Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Juli 2004 | |
1.2. Signs, Texts, Cultures.
Conviviality from a Semiotic Point of View / Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Thomas
Northoff (Wien)
[BIO]
Zusammenfassung: Den Bezug von Graffiti zum Generalthema der Tagung sehe ich u.a. in folgenden Punkten gegeben: Verbindendes liegt eindeutig bei grenzüberschreitenden Thematiken wie Krieg/Frieden, Umwelt, Reisen, Wirtschaft, aber auch in den vielen Liedgraffiti vor, hinter denen sich oft Menschen unterschiedlichster Nationalitäten und Ansichten sammeln - also insgesamt Protest- und Jugendpopulärkultur. Weiters sind verbindende Brücken vor allem in Frauengraffiti erkennbar. Dennoch sollte diesen Gruppen auch die ausgesprochene Feindlichkeit einzelner MigrantInnenbevölkerungs- und "einheimischer" Bevölkerungsteile gegenübergestellt werden, die sich in Graffiti oft sehr extrem äußert.
Ich gehe in meinem Referat zum Thema WortGraffiti vom Beispiel Österreichs aus, das so wie die meisten anderen Länder als multikulturelles Land bezeichnet werden kann. Jedoch läßt sich der Begriff Multikultur nicht allein auf das Aneinandertreffen von In- und Ausländern oder ethnischen Volksteilen anwenden, sondern meint auch beispielsweise Schichten- und Gruppenkulturen oder Alters- und Geschlechterkulturen.
Ich betrachte verbale Graffiti nicht als für sich stehende Zufallsprodukte, sondern sehe sie als Äußerungen, die, gleichwie ihre UrheberInnen, immer in einen Kontext vorausgehender und erwarteter oder folgender Handlungen eingebettet sind.
In meinen Ausführungen konzentriere ich mich auf die Kontexte Protest, Jugendkultur und Interkulturalität und werde versuchen, das Verbindende und Trennende herauszuschälen, das sich in diesem Sprachmaterial verbirgt. Weiters möchte ich darlegen, daß auch das Trennende in dieser hauptsächlich jugendeigenen Ausdrucksform der WortGraffiti seine Nutzanwendung als Brücke zwischen Menschen verschiedener kultureller Herkunft oder Orientierung finden kann.
Im Gegensatz zur Gesprächs- oder Interviewsituation von Angesicht zu Angesicht empfangen die LeserInnen von WortGraffiti ungeschminkte Äußerungen von anonym bleibenden Mitmenschen, in denen sich diese nicht darum scheren, ob es opportun sei, dem Gegenüber die eigenen Einstellungen oder Gefühle offen ins Gesicht zu sagen. Ungeachtet unserer persönlichen Wertung können über WortGraffiti als unverfälschte Meinungsäußerungen Haltungen von Einzelpersonen und Gruppen auch aus unterschiedlichen Kulturen erschlossen werden. Graffiti bedeuten also mehr als gesprühte oder lustige Sprüche an der Klotür.
In der Tat ist bereits in der Graffiti-Produktion selbst ein gemeinschaftliches Element auszumachen, welches sich in allen Kulturen manifestiert. Die hier nur nebenbei fokussierten künstlerischen Graffiti, offensichtliche Äußerungen jugendkulturellen Handelns, führen uns dies anschaulich vor Augen. Diese sogenannte Writer-Kultur entwickelte sich anfangs der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts in den Latino- und Schwarzenvierteln der US-Großstädte. Sie wurde bald von Jugendlichen in Europa übernommen, wobei es beispielsweise in Deutschland in erster Linie türkische Jugendliche der zweiten Generation waren, die diese künstlerische Technik praktizierten und adaptierten und, sich mit allen Ghettoisierten verbunden fühlend, als weithin sichtbare kulturelle Leistung derer, die nichts mitzureden hatten, empfanden.
Die Kommunen aber unternahmen größte Anstrengungen, der Urheber dieser Graffiti habhaft zu werden und sie vor Gericht zu stellen. In der Zwischenzeit vereint die Writer-Kultur Jugendliche aus allen Volksgruppen und -schichten, und die Writer haben durch ihre Vernetzung und ihr Verträgnis die Europäische Union für ihren Bereich längst verwirklicht. Die Kommunen jedoch reagierten unter medialem Aufsehen mit der Einrichtung eigener polizeilicher Anti-Graffiti-Sonderkommandos.
