Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

1.5. Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gerhard Fröhlich (Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Die vier Kulturen / The four Cultures

Udo Wid (Wien)

Theorie

Auf der Grundlage physikalischer Gegebenheiten bilden sich physiologische. Auf Grund der Wirkungsweise des Gehirns bildet sich die Struktur der Kultur.

Die psychischen Fähigkeiten des (Re)Agierens, Fühlens, Denkens und Wollens haben eigene neuronale Subsysteme ausgebildet, die die hereinkommende Information parallel und teilautonom verarbeiten und dadurch partiell divergierende Repräsentationen der Welt liefern. Die Dynamik dieser Wechselwirkungen bestimmt die Entwicklung einer Persönlichkeit. Analog dazu zeigt die Kultur (als Gesamtheit aller Lebensäußerungen gesehen) ebenso vier Bereiche mit divergenten Wahrnehmungsweisen und Wahrheitstheorien: Wissenschaften, Künste, Religionen/Philosophien und Alltagspraktiken.

Die sowohl innerpersönlich wie auch kulturell durch diese Divergenzen entstehenden Spannungen sind gespeicherte Energie (bzw. Information), die aber nur frei wird, wenn sich zwischen den kulturellen Bereichen Synergien ausbilden können.

" besser wäre eine Kultur, in der es gar nicht lohnend erschiene, eine Auseinandersetzung über die Frage zu führen, ob eine bestimmte neuartige Errungenschaft als 'Kunst' oder 'Philosophie' zu gelten habe " Richard Rorty

Theory

Based on physical facts, physiological ones form. Based on the brain's mode of operation, cultural structure is formed.

Psychic abilities such as (re)acting, feeling, thinking and intending, have developed their own neuronal sub-systems. They process incoming information in a parallel and partly autonomous way and therefore produce partially divergent representations of the world. The dynamics of their interaction causes personality development. Accordingly, culture (understood as the entirety of life-expressions) also reveals four segments with different modes of reception and theories of truth: science, art, religion/philosophy and everyday-life.

Through those divergent realms (both within a person and a culture), tension is accumulated. This energy (=information) can only be set free if synergies are formed between cultural segments.

... it would be a better culture, where no dispute arises, as to whether a new achievement belongs to 'art' or 'science' ... Richard Rorty

Die Natur der Kulturen

Es gibt drei Qualitäten, aus denen sich das raumzeitlich Seiende konstituiert: Masse, Energie und Information. Sie bedingen einander stets, wobei sich ihr Verhältnis M:E:I stets ändert, ihre Summe M+E+I jedoch konstant bleibt (Erweiterter Erhaltungssatz). So, wie sich Masse in Energie verwandeln läßt, muß sich Information in die beiden anderen Qualitäten wandeln lassen

Analog dazu findet man in der Physiologie bei der Entwicklung von tierischem Leben (etwa bei der Zelldifferenzierung einer befruchteten Eizelle) immer drei sogenannte Keimblätter, die sich den physikalischen Qualitäten zuordnen lassen: Aus dem äußeren oder Ektoderm entstehen Haut, Sinne, Gehirn und Nerven, also das System der Informationsverarbeitung. Während sich aus dem eingestülpten inneren Keimblatt, dem Entoderm das Stoffwechselsystem zur Energiegewinnung bildet. Dazwischen entstehen aus dem Mesoderm Knochen und Muskeln als materielles Gerüst ...

Die Information in der Physik als dritte Größe zu postulieren ist noch häretisch. Maxwell hatte vor über hundert Jahren mit seinem 'Dämon` erste Gedankenanstöße gegeben. Über den Entropiebegriff und die statistische Mechanik kommt man zwar zu einer groben Definition von Information etwa durch Prigogine, weiß aber obwohl jeder heute von Information spricht fast nichts über ihre Eigenschaften. Die Theorie der Keimblätter wurde 1817 von C. H. Pander begründet und ist allgemein anerkannt, mein Versuch sie den physikalischen Grundqualitäten zuzuordnen noch nicht ...

