Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juli 2004
 

1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Moderation / Chair: Astrid Hönigsperger
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs

Die Bedeutung der Stadt für (Sprach-)Minderheiten am Beispiel Udines

Astrid Hönigsperger (Wien)
[BIO]

 

Zusammenfassung: Ich möchte in meinem Referat den Stellenwert eines urbanen Zentrums für eine kulturelle und sprachliche Minderheit anhand eines Beispiels (Udine für die friaulische Sprachminderheit) verdeutlichen. Eine ähnliche Bedeutung, wie sie auch Barcelona für das Katalanische und die Katalanen hat, läßt sich auch in ähnlicher Weise im Kleinen zeigen: das Vorhandensein eines urbanen Zentrums kann als Zeichen, als Resultat, aber auch als Verursacher verschiedenster Prozesse gesehen werden, die sowohl positive als auch negative Aspekte für die Minderheiten mit sich bringen. Welche das sind, werde ich in meinem Beitrag vorstellen.

 

0. Vorbemerkungen

Ich möchte in meinem Beitrag die Bedeutung eines urbanen Zentrums für eine kulturelle und sprachliche Minderheit anhand eines Beispiels (Udine für die friaulische Sprachminderheit) verdeutlichen. Eine ähnliche Bedeutung, wie sie auch Barcelona für das Katalanische und die Katalanen hat, läßt sich auch in ähnlicher Weise im Kleinen zeigen: das Vorhandensein eines urbanen Zentrums kann als Zeichen, als Resultat aber auch als Verursacher verschiedenster Prozesse gesehen werden, die sowohl positive als auch negative Aspekte für die Minderheiten mit sich bringen. Welche das sein können, möchte ich in meinem Beitrag andiskutieren, indem ich - von der konkreten Situation in Udine ausgehend - einige positive Aspekte, aber auch mögliche Nachteile, die eine Stadt mit sich bringen kann, zu resümieren versuchen werde.

Vorab außerdem eine kurze Bemerkung zur Methode: Vielleicht mögen die historischen Daten zur Region und zur Stadt Udine sehr subjektiv ausgewählt erscheinen, ebenso vielleicht die wesentlichen das Stadtbild und die Stadt prägenden Bauten, die ich im Anschluß kurz vorstellen werde. Meiner Auswahl liegt eine Befragung zugrunde, die ich im Sommer 2003 in Udine durchgeführt habe und bei der ich Einheimische über die friulanische Geschichte gefragt habe und mir wichtige friulianische Bauten, Denkmäler, Kunstwerke etc. zeigen und erklären ließ.

Natürlich ist das friulanische Geschichtswissen ähnlich gut oder schlecht wie das anderer Volksgruppen auch, aber man kann aus den Daten und Fakten, die immer wieder genannt werden, meiner Meinung nach doch eine gewisse identitätsstiftende Funktion ablesen.

 

1. Statistik Udines

Udine wird häufig auch als die heimliche Hauptstadt Friauls bezeichnet (u.a. Messner 1997: 130).

Abb. 1

Kurz einige statistische Parameter zur Situierung der Stadt und der Region (s. Abb. 1)(1): Mit ca. 95.000 Einwohnern ist sie die zweitgrößte Stadt der Region und die einzige der Provinz, die mehr als 20.000 Einwohner hat. Die Region ist eine der ländlichsten in ganz Italien. Die Bevölkerung Udines ist wesentlich jünger als die Triests, aber trotzdem älter als das schon hohe Durchschnittsalter in Friaul (13,4% Jugendliche gegenüber 14,4% in der Region und 14,9% in der gesamten Provinz). Der ausländische Bevölkerungsanteil beträgt 3,3%, was wenig überraschend höher ist als der regionale Durchschnitt. Das Bevölkerungswachstum ist negativ (-3,4 H), was in etwa dem regionalen Durchschnitt entspricht.

Die Arbeitslosenrate ist zurzeit (noch) auf zufriedenstellendem Niveau, ebenso die hohe Zahl von kulturellen Veranstaltungen. Das Pro-Kopf-Einkommen ist höher als der italienische Durchschnitt. Ebenso besteht eine geringfügig höhere Selbstmordrate und eine niedrigere Kriminalitätsrate als im übrigen Italien, auszunehmen ist hier die Drogenkriminalität.