Der ehemalige brasilianische Erzbischof Dom Helder Camara sagte einmal: "Wenn ich den Armen Brot gebe, nennt man mich einen Heiligen. Aber wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, dann werde ich als Kommunist beschimpft". Übertragen auf die naturgemäß schlichtere Handlungs- und Argumentationsweise großstädtischer, in Europa lebender Jugendlicher sehe ich hier eine Verwandtschaft mit dem mehrmals an Hauswänden gelesenen Graffito: "Menschen sterben und ihr schweigt, bunte Häuser und ihr schreit!" Ein vielleicht ein wenig romantischer, nichtsdestotrotz die Verfolger sehr entlarvender Spruch, hinter dem eine weltweit vertretene Gruppe kreativer und untereinander vorurteilsloser sehr junger Menschen steht, gewissermaßen eine völlig neue Generation.
Dies ist eine gute Einstiegstelle, um Graffiti als Vermittlungsträger von Protest zu betrachten.
Durch die krasse Bevölkerungszunahme vor allem der Hauptstädte, durch das Auftreten politischer Massenbewegungen und den erhöhten Grad der Alphabetisierung gewannen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert WortGraffiti an den Wänden und als Botschaften an Transparenten bei Demonstrationen zunehmende Bedeutung als Vermittlungsform von Protesten.
In der offiziellen Berichterstattung oft nicht vorhandene Problematiken wurden für die Bevölkerung zugänglich formuliert, und es konnten Diskussionen darüber entbrennen. Dies gilt selbst noch für die frühen Jahre der großen Protestbewegungen der jüngsten Vergangenheit, wie sie die Friedensbewegung ab den 50er Jahren, die Studentenbewegung der späten 60er Jahre, die neue Frauenbewegung seit den frühen 70ern und die Umweltbewegung darstellten. VertreterInnen dieser Bewegungen schrieben ihre Parolen an Hauswände und trugen sie mittels Transparenten als mobile Graffiti durch den öffentlichen Raum. Symbole wie das Friedenszeichen, das Anarchistenzeichen, der verkehrte Venusspiegel und die Anti-Atomkraft-Sonne verkörperten zunächst international die ideelle Einigkeit und Präsenz bald nicht mehr zu überhörender Gruppen aus allen Kulturkreisen.
Die sich international meist gleichenden Parolen in Graffiti begleiteten die gesellschaftliche Diskursbildung oder gingen ihr sogar insofern voraus, als sie in expressiver Kurzform Bilder an den Wänden entwarfen, die später teils von so vielen Menschen anerkannt wurden, daß sie schließlich für sie ebenfalls Symbole der Einigkeit repräsentierten. Aus der Pop-Musik übernommene Graffiti-Klassiker wie "Imagine", "Give Peace a Chance", "Eat the Rich" oder "Keine Macht für niemand" sind mittlerweile in Wort- und Schriftgut auch von Gruppierungen gedrungen, deren VertreterInnen keineswegs als politisch besonders exponiert oder gar als soziale Randfiguren angesehen werden können.
Heute ist es die alle Kulturen und ihre Individuen betreffende Globalisierung, gegen die sich Menschen aus allen Ländern zu einer ungeheuren Protestbewegung formieren. "Wessen Welt? Unsere Welt!", stand in Graffiti an vielen Hauswänden von Seattle, wo 1999 die Tagung der World Trade Organisation stattfand. Seitdem wird jede Tagung dieser Organisation von großen Protestkundgebungen und den adäquaten Graffiti-Botschaften an den Wänden gesäumt.
In Österreich vergleichsweise wenig Echo in Graffiti fand der Zusammenbruch des Ostblock-Kommunismus. "Altlast=Lüge" oder, aggresiv, "Visum für Ostschweine!" war dennoch mehrmals zu lesen.
Auch die Spaltung der Kultur eines Landes infolge der Transformierung der Ostblockstaaten ins Ideologisch-Westliche wird in der Sprache an den Wänden offenbar: In einer Arbeit, die sich eingehend mit dem herkömmlichen polnischen Ehrbegriff beschäftigt, heißt es, es würden manche junge Polen damit nicht einverstanden sein, "that now Poles seek to emulate the 'businessman'" (Galbraith 1997). Der Profit überlagere die Ehre. Und die alte Inschrift "Gott, Ehre, Vaterland" wurde bereits in Graffiti emittiert, allerdings zu "Gott, Handel, Vaterland" geändert. Das Wort Handel habe in Alltagspolnisch den negativen Beigeschmack unverdienten Profitierens abseits von Idealen.
Man erinnere auch die Spannungen zwischen dem Türkischen Staat und Deutschland und zwischen Deutschland und den dort ansässigen Kurden, ausgelöst durch die Verhaftung des PKK-Chefs Öcalan. Auch in Wien waren plötzlich sehr viele Schablonengraffiti präsent, die Freiheit forderten für das kurdische Volk.