Nature of Culture

There are three qualities constituting being within space and time: mass, energy and information. They cause each other, whereby the relation of M:E:I always changes. Nevertheless, their sum, M+E+I, remains constant (extended law of conservation). Therefore, just as mass can be transformed into energy, information must be capable of transformation into the other two qualities.

Analogous to this, in physiology, observing the development of life in a fertilized egg, three so-called blastemata can easily be associated with physical qualities: the body's information system is developed from ectoderm: skin, senses, brain and nerves. Inner organs derive from endoderm as systems of energy-transformation. Finally, bones and muscles originate from the mesoderm as a system of mechanical matter.

To postulate information as third quality is still heretical in physics. Maxwell invented his famous demon a hundred years ago to initiate thought on this theme. Today there is a definition of information, which relies on the concept of entropy and concepts from statistical physics (for example by Prigogine), but although everybody speaks about information, most properties are still unknown. The theory of blastemata was developed by C. H. Pander in 1817 and has been accepted, although not my attempt to associate it with physical qualities ...

Aus dem Ektoderm entwickelt sich durch Faltung das Neuralrohr und daraus das Gehirn. Dies zeigt schon in seiner Entwicklungsphase eine deutliche Vier-Gliederung: Daraus entstehen vier teilautonome Gehirnstrukturen, die jeweils das Zentrum einer speziellen Art von psychischer Funktion sind. Die hereinkommende Information wird parallel verarbeitet und ergibt vier oft divergierende Repräsentationen der Welt und vier verschiedene Antwort-Vektoren darauf: Grund persönlicher und kultureller Differenzierung.

Im Stamm- und Kleinhirn sind nicht nur die Triebe, sondern alle gewohnheitsmäßigen Handlungen programmiert. Ohne daß die Information ins Großhirn gelangt, erfolgt die (Re)Aktion. Ein überwiegender Teil des Alltags verläuft über diese eingegrabenen Bahnen. Treten hier ungewohnte Konstellationen auf, wird die Information im darüberliegenden Zwischenhirn instinkt- und gefühlsmäßig verarbeitet. Innovative Tönungen dieses Bereichs werden Grundlage von Ästhetik und Kunst. Bei zwiespältigen Gefühlen beginnt in der Großhirnrinde das Denken als eine Art von 'Probehandeln`. Gute Lösungen werden zu Wissen, methodisch geschaffen zur Wissenschaft. Das Stirnhirn ist evolutionär am jüngsten und noch in Entwicklung: Zentrum von Individualität, persönlichem Wollen und Sollen, also von (normativer) Philosophie, Religion, Ethik.

MacLean stellte 1970 von evolutionsbiologischen Überlegungen ausgehend, die Konzeption eines 'dreieinigen`, 'triune brain` vor, das sich aber nur ansatzweise mit obigen Überlegungen vergleichen läßt. Das Stirnhirn (lobo frontalis) als eigenes, persönlichkeitsbestimmendes Subsystem zu sehen, legen neurochirurgische Befunde nahe.

From ectoderm the neural-tube developes by folding ,Out of this, the brain is formed and in the earliest phases it shows a quartered geometry. Four partly autonom brain-structures, with special psychological functions are the result. The incoming information is parallel-processed and produces four diverging representations of world and four different answering vectors, This is the physiological base of personal and cultural differenciation.

Brain stern (and cerebellum) are not only the location of instincts, but also of every-day-actions: Information often does not reach cerebrum and reactions are induced automatically, Most of everyday-habit is running within this engrams, If unusual constellations appear, information is transfered to diencephalon, where it is treated emotionally. Innovative movements of this region are the base of aesthetics and art. If ambivalent feelings appear, the process of thinking starts in the cortex: a kind of test-action, without sweat, Good solutions become knowledge and the method of collecting knowledge is called science. The frontal brain -center of individuallity and personal will, location of (normative) philosophy, religion and ethics -is still developing.

MacLean worked out the conception 01 a 'triune brain' by considerations of evolutionary biology in 1970. This model only patially converges with the considerations made above. To define the frontal brain as functional system sui generis is caused by results of neurochirurgy.

