen sind: der Bereich des Abnorm(al)en.

Dieser zugrundeliegenden Topographie entspricht die

 

Topographie der Macht

als vermutlich älteste: kein Herrscher ohne Untertan(en).

Die Geschichte einer Kultur beginnt mit dem und im Zentrum, woraus dieses seine Legitimation bezieht - und seine Macht ableitet. Erzählt wird diese Geschichte im Konstitutionsmythos: er gibt an, wo und auf welche Weise die jeweilige Kultur entstanden ist. Zumeist als Teil eines kosmischen Geschehens, der Entstehung der "Welt". Dabei handelt es sich überwiegend um ein singuläres  Ereignis.

Um strukturierend wirken zu können, muß dem, was strukturiert, ein anderer Seins-Status zugeschrieben werden. Zu diesem Zweck wird es aus den aktuellen Zeit- und Raumkoordinaten ausgeblendet: "In jener Zeit...", "An jenem Ort", etc. - es entsteht jener Bereich, der fortan als "Transzendenz" sein (Un?)Wesen treiben wird. Auch wenn die Namen unterschiedlich sind, zumeist "Gott", aber auch "Absolutes", "Sein" etc., ist die Funktion immer dieselbe: irdisches Tun zu legitimieren.

Um diese Funktion ausüben zu können, muß der transzendente Bereich mit dem immanenten - immer wieder und in spezieller Weise - verbunden werden. Die Übertragung des transzendenten Geschehens auf das irdische Treiben erfolgt mittels eines Äquivalenzschlusses: "Wie im Himmel, so auf Erden" - den man als die älteste logische Figur ansehen kann. Die Anbindung erfolgt am "heiligenOrt". Hier treffen Transzendenz und Immanenz aufeinander, gehen ineinander über, werden einander angeglichen: der immanente Raum ist zugleich transzendent, und durch die immer gleiche Wiederholung der primordialen Handlungen - in Kult und Ritual - erfolgt eine Angleichung an die transzendente Zeit. Was solcherart nachvollzogen wird, wird in die Raum-Zeit hereingeholt und so in das kollektive Gedächtnis aufbewahrt; als ständige Erneuerung der Konstitution der geltenden Ordnung und deren Begründung(en).

Dieser Mechanismus hat einerseits die Funktion, den Kosmos, der sich "verbraucht", zu "erneuern", andererseits dient er den Mächtigen dazu, ihre Macht bzw. deren Legitimation zu erhalten. Denn: nur wer sich auf Anbindung an Transzendenz, auf Ableitung aus der Entstehung bzw. auf seine Herkunft von dort, berufen kann, ist auch berufen, Macht auszuüben. Die Ableitung und damit Verbindung erfolgt entweder direkt, genealogisch, oder bezieht sich auf ein exorbitantes Ereignis, etwa eine "Himmelfahrt" oder ähnliches. Aus der Legitimität der Macht ergibt sich das Recht, Gesetze und Normen (auch) durchzusetzen: Gesetz braucht Macht.

Entscheidendes Moment für den Lebens(ver)lauf ist das (Aus-)Maß an Macht, dessen jemand teilhaftig wird. Art und Ausmaß der Macht entsprechen der baulich-räumlichen Topographie: Im Zentrum uneingeschränkt, ist sie im Mittelbereich eingeschränkt - darauf, der Macht dienliches Verhalten auszulösen Die Peripherie aber ist die Heimat der Machtlosen: Sie unterliegen zwar dem Gesetz, haben aber nur selten Recht. Die Kriminalisierung von Randgruppen ist ein weit verbreitetes Phänomen.

Beschreibungen dieser Verhältnisse bieten die Geschichts-(Lehr-)Bücher. Sie berichten nahezu ausschließlich vom Leben der Mächtigen und ihren (zumeist Un-)Taten, wobei die erfolgreichen als "Siege" die Geschichts-(Lehr-)Bücher zieren, die erfolglosen als "Niederlagen" überliefert werden. Die Existenz der Machtlosen und deren Tun hingegen versickert zumeist ins Dunkel der Geschichte; es sei denn, ihre (ebenfalls Un-)Taten sind in Art und Ausmaß jenen der Mächtigen äquivalent. Als Beispiel ist hier u.a. Herostrat zu nennen.

Der Topographie der Macht angeglichen und ihr dienlich ist:

 

Die Topographie der Werte

Ging es bisher um Konkretes, um baulich-räumliche Strukturen und Handlungen bzw. deren Zuordnung zueinander, ist dem nun Abstraktes hinzuzufügen: die Werte, eine einzigartige, ergonomisch ungemein wertvolle  Erfindung, die es ermöglicht, etwas zu (ver-)ändern - ohne daß etwas geschehen, ohne daß gehandelt werden muß. Man kann sie als eine spezielle Form der Namensgebung bezeichnen, denn auch Namen und Bezeichnungen verändern das Benannte und das Bezeichnete. Im Unterschied zu Namen und Bezeichnungen jedoch treten Werte paarweise auf, deren eine Hälfte jeweils die Negation der anderen ist. Weiter gegriffen läßt sich vermuten, daß Bezeichnungen und Namen, die paarweise auftreten, jeweils als Werte anzusehen sind.