Aufgrund der Tatsache, daß Udine ebenso wie Triest eine Universitätsstadt ist, ist das zahlenmäßige Verhältnis zwischen studentischer und übriger Bevölkerung mit 14.000 Studenten überdurchschnittlich günstig für die Studenten(2). In der Folge gibt es in Udine auch vergleichsweise viele Schulen.

Udine hat mit weniger als 100.000 Einwohnern nicht den Charakter einer Großstadt und ist zwar nicht Regions-, doch Provinzhauptstadt und als Universitätsstadt mit einer für das Friulanische äußerst bedeutenden medizinischen Fakultät eine ernstzunehmende Konkurrentin Triests. Udine präsentiert sich sowohl den Bewohnern als auch den Besuchern als lebhafte, pulsierende Handelsstadt mit viel Industrie am Stadtrand und einem relativ ausgedehnten, dicht besiedelten Einzugsgebiet. Als charmante Einkaufsstadt ist sie das wirtschaftliche Zentrum und die einzige größere Stadt der bassa friulana (friulaner Ebene) und nicht nur bei einheimischen, sondern auch bei österreichischen und slowenischen Shoppingtouristen beliebt. Diese Menschen prägen das Stadtbild direkt und indirekt, deshalb müssen sie hier erwähnt werden.

 

2. Die Entstehung Udines: ein kurzer historischer Überblick

Im folgenden möchte ich mich kurz der Frage widmen, ob gemeinsames historisches Wissen und gemeinsame historische Erfahrung ähnlich wie persönliche, individuelle Erlebnisse der Kohäsion der Sprechergemeinschaft dienen oder dienen können.

983 wurde Udine erstmals als Castrum Utini urkundlich erwähnt, als Kaiser Otto II. dem Patriarchen von Aquilea den Besitz von fünf Ortschaften bestätigte, von denen Udine eine war (Hamel 2000: 65).

Die Ursprünge Udines liegen auf dem Schloßberg, der unvermittelt in der Ebene aufragt. Die Krieger Attilas sollen diesen isoliert dastehenden Hügel mit ihren Helmen angehäuft haben, um von hier aus den Brand Aquileias zu sehen. Geologen erklären, der Berg bestehe aus Fluß- und Gletscherkonglomeraten und sei der Rest einer Endmoräne. Erst die Langobarden scheinen diesen Hügel befestigt zu haben (Zimmermanns 2001: 107).

Bis ins 13. Jahrhundert hinein bestand die Stadt nur aus einer Burg auf einem Hügel und einer kleinen Siedlung zu dessen Füßen. Erst im 14. Jahrhundert wurde Udine bedeutender. Doch dieser Hügel mit dem malerischen Castello ist bis heute ein bedeutendes Wahrzeichen für die Stadt und ihre Menschen und ein wesentlicher Identifikator, denn die Friulaner fühlen sich mit ihrer Burg verbunden.

Ein vom friulanischen Patriarchen Bestellter und einige habitatores - zur Verteidigung verpflichtete Familien - bewohnten die Burg, unterhalb derer Bauern und Handwerker in einer kleinen Siedlung lebten, die von einer Mauer und einem breiten Graben umgeben war, an dessen Stelle heute die Via del Mercatovecchio verläuft.

Die Entwicklung zur Stadt wurde beschleunigt, als Berthold von Andechs nur noch selten in Cividale residierte, sondern stattdessen das Castello von Udine zu bevorzugen begann und zu seinem ständigen Wohn- und Amtssitz machte. Kaiser Friedrich II. verlieh Udine im Jahre 1245 das Stadt- und Marktrecht und die Steuerfreiheit. Mit diesen Privilegien wurde die anfangs kleine Siedlung zum kirchlichen, politischen und wirtschaftlichen Zentrum der gesamten Patria del Friuli. Wenig später wurde der Markt an den Mercato Nuovo, die heutige Piazza Matteotti, verlegt, wo auch heute noch am Vormittag Obst und Gemüse verkauft wird.