Kulturelles Feld

Cultural Field

Struktur und Dynamik

Auf Grund der vier unterschiedlichen psychischen Funktionen haben sich vier Kulturbereiche herausgebildet, die sich (in ihren avancierten Ausprägungen) durch unterschiedliche Sprachspiele, Lebensformen und Traditionen voneinander abgrenzen.

Ähnlich aber ist ihre jeweilige innere Entwicklungsdynamik: Die Spannung zwischen dem Drang (bzw. Zwang) nach Neuem und dem Verwalten des Alten will gelöst sein: evolutionär oder revolutionär. Die neuen Lösungen werden dann durch einen kritischen Prozeß über den Konsens der Mitspieler ev. in den bestehenden Kanon aufgenommen und modifizieren ihn. Jeder der kulturellen Bereiche zeigt daher eine ähnliche Feinstruktur: Die Avantgarden agieren innovativ und differenziert, während ein Klassikbereich zwar differenziert, aber wenig innovativ das Alte verwaltet. Dann gibt es noch einen Populärkulturbereich, der zwar innovativ aber weniger differenziert oft die Errungenschaften früherer Avantgarden popularisiert. Und es gibt einen volkstümlichen Bereich, der weder sehr innovativ noch sehr differenziert arbeitet. Über all dem hat sich meist noch ein Theorie- und Geschichtsbereich (wie z.B. Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte) etabliert.

Was aber die kulturellen Bereiche voneinander abgrenzt, sind ihre unterschiedlichen Blickrichtungen und Wahrheitstheorien: Geht es in der Wissenschaft um die erklärende Korrespondenz von Sachverhalt und Beschreibung, ist in der Kunst die erlebbare Kohärenz des Artefakts das Ziel. Dagegen stehen den Evidenz-Einsichten der (normativen) Philosophie und Religion die pragmatischen Wahrheiten der Alltagswelt gegenüber.

So wie ein Mensch zeigen alle Kulturen auch ähnlich ablaufende Abschnitte wie Kindheit, Jugend, Erwachsenenzeit und Alter. Bei dieser Entwicklung bildet immer abwechselnd einer der kulturellen Bereiche mit seiner Methode das Zentrum und dominiert die anderen. In Stammeskulturen (etwa noch der Völkerwanderungszeit) war es die Pragmatik des Überlebens, im Mittelalter die Ethik der Kirche, in der Neuzeit die Rationalität der (Natur)Wissenschaften und in der Nach-Moderne wird es die Ästhetik (nicht eigentlich die Kunst) sein, die das kulturelle Feld und damit die Art das Gegebene wahrzunehmen bestimmt.

Heute, im Übergang von Moderne zu Nach-Moderne, wird die Differenz der vier kulturellen Bereiche besonders spürbar, weil die Rationalität die Kraft verbindender Sinnstiftung verloren, die Ästhetik aber noch keine Methode entwickelt hat, sich als neue Art zu behaupten. Nur eine Synergie der zerstreuten Disziplinen auf der Basis einer weiter entwickelten Ästhetik wird das schaffen

Obige Überlegungen wollen die Verschiedenheit der in der Epistemologie diskutierten Wahrheitstheorien auf eine physiologisch/psychologisch bedingte Vierheit zurückführen, die sich auch in der Struktur des kulturellen Feldes wiederfindet, dessen Entwicklung wiederum Parallelen zu der in ihr lebenden Individuen zeigt. Ernst Cassirers Begriff der symbolischen Form, Toynbees Vorstellungen über den Werdegang von Kulturen, Haeckels biogenetisches Grundgesetz und Bourdieus Feldbegriff waren wichtige Anregungen, selbst über diese Themen nachzudenken.

Structure + Dynamik

Based on four different psychic functions, four cultural segments unfolded, separated by different languages, ways of living and traditions. Similar, however, is their respective inner development dynamics: tension between desire for innovation and administration of tradition has to be released in either an evolutionary or a revolutionary way.