Die Grundunterscheidung, die jeder gewissermaßen "aus dem Bauch heraus" treffen kann, ist jene zwischen "gut" und "böse". Von hier zu "dem Guten" bzw. "dem Bösen" ist der Weg nicht weit: Betreffen "gut" und "böse" das individuelle Eigeninteresse, stehen "das Gute" und "das Böse" im Interesse des Kollektivs. Und das kommt so (zustande):

Ist die Zugehörigkeit zu einem sozialen System immer schon mit partiellem Verzicht auf Eigeninteresse zu bezahlen, wird dieser Verzicht die längste Zeit der Geschichte nicht reflektiert. In Kult und Ritual eingebettet, gibt es auch keine Aussicht auf Alternativen, keine Möglichkeit der Entscheidung. Als Sklave und Diener (des) Gottes ist das auch weder möglich noch erforderlich. Erst mit dem Aufkommen der Reflexion auf das eigene Tun, mit Karl Jaspers in der sog. "Achsenzeit" anzusiedeln, kann das eigene - und auch fremde - Handeln in Frage gestellt werden. Reflexion schafft Distanz - und einen neuen Raum; der fürderhin genutzt wird für das, was als "freie Entscheidung" gilt.

So z.B. auch bei Zoroaster, der als Erfinder der "freien Entscheidung" gelten kann. Der Mensch ist nicht länger Diener oder Sklave (des) Gottes, sondern soll in seinem Handeln dessen Handeln wiederholen: imitatio dei. Wie fürderhin bei jeder "freien" Entscheidung ist der Entscheidungsraum aber sehr begrenzt und bewegt sich (lediglich) zwischen "dem Guten" und "dem Bösen"; wobei "das Gute" als Reflexion auf die Zugehörigkeit zum - je eigenen - sozialen System zu verstehen ist, während "das Böse"die Reflexion auf die verschiedenen Arten der Nicht-Zugehörigkeit darstellt. Diese kann innerhalb und außerhalb des eigenen Systems stattfinden. Wer innerhalb des Systems auf die Zugehörigkeit verzichtet, begeht entweder einen Rechtsbruch oder sein Tun wird als "Sünde" gehandelt und erhält damit eine Reichweite, die über den hienieden ahndbaren Bereich hinausgeht. Differenten Systemen außerhalb des eigenen Systems eignet von vornherein Nicht-Zugehörigkeit; was sie für eine Zugehörigkeit zum "Bösen" a priori prädestiniert. Über Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit wird ausschließlich vom Zentrum entschieden.

Wie jeder Religionsgründer hat sich auch Zoroaster bereits für "das Gute" entschieden, indem er den Versuchungen "des Bösen" getrotzt hat. Das ist die Basis für die Forderung  an die (Ange-)Hörigen, dieselbe Entscheidung zu treffen; andernfalls die Zugehörigkeit - zumindest - in Frage gestellt ist. Weder "das Gute" noch "das Böse" laufen allerdings frei herum. Zunächst gesichtslos, bedürfen sie der Stellvertreter, die ebenfalls vom Zentrum gestellt werden.

Da sowohl "das Gute" als auch "das Böse" der Legitimation bedürfen, werden sie (ebenfalls) über den Konstitutionsmythos eingeführt: Während "dem Guten" ein immerwährendes (So-)Sein zugeschrieben wird, hat "das Böse" zumeist eine Genealogie. Mit der Genealogie der Welt verflochten, tritt es an einer bestimmten Stelle des Generationsprozesses auf. Es entsteht als Folge der ersten "freien Entscheidung" - die vom "Bösen" getroffen wird, indem es sich vom "Guten" abspaltet hat und hinfort als dessen Widerpart existiert. Diese "freie Entscheidung" entfernt es zwar vom "Guten" bzw. dem oft gemeinsamen Ursprung, setzt es in Gegensatz zu diesem, teilt mit ihm aber weiterhin etwas ganz Wesentliches: Macht. Denn: ein Böses, das keine Macht besitzt, ist keine Bedrohung, sondern höchstens ein Ärgernis.