Der Markt Udines zog auch die Kaufleute und Bankiers aus dem Veneto, der Lombardei und der Toskana an, worauf sich um den neuen Marktplatz rasch eine Vorstadt bildete, die noch im Laufe des 13. Jahrhunderts von einem Mauerkreis und einem Grabenkanal umgrenzt wurde. Im 19. Jahrhundert wurde die Mauer abgetragen, der Kanal jedoch hat bis heute denselben Verlauf und zeigt so die Stadtausdehnung des 13. Jahrhunderts.

Über weite Strecken verläuft der Kanal auch unterirdisch, an einigen Stellen, wie z.B. an der Via Zanon, kommt er zum Vorschein und ruft den Friaulern ihre Geschichte ins Bewußtsein.

Der Kreis der Stadtmauern wurde noch zwei Mal wegen ständig drohender Gefahren vergrößert, sodaß am Ende des 14. Jahrhunderts auch die Dörfer und Äcker der näheren Umgebung innerhalb der Stadtmauern lagen. Einige der damaligen Dorfnamen findet man heute als Straßennamen wieder: Via Poscolle, Via Grazzano etc.

Die damalige Stadtfläche reichte bis ins 20. Jahrhundert für die Bevölkerung flächenmäßig aus.

Der letzte Mauerring wurde im 19. Jahrhundert abgerissen. Erhaltene Stadttore sind nur noch die Porta Aquileia von 1373 und die Porta Villalta von 1480.

Friaul fiel 1420 unter die Herrschaft Venedigs, worauf sich bald eine Wirtschaftskrise abzeichnete, denn der Handel erfolgte nicht mehr über Udine, sondern über San Daniele und von dort über die Flußhäfen von Pordenone und Portogruaro.

Die Venezianische Epoche ist sehr bedeutend für Friaul: die Bindung an die Großmacht Venedig verlieh der Stadt Udine besonderen Glanz und Prestige und Udine wurde zur bedeutendsten venezianischen Stadt in der Region Friaul, was sich in zahlreichen repräsentativen Bauten der Zeit zeigt. Auch heute noch ist das Regionalitalienisch des Veneto eine prestigeträchtige Variante in Friaul und wird neben dem Italienischen (in seiner typischen regionalen Variante) und dem Friaulischen in der Region gesprochen.

Im Jahr 1797 fielen französische Truppen in Italien ein und Friaul wurde Teil des Regno Italico; 1813 wurde Friaul Österreich unterstellt. Aus dieser Zeit der ununterbrochenen Fremdherrschaften rühren auch meiner Ansicht nach die manchmal als durchaus "gemischte Gefühle" zu bezeichnende Einstellung der Friulaner gegenüber ihrem nördlichen Nachbarn Österreich. Diese gemischten Gefühle lassen sich u.a. dann beobachten, wenn die Friauler - auch nach Hinweisen - etwas unsensibel gegenüber nationalen Identitäten sind und austriaci wiederholt als tedeschi bezeichnen.

Im Oktober 1866 wird die Provinz Udine dem italienischen Reich angeschlossen und nur Triest und Görz verbleiben vorläufig österreichisch.

Während des 1. Weltkrieges, zwischen 1915 und 1918, war Udine Sitz des italienischen Oberkommandos und im Jahr 1963 wird die autonome Region Friuli - Venezia Giulia, so wie sie heute besteht, gemeinsam mit Triest, Görz (Gorizia) und Pordenone ins Leben gerufen.

 

3. Die Stadt als Träger eines kollektiven Sprach- und Kulturbewußtseins

Sowohl Sprach- als auch Kulturbewußtsein sind Begriffe, die zwar häufig verwendet, aber kaum definiert werden und somit inhaltlich vage bleiben. Wenn man ihnen jedoch eine erweiterte Funktion zuspricht und sie als die wesentlichste Steuerungsinstanz unseres gesamten Sprachhandelns definiert, ist das Wechselspiel zwischen individuellen und kollektiven Elementen ein faszinierender Untersuchungsgegenstand (vgl. Cichon 1998: 50).