New solutions are examined and modified by the agreement of participants. Each of the cultural fields has its own very delicate structure. The avant-garde acts innovatively and sophisticatedly, the classical realm also acts in a sophisticated way, but is less innovative. The realm of popular culture deals with formerly innovative developments of a past avant-garde in a popular way. In addition, there is a folklore area that is neither innovative nor sophisticated. On top of all this, a theoretical- and historical area exists (for example, the theory of science or history of science).

What separate cultural fields, are their different points of view and theories of perception: science is dedicated to the correspondence of fact and description, art's aim is to experience coherence of the artifact. (Normative) philosophy and religion's evidential insights face the pragmatic truth of the everyday world.

Similar to human beings, all cultures show periods such as childhood, youth, adult and old age. This evolution consists of changing cultural fields, one of them (and its methods) dominates each period. In a culture of clans (like the period of the migration of peoples) pragmatic survival was useful, during the middle ages, theological ethics, in modern times, perhaps it is rational scientific thought and post-modernism that claim an aesthetic point of view (not really artistic) to dominate the cultural field and perception.

In the current change from modernism to post-modernism, the difference between the four described cultural areas is remarkable. Rational thought is about to lose its importance although aesthetics has not yet developed methods to become dominant. Only a synergy of divergent disciplines based in a more highly developed aesthetics might achieve that ...

The above reflections try to trace differences in theories of truth, as discussed by epistemology, back to a physiological (psychologically conditioned quaternary) which is also reflected in the structures of the culturally based area, whose form likewise finds parallels in the individuals living within. Ernst Cassirer's notion of symbolic figures, Toynbee's introduction of the development of cultures, Haeckel's biogenetical fundamental idea and Bourdieu's concept of cultural domains have been important impulses for reflection on these subjects.

Alltag

Wenn man Kultur als die Gesamtheit der Lebensäußerungen einer Gruppe versteht, macht der Alltag 90% der Lebenswelt aus, während Wissenschaften, Philosophien/Religionen und Künste als pure Luxusartikel erscheinen. Und obwohl dieser Bereich seine eigenen Gesetzmäßigkeiten zeigt, ist er in der Kulturphilosophie kaum je als eigenständige Kategorie behandelt worden. Es wäre wichtig, das Nützliche als vierte philosophische Qualität gegenüber dem 'Guten, Wahren und Schönen` grundlegend zu etablieren.

Am Anfang einer Kultur und bei jedem Kleinkind geht es um das Erlernen von (Über)Lebenstechniken: Jagd, Ackerbau und Viehzucht in Stammeskulturen, um das Erlernen motorischer Fähigkeiten beim Kind. Eingebettet in die Rhythmen der Mutter (Natur) verläuft die Zeit zyklisch und bedingt nützlich-magische Totem-und-Tabu-Rituale. Gewohnheiten werden durch Üben internalisiert. Alles Fühlen und das entstehende Denken ist der Nützlichkeitsmaxime des Handelns dabei untergeordnet. Diese Muster bilden die Grundlage des weiteren Lebens, bzw. der Kulturentwicklung. Technik, Wirtschaft, Administration, Politik, alles gehorcht dem Gesetz der Machbarkeit. Ethische Haltungen kommen damit oft in Divergenz.

Die Wahrheitstheorie, die den Alltag beherrscht kann als Pragmatische Präferenz bezeichnet werden. Für pragmatistische Philosophen macht es wenig Sinn, über ewig gültige oder objektive Wahrheiten nachzudenken, weil wir sie nach ihrer Vorstellung nicht finden können.

WAHR IST WAS SICH ZUR VERBESSERUNG DES LEBENS BEWÄHRT.

William James drückt das so aus: "Wahr ist, was für uns zu glauben besser ist." Das erfordert natürlich eine weitere Definiton des Wortes 'besser` Ch. S. Peirce hat dieser pragmatischen noch eine Konsenstheorie der Wahrheit hinzugefügt: 'Wahr ist, worüber in einer Gruppe von Kompetenten Konsens hergestellt wird.