Dazu sei festgehalten, daß das Problem, in einem fremden Land gegen Vorgänge im Mutter-Land aufzutreten, auch die Umwelt- und Friedensbewegung hatten und haben, wenn sie auf Erscheinungen hinweisen, die außerhalb des eigenen Landes verursacht sind.
Eine spezielle Situation ergab sich in Österreich, wo die Anti-AKW-Graffiti letztlich den Ausschluß der kommerziellen Kernkraft im Lande mitzuverantworten hatten. Dennoch finden bis heute Demonstrationen gegen Atomkraft statt. Eines der mobilen Graffiti verdeutlicht die überstaatliche sowie interkulturelle Brisanz des Problems: "Radioaktivität kennt keine Grenzen".
In den thematischen Zusammenhang dieser Tagung gestellt, spielen mengenmäßig auch Demonstrationen von SOS-Mitmensch und anderer Plattformen eine Rolle. Ihre Graffiti-Inhalte sind fremdenfreundlich und antifaschistisch, offenbaren jedoch zugleich vorhandene soziale, kulturelle und religiöse Konflikträume.
In allen Großstädten spiegelt sich starke Fremdenfeindlichkeit und Rechtstendenz in zahllosen Graffiti-Botschaften. Da diese sehr oft beantwortet werden, finden an den Wänden Stellvertreterkämpfe einander diametral gegenüber stehender Gesinnungskulturen statt. Dies geht mitunter sogar so weit, daß Touristen im Ausland Graffiti hinterlassen, die das Problem thematisieren. Hier eines aus Madrid im Sommer 2000, das an einem spanischen Werbeplakat für den Besuch der EXPO in Deutschland stand. Damals waren in unterschiedlichen Gegenden Deutschlands mehrere MigrantInnen ermordet worden. "Besucht die EXPO 2000!" und die handschriftliche Hinzufügung: "Aber die Lebensversicherung wird doppelt so teuer wie der Flugpreis. Die schlagen dort Fremde tot." (Diesen Hinweis verdanke ich dem deutschen Graffitiforscher Axel Thiel.)
In Sachen interkultureller Thematiken äußern sich über Graffiti weit mehr Männer fremdenfeindlich und rechtsgerichtet als Frauen.
Die Frauen-Sprache an den Wänden tritt seit den 70er Jahren für alle sichtbar gegenüber früher besonders hervor. In ihren inschriftlichen Protesten wandten sich Frauen zunächst dem Aufzeigen und der Kritik sozialer Ungleichheitserfahrung zu. Groß war bald die Irritation vieler BürgerInnen, als ihnen das Frauenzeichen immer öfter auch mit verbalen Hinzufügungen in Form emanzipativer Forderungen gegen Männergewalt, Vergewaltigung, Sextourismus und nach gleichberechtigter Sexualitätsausübung auf ihren Alltagswegen begegnete. Entsprechend den gesetzlichen und teils auch lebensweltlichen Fortschritten auf diesen Gebieten verringerte sich die Zahl dieser Graffiti in letzter Zeit.
Die am deutlichsten erkennbaren Brücken zwischen vor allem Jugendlichen aller Kulturen zeigen die LiedGraffiti auf. LiedGraffiti drücken mehrheitlich das Einverständnis aus mit dem, was der/die SolistIn oder die Musikgruppe in Liedern und auch Interviews verbal zum Besten gibt. Er/sie verbalisiert mit den Liedinhalten die unbestimmten Gefühle der Adoleszenten und macht sie sichtbar. Adam Clayton, Bassist der Mega-Gruppe U2, drückt dies in einem Interview bescheiden, aber dennoch exemplarisch aus: "Wir sind bloß eine kleine irische Band, die musiziert und manchmal den Nerv der Leute trifft" (Clayton 2001: 26).
Mit Sicherheit aber sind LiedGraffiti selbst auffällige Manifestationen einer sehr inhomogenen Jugend. Denn Jugendliche sind, wenigstens passager, über die Gruppen, denen und deren Liedern sie anhängen, unterschiedlichen Weltsichten zuordenbar. Es macht einen Unterschied ob jemand per LiedGraffito die Meinung "Fight for Your Right", "Everybody Must Get Stoned", "Heb Deine Hand für das Vaterland" oder "I Love You Forever and Ever" an die Wand oder an öffentliches Mobiliar aufträgt. Darum ist es m.E. nicht ohne Aussagekraft, wenn in manchen Sozialbauten jene Namen von Pop-Gruppen an den Wänden überwiegen, deren Lieder oft dezidiert ausländer- und minderheitenfeindlichen Inhalts sind.