Das Vorhandensein eines kollektiven Sprach- und Kulturbewußtseins ist für eine Minderheitengruppe insofern wichtig, als es der Kohäsion der Sprechergemeinschaft dient und vor allem auf zwei Wirkungen ausgerichtet ist, die in engem Zusammenhang stehen: nach "innen" gerichtet bewirkt es die Integration der Sprecher in die Gemeinschaft und nach "außen" gerichtet dient es zur Demarkation, also zur Abgrenzung der eigenen Gruppe gegenüber anderen. Es verarbeitet sprachliches Wissen und Erfahrungen, die zur Grundlage für die identitäre Abgrenzung der eigenen gegenüber anderen Sprachgruppen dienen. Auf dieses Bewußtsein wirken gleichzeitig beharrende und auf Veränderung ausgerichtete Kräfte, wobei mit zunehmendem Ausbaugrad die beharrenden Kräfte dominierend werden.

Dessenungeachtet handelt es sich stets um ein dynamisches, selbstreflexives und selbstregulatives System, das die Integration des einzelnen Mitgliedes der Gemeinschaft längerfristig gewährleistet.

Woraus aber konstituiert sich das Sprach- und Kulturbewußtsein? Die beiden wesentlichsten Faktoren sind Wissen und Erfahrung, wobei das Wissen nicht notwendigerweise der eigenen Erfahrung entsprechen muß, sondern eher in einer überindividuell verfügten Summe von Sachaussagen wurzelt (vgl. Cichon 2004: 104). Erfahrungen hingegen sind Erkenntnisse, die der einzelne aus subjektiven Wahrnehmungen und Erlebnissen gewinnt. Wissen ist also eine Art erweiterter, überindividueller Erfahrung, die stärker fremdgesteuert und weniger zufällig in seiner Beschaffenheit ist.

Wenn nun neu hinzukommendes Wissen und neue persönliche Erfahrungen in das Sprach- und Kulturbewußtsein eines Sprechers gelangen, treffen sie auf bereits vorhandene Schemata, die die Art der Verarbeitung determinieren, die aber auch ihrerseits von den neu hinzukommenden Faktoren beeinflußt werden. Diese Verstehens-, Bewertungs- und Handlungsschemata modifizieren einander also, d.h. sie können einander stärken, abschwächen oder ergänzen.

Jedes Wissen und jede Erfahrung im Bewußtsein hinterläßt Spuren, die zwar verblassen oder verdrängt werden, doch nicht zur Gänze verschwinden können. Diese Spuren sind außerdem bruchstückenhaft, ungeordnet und mehrheitlich nicht zielgerichtet, die von jedem Sprecher in Funktion eines immanenten System- und Sinnzwangs zu einem für ihn stimmigen Ganzen zusammengefügt werden (vgl. Cichon 2004: 104-105).

Die Stadt ist gewissermaßen ein öffentlicher Raum mit essentiellen privaten Nischen. In den westeuropäischen Kleinstädten wird der Fremde nicht sofort als Feind eingestuft, was (noch) eine europäische Errungenschaft zu sein scheint, die weder in Südafrika noch in den USA heute mehr zutrifft (vgl. Baumann 2001).

In besonderen Lebenssituationen, die Öffentliches und Privates miteinander verbinden, wie etwa beim Arzt, im Krankenhaus oder im Umgang mit Ämtern, möchte jeder Sprecher minimale Voraussetzungen finden, um auf die ihm vertrauten Formen der Kommunikation zurückgreifen zu können; eine dieser minimalen Voraussetzungen ist es beispielsweise für Minderheitensprachensprecher, die eigene Muttersprache sprechen zu können.

Das Leben in der Stadt kann also zum Erwerben neuer Identitäten führen.

 

4. Das Stadtbild - ein identitätsstiftendes Element?

Eines der herausragendsten Bauwerke in Udine ist zweifellos das Castello auf dem im Zentrum gelegenen malerischen Schloßberg. Mit seinem Bau wurde im Jahr 1517 begonnen und aufgrund langwieriger Verzögerungen errichtete man nur einen einzigen Flügel statt der geplanten Vierflügelanlage. 1547 fügte dann der Architekt Giovanni da Udine dem bereits begonnenen Flügel ein weiteres Stockwerk und eine Eingangstreppe hinzu. Diese Arbeiten wurden 1595 fertiggestellt.