Everyday-Life

If culture is understood as the totality of a groups' manifestations of life, everyday-life occupies 90% of it whereas science, philosophy/religion and art seem pure luxuries. In addition, although this cultural segment follows its own rules, it has hardly been treated as a separate subject by the philosophy of culture. It would be important to treat 'the useful' as the fourth philosophical quality to complement 'the good, truth and beauty'. At the beginning of a culture and the life (of every infant) learning survival-techniques is essential. Hunting, farming and animal breeding are important for archaic tribes and learning motor skills is important for a baby. Kept within the rhythm of the mother (nature), time passes cyclically, causing useful-magic totems and taboos. Habits are established by practice. Feeling and the thinking which ensues is still subject to the behavioral utility maxim. These patterns form the base for future life and cultural development. Technology, economics, administration, and politics all follow the rules of possibility. Ethical attitudes frequently diverge from this.

The Theory of Truth, ruling everyday-life, might be called pragmatic preference. To pragmatic philosophers there is no use in thinking about eternal or objective truth because this does not exist within their concepts.

WHAT MAY IMPROVE LIFE IS TRUE.

William James said: True is, what is better for us to believe. Of course, this requires a definition of the word 'better' ... Ch. S. Peirce added to this pragmatic theory: truth is, when a consensus is formed among competent people.

Philosophie

Unter Philosophie sei hier alles zusammengefaßt, was normativ ist, d.h. axiomatisch gesetzt wird, ohne logisch bewiesen werden zu können: also Ethik, Metaphysik, Religion und Ideologie.

Im Verlaufe seiner Entwicklung kommt der Mensch (und die Kultur) zu einem Punkt, wo die soziale Umwelt komplexer wird: Das Heraustreten aus Familie und Sippe und das beginnende Leben in Städten, wie im Mittelalter, bringt den 'Prozeß der Zivilisation` in Gang. Ein langsam entstehendes Ego muß eine ethische Instanz internalisieren, um seine Affekte zu kontrollieren. Die Kirche im Mittelalter ist daher weniger eine religiöse als eine moralische Anstalt. Sie dominiert alle anderen kulturellen Bereiche: Wissen, Künste, sogar den Handel. Für den Jugendlichen ist die Schule jene moralische Anstalt.

Die Philosophie hat sich etwa mit Descartes von der Theologie gelöst. Obwohl ihr Vorgehen logisch-schließend ist, muß an gewisse Grundannahmen geglaubt werden. Jeder Philosoph wählt aber andere Grundannahmen und kommt so zu anderen Ergebnissen, was Bertrand Russel den "Skandal der Philosophie" genannt hat. Trotzdem erzeugt dieser Bereich, der bei jedem als 'Über-Ich` kaum bewußt und kaum hinterfragt vorhanden ist, den 'Sinn` des Handelns. Dieser Bereich des Sollens und Wollens kommt daher oft mit den Mechanismen des Denkens und Fühlens in Konflikt. Im kulturellen Feld ist die Auseinandersetzung zwischen Ethik und angewandter Wissenschaft (eigentlich Technologie) heute besonders aktiv.

Die im normativ-philosophischen Feld gängige Wahrheitstheorie könnte man als vermittelte Evidenz bezeichnen:

WAHR IST, WAS EVIDENT EINLEUCHTET.

In Edmund Husserls Phänomenologie wird die Evidenz als eine Art mögliche Wesensschau der Dinge (auch des Alltags) verstanden. (Selbst habe ich den Begriff des Evidenzerlebnisses versucht zu beschreiben: Udo Wid, Kultur als Spiel ums Evidenzerlebnis, Aufsatz in: Fiction, Nonfiction, Residenz Verlag 1995)

Philosophy

Philosophy, in this context, is understood as having a normative quality which cannot be proven: ethics, metaphysics, religion, ideology.

During development, the human being (and culture) reaches a point, where the world around it becomes increasingly complicated. Leaving the family or clan, beginning to live in towns - which happened during the Middle Ages - starts a "process of civilization". A slowly unfolding ego has to spiritualize ethical authorities in order to control its emotions. Therefore, middle-age theology is more of an authority of morals than of religion. It dominates all the other cultural domains; as knowledge, arts, even trade. Today, the moral authority for young people is meant to be education.