Mitglieder der jeweiligen SympathisantInnengruppe unter den Jugendlichen finden in einem LiedGraffito ein konsensualisierendes Symbol, hinter dessen Aussage sie sich verstecken können und trotzdem der vertretenen Ansicht Raum gewonnen haben. In einem Interview sagte der Rapper Ice-T: "Es geht nicht darum, sich zu bekämpfen. Wir haben hier eine Kultur, darum geht es. Der Kleidungsstil, Graffiti, Breakdance - all dies ist Teil dieser Kultur."
Ich glaube, daß dieses Phänomen für die interkulturelle Erziehung von Bedeutung sein kann.
Es könnte dazu verhelfen, mittels der Sprache der Jugend Interesse und Kompetenz für verbale Auseinandersetzung mit Problemen zu erlangen.
Die Raver kommen mit einer Musik überwiegend ohne Worte aus. Es gibt trotzdem Graffiti der scheinbar wortlosen Raving Society, beispielsweise Reizworte wie "Love, Peace and Unity" oder "Friede, Freude, Eierkuchen". Diese Parolen habe ich an nicht wenigen Stellen Österreichs vorgefunden.
Über das Motto der Berliner Love Parade 1995, "Friede, Freude, Eierkuchen", schreibt die Kulturforscherin Gabriele Klein:
Wer die Parole [...] belächelt oder sich von ihr verschaukelt fühlt, wird bei Bedarf aufgeklärt: Friede steht für Abrüstung, Freude für eine bessere Verständigung der Völker und Eierkuchen für die gerechte Verteilung der Nahrungsmittel in der Welt (1999: 40f.).
Und die Schlagworte "Love, Peace and Unity" würden
im Unterschied zum gewaltvollen, aggressiven Alltag der Druchschnittsdeutschen einen friedlichen, frauen- und homosexuellenfreundlichen, toleranten und respektvollen Umgang miteinander (1999: 38)
bedeuten. 1998 lautete das Paraden-Motto "Kein Mensch ist illegal". Es wird als Graffito-Parole heute noch verwendet.
LiedGraffiti sind neben Graffiti zu den Themen Umwelt oder internationale Politik die am zahlreichsten aufscheinenden grenzüberschreitenden Botschaften, d.h. es existieren hier neue Kulturen internationaler Verbreitung, jenen Menschen eigen, die in wenigen Jahren in die Geschicke der Welt eingreifen werden. Es sind dies Sprößlinge unterschiedlicher Kulturen, die sich ethnisch und auch in bezug auf ihre anerzogenen Kulturpraxen nicht mehr engstirnig gebunden fühlen und sich an offeneren Werten orientieren.
Seit etwa drei Jahren sind LiebesGraffiti, die den Namen nach auf bikulturelle Pärchen hinweisen, im allgemeinen Graffitibild normal. Vielleicht deuten hier die Graffiti in liebenswürdig-schlichter Art eine harmonisierende Tendenz voraus.
Ausgehend von der Annahme, daß Jugendliche eine jugendtypische Ausdrucksform am besten deuten können, unternahm ich den Versuch, drei MigrantInnen, ein achtzehnjähriges Mädchen, deren fünfzehnjährigen Bruder, beide türkischstämmig, und einen siebzehnjährigen serbischen Rom Graffiti in türkischer und serbischer Sprache zwecks Übersetzung zu zeigen und auch bei deutschen WortGraffiti einschätzen zu lassen, ob sie von hier oder im Ausland Geborenen verfaßt wären.