Gleich neben dem Schloß, dem Hauptwahrzeichen Udines, liegt die älteste Kirche Udines, Santa Maria di Castello. Schon im 6. Jahrhundert stand an dieser Stelle eine christliche Kapelle, die im 8. Jahrhundert von den Langobarden umgebaut und im 12. und 13. Jahrhundert erweitert wurde. Santa Maria di Castello wurde als Stadtpfarrkirche abgelöst, nachdem man 1260 mit dem Bau des Doms begann.

Die venezianisch geprägte Piazza Libertà, auf der Venedig gegenwärtig sein sollte, ist heute einer der beliebtesten Treffpunkte der einheimischen Jugendlichen und auch der Soldaten, die in Udine ihren Militärdienst leisten müssen. Auch Breakdance ist auf dem "schönsten venezianischen Platz auf der Terraferma" (Zimmermanns 2001: 109) an der Tagesordnung.

Die Loggia di San Giovanni mit der Torre dell'Orologio (Uhrturm) und der Loggia del Lionello (Kommunalpalast) zeigen den venezianischen Einfluß sehr stark. "In Anlehnung an die Piazza San Marco baute man die Torre dell'Orologio [und] die filigrane Loggia del Lionello, die als Rathaus diente" (Hamel 2000: 106).

Da die Piazza im Mittelalter zugleich Versammlungsort für die Bürger und wichtiger Handelsplatz war, nannte man sie Piazza del Comun oder auch Piazza del Vino. Das heutige Erscheinungsbild der Piazza wurde 1530 geprägt, als nach einem schweren Erdbeben im Jahr 1511 die Renovierung oder überhaupt die Neuerrichtung zahlreicher Bauten notwendig geworden war. Maßgeblich beteiligt am Neubau war Giovanni da Udine, unter dessen Leitung der Uhrturm an seiner heutigen Stelle errichtet wurde.

Der Vorläufer des heutigen Palazzo Patriarcale entstand 1523 in Udine, genau 103 Jahre nachdem die Patriarchen ihren Sitz auf dem Schloßberg zugunsten des neuen venezianischen Statthalters aufgeben hatten müssen und vorübergehend in ihrem eigenen Herrschaftsbereich in San Daniele oder in San Vito al Tagliamento residiert hatten. Dieser Palast steht heute nicht etwa, wie man vielleicht annehmen würde, zentral, sondern etwas abseits des innerstädtischen Geschehens, da er wegen des andauernden schlechten Verhältnisses mit den neuen Machthabern etwas außerhalb der Stadtmauern errichtet wurde.

Auch der Dom Santa Maria Annunziata und die Piazza Matteotti haben in der Geschichte Udines zentrale Bedeutung; auf der letztgenannten wird auch heute noch jeden Vormittag der Obst- und Gemüsemarkt abgehalten.

Das städtische Leben Udines ist ebenso wie das seines Umlandes von Traditionen geprägt. Zwei der wichtigsten Eckpunkte im Kalender Udines sind der Jahrmarkt und das Friuli doc:

Jeden 25. November findet auf dem Zardin Grant der Jahrmarkt der Heiligen Katharina, ein Fest mit jahrhundertealter Tradition statt. Am zweiten Oktoberwochenende findet das überregional bekannte Friuli doc statt, eine Veranstaltung, bei der heimische Künstler ihre Werke präsentieren. Außerdem wird an jedem ersten Sonntag im Monat der traditionelle Antiquitätenmarkt in Udine abgehalten.

Natürlich stellt sich die Frage, ob die Stadt nicht für ihre Bewohner insgesamt identitätsstiftend ist, d.h. daß das Zugehörigkeitsgefühl gar nicht so sehr mit der Minderheitenfrage zusammenhängt, sondern ausschließlich mit der Tatsache, daß man sich eben mit einer Stadt identifiziert. Dieser außerhalb dieses Rahmens stehenden Frage könnte man beispielsweise nachgehen, indem man in einer größer angelegten Befragung nach Italienern und Friulanern differenziert und ihren sozialen Hintergrund deutlicher in die Analyse miteinbezieht, als ich das bei meiner Befragung tun konnte. Möglicherweise ließe sich im Rahmen einer größeren Untersuchung auch differenzieren, welche Identifikationsmuster für welche Sprechergruppen typisch sind. Mit anderen Worten: ist das Castello ebenso identitätsstiftend für die Udinesen insgesamt wie für die friulanischen Bewohner der Stadt?