Philosophy has split from theology (Descartes). Although its procedures are logical, some basic hypotheses must be accepted. However, each philosophy chooses different hypotheses and reaches different results, which Bertrand Russel calls the "scandal of philosophy". Nonetheless, this domain constructs the meaning of action - a kind of unquestioned super-ego. This domain of shall and will, frequently conflicts with feeling and thinking. In cultural fields, the dispute between ethics and applied science progresses vehemently.

A theory of truth as used within the normative-philosophical field could be called mediating evidence.

WHAT IS EXPERIENCED AS EVIDENT IS TRUE

Edmund Husserl's phenomenology describes evidence as a kind of possible virtue of things and triviality. I have attempted to describe the idea, "experience of evidence" in the essay: Fiction, Nonfiction, Residenzverlag 1998

Wissenschaft

Die Kultur (bzw. das Individuum) kommt in ihrer Entwicklung (hoffentlich) zu einem Punkt, wo sie sich aus ihrer schülerhaften 'selbstverschuldeten Unmündigkeit` durch kritisches Denken und die Waffe der Logik befreit und erwachsen wird. Galilei mußte mit der auf Offenbarung und Glauben basierenden Kirche in Konflikt kommen, weil er behauptete, die Wahrheit durch logisches Denken beweisen zu können. Doch diese Methode war reif sich durchzusetzen und bildete mit den (Natur)Wissenschaften als Zentrum bis heute die Leitdisziplin unserer Kultur und Methode der Welterklärung. Alltagspraxis und selbst Ethik wurden daher rational begründet, und die Künste bildeten dazu den notwendigen Ort emotionaler Entspannung vom 'kritisch/analytischen Geschäft`.

Die Methode der Wissenschaft ist die des Reduktionismus: Die Welt wird auf eine möglichst geringe Zahl (möglichst quantifizierbarer) Qualitäten und ihrer Wechselwirkungen reduziert. Ziel ist die TOE (Theory of Everything), die alles Seiende auf eine Kraft und ihre Feldgleichung reduziert. Diese Methode fasziniert natürlich durch ihre apollinische Klarheit, stößt aber überall dort an ihre Grenzen, wo es um komplexe Systeme (und real gibt es nur solche) mit vielen sich ständig nichtlinear änderenden Variablen geht, wie Wetter, Lebensvorgänge oder eben kulturelle Prozesse. Was die Wissenschaften noch zusammenhält ist eine gemeinsame Wahrheitstheorie, die schon von Aristoteles stammt und Korrespondenztheorie der Wahrheit genannt wird:

WAHR IST, WENN SACHVERHALT UND BESCHREIBUNG KORRESPONDIEREN

In der modernen Wissenschaftstheorie wird die Korrespondenztheorie oft etwas modifiziert. Etwa bei Karl Popper, der eine Korrespondenz nur so lange für wahr hält, solange sie nicht falsifiziert werden kann. Oder bei Paul Feyerabend, der (analog zur Kunst) verschiedene 'Stile` einer Korrespondenz postuliert und sie dadurch sehr relativiert.

Science

Culture (the individual) grows to a state, which enables it to leave its epigonal "own-faulted minority." Discerning and a logical way of thinking help it reach maturity. Galilee conflicted with theology by declaring that he was able to prove truth logically. This method was successful and until today, it remains the main natural science discipline as well as a method of explaining worldly wisdom.

Everyday life and religion were based in rationality, the arts formed a place of emotional rest.

Sciences' method is reductionism. The world around us is reduced to the least number of qualities and interactions. The purpose of science is to find a "theory of everything (TOE)" which explains all existing phenomena by only one power. This method is fascinating for its apollonian simplicity, but it reaches its borders where complex systems (which exist in the real world) must be explained. For example, numerous permanently changing variables such as weather, processes of life, or cultural proceedings. What still holds science together is a common theory of truth, coming from Aristotle, called the correspondential theory of truth.