Das Mädchen war strenge Muslimin und wollte Religionslehrerin werden. Sie übersetzte am besten. Bei den zahlreichen sogenannten ordinären Wörtern sagte sie nur: "Das kann ich nicht sagen." Sie wußte die oftmals aufscheinenden türkischen Parteinamen nach dem Grad der Gläubigkeit der Parteien zu unterscheiden. Da sie kaum in den Park ging, kannte sie auch die harmlosen Liebes-Graffiti nicht und entwickelte rasch eine dahingehende Neugier. Sobald jedoch ihr um drei Jahre jüngerer Bruder etwas anders übersetzte als sie, schwieg sie oder gab ihm einfach recht. Dieser wiederum war Meister im Zuordnen von in Graffiti genannten türkischen Fußballstars und in der Kenntnis von Schimpfworten. Er war zwei Jahre in der Türkei zur Schule gegangen, hatte dort viele Graffiti gesehen, aber nur jene wirklich wahrgenommen, die inhaltlich mit Fußball zu tun hatten. Doch gäbe es dort weit mehr Graffiti als bei uns erzählt er. Sein Problem in der Türkei sei gewesen, daß er selber dort nicht als Türke angesehen wurde. Solche Geschichten kamen jeweils hervor, wenn wir fremdenfeindliche Graffiti betrachteten, sowohl solche von ÖsterreicherInnen gegen MigrantInnen als auch die umgekehrte Form, die jedoch weit seltener vorkommt als jene Graffiti, in denen sich MigrantInnen-Gruppen untereinander anfeinden. Dem serbischen Rom beispielsweise fiel im Laufe der Übersetzungs-Treffen auf, daß die im Park Fußball spielenden Burschen oft streiten. Daran wäre noch nichts Außergewöhnliches. Jedoch stellte er fest, und dies entspricht auch dem Bild, welches viele Park-Graffiti liefern, daß etwa ab dem dreizehnten Lebensjahr die Streitereien nicht mehr argumentativ ausgetragen werden, sondern plötzlich die Streitbeteiligten einander ihre Nationalität vorwerfen und von ihrer jeweiligen Sicht aus damit die Aussage des anderen herabmindern.
Aus derlei durch die Graffiti hervorgekommenen Beobachtungen entspannen sich immer wieder Gespräche unter den drei Jugendlichen, die in ihnen eine gewisse Nachdenklichkeit generierten. Sie kamen zum Schluß, daß hinter solchen Vorgängen das Gerede der Eltern und anderer Erwachsener stünde. Sie begannen einander Fragen nach Lebensumständen im Mutterland zu stellen, verglichen mit hiesigen Verhältnissen und stellten sogar manche sich stereotyp wiederholende Graffiti-Aussagen von Leuten ihrer eigenen Nationalität in Frage, die sich von den vorurteilreichsten der ÖsterreicherInnen nicht unterschieden, und die sie in den ersten drei Sitzungen noch parteiisch begrüßt hatten.
Interessant zu sehen war auch, wie das streng religiöse Mädchen, das selbst an den heißesten Tagen in Mantel und Kopftuch dasaß und nur in Begleitung des Bruders kommen durfte, sich ein wenig aus der bestimmenden Umklammerung ihres kleinen Bruders löste, wenn sie in der Hitze solcher Gespräche manchmal darauf vergaß, ihm, dem männlichen Familienmitglied, selbstverständlich recht zu geben, wenn er dies gebot.
Ich fragte die drei Jugendlichen nicht direkt danach, jedoch gewann ich den Eindruck, daß sie bald nicht allein des Übersetzungshonorars wegen unsere Treffen einhielten, sondern auc, weil sie Feuer gefangen hatten an einer Auseinandersetzung über Problematiken, die sie unvermittellt betrafen und deren Stichwortgeber die Graffiti waren.
Als wir uns am Ende des Projekts verabschiedeten, stellten alle drei ÜbersetzerInnen von sich aus fest, daß sich ihr Blick verändert hätte. Sie nahmen offensichtlich mehr von dem wahr, was noch nicht von den ihnen vertrauten elektronischen Medien beschlagnahmt ist.
Die Beschäftigung Jugendlicher mit WortGraffiti der Jugendlichen zugewanderter oder schon heimischer Familien kann diesen anscheinend als Medium Gemeinsamkeiten ihrer altersgemäßen Problematiken offenbaren. Genauso kann sie über Eingehen auf den interkulturellen Anteil der Äußerungen an den Wänden zu gemeinsamen Reflexionen über die Hinlänglichkeit von Vorurteilen führen. Dies bedeutet m.E., daß, von der Praxis des Alltags der Jugendlichen ausgehend, von den Jugendlichen Wissen erworben wird, das schließlich auf einer höheren Ebene des Kommunikationsprozesses wiederum in den Alltag einzufließen vermag.
© Thomas Northoff (Wien)
LITERATUR
Clayton, Adam (2001). Interview mit... Wiener Kurier 17.7.: 26
Galbraith, Marysia (1997). ",A Pole can die for the fatherland. But cannot live for her'. Democratization and the Polish heroic ideal". The Anthropology Review. News Letter of the East European Anthropology Group 15(2). Web online: <http://condor.depaul.edu/~rrotenbe/aeer/aeer15_2.html#Galbraith>; zuletzt besucht: 2004-06-16
ICE-T (1999). Interview mit Gangsta-Rapper... Focus 40
Klein, Gabriele (1999). electronic vibration. Pop Kultur Theorie. Hamburg: Rogner & Bernhard bei 2001
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