 

5. Die Sprache Udines

Language is not only a vehicle of interaction, not only a vehicle of intercommunication, not only a practical tool for state administration in modern or in ancient times; but also a vehicle of symbolic value. By adopting a certain language, a certain population or a certain group in society declares what identity it wants to show to itself as well as to the rest of the world(3).

Es ist unbestritten, daß die Sprache in den Prozessen der Identitätsreflexion eine zentrale Rolle haben kann und meistens auch hat. Vielleicht ist das weniger der Fall bei einem Sprecher einer im sozialen Umfeld unangetasteten Nationalsprache, für Minderheitensprachensprecher spielt die Sprache sehr häufig eine größere Rolle, vor allem in den Fällen, wo sich die miteinander interagierenden Kulturen sehr ähnlich sind.

Wie bereits angedeutet, werden in Udine mehrere Sprachen oder mehrere Varianten von Sprachen gesprochen: in der Stadt Udine kann man durchaus von Trilinguismus sprechen, denn auch heute noch ist, neben dem Italienischen, die venezianische Variante prestigeträchtig und wird auch von jungen Leuten verwendet. Das italiano dialettale ist auch meines Erachtens die größte Konkurrenz für das Friaulische, weil es in denselben Verwendungsbereichen vorkommt und viele Udinesen das Friaulische zugunsten der prestigereicheren Sprache aufgegeben haben. Heute hat sich jedoch das Blatt aufgrund der aktuellen sprachenpolitischen Gesetzgebung etwas zugunsten des Friaulischen gewendet. Aufgrund der genannten zahlreichen Einflüsse hat sich die Sprache Udines im Laufe der Zeit verändert, was für das Bewußtsein einer Sprachminderheit manchmal nicht unproblematisch ist. Als das "eigentliche" Friaulisch - das ja bekanntermaßen immer "anderswo" ist - wird heute immer öfter die Variante von San Daniele bezeichnet.

Das Friaulische, das man in Udine und engerer Umgebung spricht, wird als friulano centrale bezeichnet, noch genauer spricht man vom friulano centro-orientale. Diese Variante des Friaulischen hat sich im vorigen Jahrhundert zu einer Art friaulischer Koiné entwickelt, da sie vom einflußreichen Dichter Pietro Zorutti als literarische Varietät verwendet wurde. Außerdem ist Udine das Zentrum der friaulischen Medien, d.h. sowohl Radio und Fernsehen als auch die Printmedien verwenden (überwiegend) die Varietät Udines als sprachliches Modell, unter anderem sicher auch, weil sie ja in der Stadt beheimatet sind.

Der Status und die Akzeptanz der Sprache Udines als Koiné sind nach wie vor umstritten, nicht zuletzt ist man sich über die Graphie uneinig. Viele friaulische Dichter verweigern (auch) aufgrund der Uneinigkeiten diese Variante und schreiben im jeweiligen friaulischen Dialekt ihres Heimatortes.

 

6. Das Leben in der Stadt: Vor- und Nachteile für eine Minderheit

Udine ist mit seinen nicht ganz 100.000 Einwohnern eine kleinere, im Umland integrierte Stadt, d.h. mögliche Kontraste Stadt-Land sind hier nicht so ausgeprägt wie das anderswo der Fall ist.

Einer der für Minderheitensprachenforscher auffälligste Unterschied zwischen Stadt- und Landbevölkerung ist zweifellos der, daß man in der Stadt üblicherweise mehr Sekundärsprecher antrifft, während die Primärsprecher häufig auf dem Land leben.