WHEN FACT AND DESCRIPTION CORRESPOND, IT IS TRUE

In the modern theory of science, correspondence theories are often modified. Karl Popper, for example, accepts a correspondence as long as it cannot be falsified. Or Paul Feyerabend, who postulates various styles of correspondence and in doing so, greatly relativizes them.

Kunst

Eine fortgeschrittene Kultur (oder Person), deren dominante Methode die Ratio geworden ist, kann an ihre Grenzen stoßen. Der Gödelsche Beweis für die mathematische Logik, das Komplementaritätsprinzip in der Quantenmechanik sind solche Punkte, wo exakte Eindeutigkeit brüchig wird; auch alle Bereiche, wo heute die Wissenschaft versucht, sich realen und daher komplexen, informatorisch gesteuerten Systemen zu nähern. Bei Simulationen mit vielen Variablen, bei denen zukünftige Entwicklungen berechnet werden, entstehen viele logisch gleichwertige Lösungsmuster nebeneinander. Welches etwa als Richtlinie gewählt wird, wird zu einer Frage der Ästhetik. So wird in der nachmodernen Altersphase der Kultur (oder Person) die unmittelbar auch emotional erlebbare Kohärenz von Zusammenhängen die avancierteste Erkenntnismöglichkeit. Und obwohl ich mir die heutigen Künste noch nicht als Leitdisziplin einer künftigen Gesellschaft vorstellen kann, wird es doch eine Art ästhetische Theorie und Praxis sein, die das leistet. Sie wird die verästelten Bereiche der Kultur synergetisch verbinden soweit das in einer pluralistisch-ausdifferenzierten Spätzeit möglich ist. "Die Wissenschaft unter dem Blickwinkel der Kunst, die Kunst aber unter der des Lebens zu sehen", fordert Nietzsche schon vor über hundert Jahren

Bei einer ästhetisch bestimmten Wahrheitstheorie muß es um die In-sich-Kohärenz eines Artefakts gehen, die keine mimetische Korrespondenz zu einem Sachverhalt voraussetzt. Das verlangt vom Künstler, daß er das Zuständliche ins Gegenständliche, und vom Rezipienten, daß er das gegenständliche Artefakt wieder ins Zuständliche transformiert. Bei diesem Vorgang gilt:

WAHR IST, WAS ALS KOHÄRENZ ERLEBBAR WIRD.

Dabei ist mit Kohärenz nicht notwendigerweise etwas Harmonisches gemeint. Denn das Artefakt ist immer nur in in Verbindung mit seinem Um-Feld und dessen Entwicklung und die Kohärenz aus einem Spiel zwischen Redundanz und Innovation innerhalb dieses Feldes zu verstehen

Art

An advanced civilization or person, whose main method has become rationality, may reach its limits. Goedl's evidence of mathematical logic, the principle of complimentarity in quantum mechanics, is such a point where exact clarity becomes dubious, as do all branches of science attempting to approach complex systems with exact definitions. Simulations with numerous variables in which future developments must be considered, offer many logically equivalent results. The choice is a matter of aesthetics. In this way, during the post-modern stage of civilization, emotional experiences of coherent connections became the most advanced possibility for an event. Although I cannot imagine contemporary art as a main discipline of an emerging society, there will be a kind of aesthetic theory and practice. It will combine ramified branches of civilization in a synergetic way to the extent that this is possible during a pluralist epoch. A hundred years ago, Nietzsche asked: "to see science from art's point of view, but art from life's point of view" ...

The self-reflective coherence of artifacts must provide the principle for an aesthetic theory of truth, without mimetic correspondence to facts. The artist is responsible for transforming the condition into object. The viewer is requested to transform the object into an emotional value.

WHAT IS EXPERIENCED AS CORRESPONDENCE IS TRUE;

Coherence is not necessarily harmony. Artifacts can only be seen in connection with their surroundings. Coherence is to be understood as a game of redundancy and innovation ...

© Udo Wid (Wien)

1.5. Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)

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TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  15 Nr.


For quotation purposes:
Udo Wid (Wien): Die vier Kulturen / The four Cultures. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_5/wid15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 9.9.2004    INST