Achtet man auf die Inhalte und Postulate, die mit "dem Guten" verbunden sind, stellt sich heraus, daß es zwischen dem, was dem Einzelnen als "gut" - weil angenehm - erscheint, und "dem Guten" als Interessensvertretung des Gesamtsystems, wie schon beim Zusammenhang von Gewohnheit und Norm, sehr leicht zu Konflikten kommen kann. Daher muß der Verzicht auf die eigenen Interessen, von dem sowohl das Zentrum als auch letztendlich jeder Einzelne profitieren, belohnt werden. Und so tritt "das Gute" in verheißungsvollem Gewande auf, als - letztendlicher - "Sieger" über "das Böse", das mit allem korreliert ist, was der Mensch zu meiden versucht: Finsternis, Tod etc. Und es gibt noch einen wesentlichen Unterschied: Während "das Gute" zumeist gesichtslos bleibt - "du sollst dir kein Bild machen" -, ist und bleibt "das Böse" immer mehr dem Gestalthaften verbunden, jeweils bereits mit einem bestimmten Gesichtausgestattet; was die Möglichkeit eröffnet, es auf Gestalthaftes, auf bestimmte Menschen bzw. Gruppen von Menschen zu übertragen, die dann als Stellvertreter fungieren.

Das Zentrum hat sich, wenn es sich manifestiert, bereits "frei" entschieden, der Norm- bzw. Mittelbereich hat - mehr oder weniger - die Möglichkeit, sich "frei"willig anzuschließen. Ob die Peripherie diese Möglichkeit hat, unterliegt - wieder - der Entscheidung der Mächtigen. Und so besteht dieOhnmacht der Machtlosendarin, hinsichtlich ihrer Kompetenz - die "freie" Entscheidung betreffend - nicht selbst entscheiden zu können/dürfen. Dadurch werden aus den Machtlosen Ohnmächtige.

Analog und parallel dazu verlaufend ist der Weg zu sehen, auf dem aus "richtig" und "falsch", jenen Urteilen, die die Lücke zwischen dem Vorgegebenen, sei es Gewohnheit oder Norm, und dem Tatsächlichen, schließen, "Wahrheit" bzw. "Unwahrheit" werden. Auch "Wahrheit" und "Unwahrheit" beziehen sich lediglich auf die Interessen des Kollektivs, oft ohne Rücksicht auf die Interessen des Einzelnen. Ebenso wie "das Gute" ist "das Wahre" unteilbar und gesichtslos, während das "Unwahre" je beliebige Gesichter haben kann.

Nicht nur das: aufgrund ihrer grundsätzlichen Ähnlichkeit fällt es leicht, zwischen "dem Guten" und "dem Wahren" eine Koalition herzustellen. Und diese Koalition, die "das Gute" und "das Wahre" miteinander eingehen, ist unschlagbar. Ihre - wahre - Stärke beziehen beide aus ihrer Unteilbarkeitund ihrer - für "Normal-Sterbliche" - prinzipiellenUnerreichbarkeit. Wer also glaubwürdig(en) Anspruch darauf erheben kann, hat bereits gewonnen und hat damit Zugriff auf alle Bereiche menschlichen (Er-)Lebens.

Und nicht nur diesbezüglich erfolgt durch die Werte eine Umwertung. Beschreibt der Konstitutionsmythos die Einmaligkeit der Entstehung, wird daraus - durch Inanspruchnahme "des Guten" und "des Wahren" - Einzigartigkeit. Und so ist jede Kultur narzißtisch. Dieser Narzißmus, die längste Zeit der Geschichte offenbar die Voraussetzung dafür, ein Gemeinwesen strukturieren zu können, geht später - als "Ich" bezeichnet - auch ins Individuum über.

Durch seine Unteilbarkeit mutiert "das Wahre" zur "einen Wahrheit" und hat als solche vermutlich ebensoviel Böses in die Welt gebracht hat wie "das Böse" selbst. Gemeint ist damit das Bemühen, an einmal statuierten Gesetzen, Normen, die oft als Meinungen daherkommen - es komme, was wolle - festzuhalten. Konflikte mit anderen "Wahrheiten", vom Gesichtspunkt der "einen Wahrheit" aus "unwahr", sind damit vorprogrammiert, ebenso das Recht, andere "Wahrheiten" an die eigene, weil eine "Wahrheit" "angleichen" zu dürfen/müssen/sollen. Denn: Gegen die "eine Wahrheit" kann nicht argumentiert, sondern nur gehandelt werden. Das Mittel dazu heißt dann Gewalt.

Fazit: "Das Gute" und "das Böse" sind von "gut" und "böse" ebenso weit entfernt wie das Individuum vom Kollektiv. Allen Kulturen gemeinsam, sind sie dennoch die Ursache, daß Kulturen sich voneinander unterscheiden - und oftmals auch trennen. Denn aufgrund ihrer Abstraktheit können sie fast in beliebiges Konkretes überführt werden.

© Elfriede Maria Bonet (Wien)


LITERATUR

De Marchi, Luigi (1988). Der Urschock. Unsere Psyche, die Kultur und der Tod. Darmstadt: Luchterhand

Eco, Umberto ([1972]41994). Einführung in die Semiotik. München: Wilhelm Fink

Saussure, Ferdinand de (1916). Cours de linguistique générale. Hg. Charles Bally & Albert Sechehaye. Lausanne-Paris: Payot


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs

1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

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For quotation purposes:
Elfriede Maria Bonet (Wien): Was Kulturen verbindet - und trennt. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_2/bonet15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 28.6.2004    INST