Ein Primärsprecher ist einer, der die Sprache in der primären Sozialisation, also in der Familie, als erste Sprache gelernt hat. Er hat üblicherweise eine höhere Sprachkompetenz, aber ein geringeres Sprachbewußtsein als der Sekundärsprecher. Zwischen den beiden Gruppen gibt es aber auch wesentliche soziologische Unterschiede: Sekundärsprecher verfügen meistens über ein höheres Bildungsniveau, während Primärsprecher oft der (einfachen) Landbevölkerung zuzurechnen sind.

Ein Sekundärsprecher hat sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben bewußt für das Erlernen einer Sprache entschieden und ist daher entsprechend motiviert. Seine Sprachkenntnisse sind üblicherweise geringer als die eines Primärsprechers, er kann jedoch über höhere Schreib- und Lesekompetenzen verfügen, da er die Sprache in einer Institution (z.B. in einer Schule, in Abendkursen etc.) gelernt hat.

Selbst im Falle einer Binnenmigration vom Land in die Stadt kommt es häufig dazu, daß der Sprecher aufgrund neuer Kontakte und der Herausbildung neuer sozialer Netzwerke seine bisherige Erstsprache zugunsten der Nationalsprache aufgibt. Einsprachig friaulisch ist v.a. wegen der Schulpflicht niemand mehr, daher macht dieser Sprachenwechsel keine formalen Schwierigkeiten. Eine Chance für die Minderheitensprache wäre meines Erachtens, wenn man die Primär- und die Sekundärsprecher auch institutionell zusammenbringen könnte, sodaß sie gewissermaßen die breite Masse der nicht Sprach- und Kulturinteressierten "von oben" und "von unten" in die Zange nehmen und für Minderheitenanliegen sensibler machen könnten.

Ein wesentlicher Vorteil der Stadt ist der leichtere Zugang zu Kultur und zu Institutionen im allgemeinen. Theateraufführungen, musikalische Veranstaltungen, Lesungen etc. sind in der Stadt dichter gestreut, nicht zu vergessen ist die bereits erwähnte Tatsache, daß die Stadt Udine auch der Sitz der friaulischen Medien ist und Radio, Fernsehen und Zeitungen in Udine ihren Ausgangspunkt haben. Aber auch kulturelle und Bildungsinstitutionen sind häufiger in den Städten anzutreffen, denn auf dem Land haben solche Einrichtungen häufig folkloristischen Charakter.

Die Gründung der Universität Udine im allgemeinen und der medizinischen Fakultät im besonderen hat eine wesentliche Wertsteigerung für das Friaulische gebracht, damit zusammenhängend eine hohe Dichte an Schulen. An diesen Schulen aber ist das Friaulische nicht, wie man meinen könnte, fester Bestandteil des Lehrplans, sondern noch immer optional auf Wunsch der Eltern und Schüler unter der Voraussetzung, daß Lehrer zur Verfügung stehen. Die Umstände für einen erfolgreichen Friaulischunterricht sind also denkbar ungünstig.

Ein deutliches Zeichen für die Lebendigkeit der friulanischen Kultur, aber auch der Sprache, ist der Markt im Zentrum der Stadt, wo alle Bevölkerungsgruppen zusammentreffen und wo auch das Vorhandensein von Touristen sich nicht ungünstig für die Minderheitensprache auswirkt.

In diesem Zusammenhang wird noch die Frage zu untersuchen sein, welche Faktoren und welche Sprecher für das Fortbestehen und die Weiterentwicklung einer friulanischen urbanen Kultur maßgeblich sind. Daß bestimmte Sprechergruppen für das Prestige einer Sprache wichtig sind, ist unbestreitbar, doch die relativ gute Konnotation des Friulanischen auch im urbanen Kontext ist sicher nicht allein von den sog. sprachlichen Multiplikatoren(4) und der engen Anbindung Udines an ihr ländliches Umland abhängig.

Prestigesteigernd können sich die folgenden Faktoren auswirken: eine Anhebung des Status, das Wissen der Sprecher um die eigene Kultur und um die eigene Sprache. Ebenso die Kodifizierung und das Vorhandensein von Literatur, Wörterbüchern und Lexika.

 

7. Schlußfolgerungen

In Gesprächen mit Friulanern wird immer wieder deutlich, daß die Zugehörigkeitsbezeichnungen italienisch/friulanisch zueinander nicht in Opposition stehen. Noch nie habe ich von jemandem ein "Nein, ich bin nicht Italiener, ich bin Friulaner" gehört, wie das z.B. in und außerhalb Kataloniens für Katalanen durchaus üblich ist. Auch im Ausland stellt sich ein Katalane als solcher vor, ein Friauler hat mit seiner doppelten nationalen Identität keine Probleme, wenn man ihm nur seine friaulische Identität auch läßt!

Die Friauler sind meiner Erfahrung nach auf zwei Dinge besonders stolz: 1) auf ihre Geschichte und da vor allem auf ihre Unabhängigkeit, die zwar schon 1000 Jahre zurückliegt aber mit 400 Jahren doch relativ lang dauerte, und 2) auf das - wie sie es nennen - friedliche Zusammenleben der Kulturen mit ihren Sprachen in der Region, wobei die Sprachen erst kürzlich die gleiche offizielle Anerkennung erreicht haben und somit lange Zeit nicht die gleichen Möglichkeiten hatten, sich zu entfalten.

© Astrid Hönigsperger (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Die folgenden Angaben entstammen <http://www.invalsi.it/web-est/opis/indice/comuni/N_E/Udine.htm>.

(2) <http://www.ateneonline-aol.it/postmoderno6.html>

(3) Even-Zohar 1986: 126.

(4) Multiplikatoren geben ihr Wissen um die Sprache und Kultur weiter; gemeint sind hier z.B. Lehrer, Journalisten und andere in der Öffentlichkeit stehende Berufsgruppen, die auch allgemeines Ansehen genießen.


LITERATUR

Baumann, Zygmunt (2001). "Uses and disuses of urban space". In: Czarniawska, Barbara & Rolf Solli (Hg.). Organizing Metropolitan Space and Discourse. Oslo: Abstrakt forlag, 15-32

Bonavero, Piero et al. (1999). The Italian Urban System. Towards European Integration. Aldershot: Ashgate

Cheshire, Paul & Dennis G. Hay (1989). Urban Problems in Western Europe. London: Unwin Hyman

Cichon, Peter (1998). Sprachbewußtsein und Sprachhandeln. Romands im Umgang mit Deutschschweizern. Wien: Braumüller

- (2004). "Wie entsteht kollektives Sprachbewußtsein?" Quo Vadis Romania? 20: 103-111.

Cross, Malcolm (ed.)(1992). Ethnic Minorities and Industrial Change in Europe and North America. Cambridge: Cambridge University Press

Even-Zohar, Itamar (1996). "Language conflict and national identity". In: Alpher, Joseph (ed.). Nationalism and Modernity: A Mediterranean Perspective. Haifa: Reuben Hecht Chair, 126-135

Hamel, Christine (2000). Venetien und Friaul. München: Adac Verlag

<http://www.ateneonline-aol.it/postmoderno6.html>, 20. Jänner 2004

<http://www.invalsi.it/web-est/opis/indice/comuni/N_E/Udine.htm>, 21. Jänner 2004

Lüdi, Georges et al. (1994). Fremdsprachig im eigenen Land. Basel-Frankfurt/M.: Helbig & Lichtenhahn

Messner, Hans (31997). Friaul-Julisch Venetien. Klagenfurt: Universitätsverlag Carinithia

Pellegrini, Pietro Carlo et al. (1999). Lo spazio pubblico in Italia 1990-1999. Firenze: Alinea Editrice

Strassoldo, Raimondo (1996). Lingua, identità autonomia: ricerche e riflessioni sociologiche sulla questione friulana. Udine: Ribis

Van der Wee, Herman (ed.)(1998). The Rise and Decline of Urban Industries in Italy and in the Low Countries. Leuven: University Press

Zimmermanns, Klaus (2001). Friaul und Triest: Unter Markuslöwe und Doppeladler - Eine Kulturlandschaft Oberitaliens. Köln: Dumont Buchverlag


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Moderation / Chair: Astrid Hönigsperger
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs


1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

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Astrid Hönigsperger (Wien): Die Bedeutung der Stadt für (Sprach-)Minderheiten am Beispiel Udines. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_2/hoenigsperger15.htm

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