Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | August 2004 | |
1.6. The Unifying Method of
the Humanities, Social Sciences and Natural Sciences: The Method
of Transdisciplinarity Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Thomas Pilz (Architekt, Graz, Österreich)
Vortragstitel, die einen plakativen Widerspruch schroff artikulieren, erscheinen oft schrecklich. Und zugleich irgendwie anziehend. Anziehender Schrecken? Attraktion durch Terror? Umgekehrt, davon gehe ich aus, wissen wir, wovon die Rede ist, wenn gesagt wird, wir werden vom allgegenwärtigen Konzert der uns umgebenden Attraktionen terrorisiert.
Lösen wir den dialektisch verknoteten Widerspruch von Schrecken und Anziehung zunächst auf, indem wir daran erinnern, daß die Begriffe Terror - Schrecken - und Attraktion - Anziehung - kein klares Gegensatzpaar bilden. Gegensatz des Schreckens wäre die Beruhigung, Gegensatz des Anziehenden das Abstoßende. Dennoch scheinen beide Phänomene der Gegenwartswelt psychosozial auf eine seltsame Art miteinander zu spielen. Das geht über jene Anziehungskraft hinaus, die unseren Blick gegen unseren Willen auf sich zieht, wenn wir auf der Straße Menschen begegnen, die durch Verletzungen verstümmelt sind. Wer sich an die Life-Übertragungen vom 11. September 2001 erinnert und an die refrainartigen Wiederholungen der kurzen Filmstreifen - in eleganten Kurven fliegen Flugzeuge in die Hochhäuser -, begleitet von ermatteten Kommentatorenstimmen, die teilweise voreilig ein neues Weltalter ausrufen (seit heute ist unsere geeinte Welt eine andere...) - wer sich dies vergegenwärtigt, der wird sich an das beunruhigende Verschmelzen von Terror und Attraktion erinnern, das sich im Betrachten dieser Bilder vollzog. Nicht hinzusehen, war da eine bewusste Entscheidung. Wobei, nebenbei bemerkt, die Bilder ikonographisch betrachtet keine motivgeschichtliche Neuerfindung waren; die Bildmotive von Flugzeugen oder Helikoptern, die in Hochhäuser krachen und diese spektakulär zum Einstürzen bringen, sind in den späten Neunzigerjahren in Filmen wie Matrix oder Fight-Club vorgezeichnet - um nur zwei Beispiele von Filmen zu nennen, die über die eingeschworene Horrorgemeinde hinaus ein breites Publikum gefunden haben. Schwer zu bestreiten, dass unsere Zivilisation den Traum von der schrecklich-schönen Zerstörung latent träumt. Der Schritt von der Fiktion zur Realität bewirkt eine weitere Steigerung der Attraktion.
Ich möchte mich im Folgenden nicht auf Großereignisse des beschriebenen Typs beziehen, sondern die Zurüstung zur Attraktion in unserer alltäglichen Lebenswelt in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang stellen. Wer heute in den Gesellschaften der nördlichen Hemisphäre lebt, kennt die schleichend intensive Belagerung jedes einzelnen durch die zum Reiz stilisierten Angebote, die zugleich Aufforderung und Versprechen sind. Ein unermeßlicher Teil kreativer Intelligenz in unseren Gesellschaften wird darauf verwendet, Mittel zu erfinden, wie uns Botschaften überhaupt noch ansprechen, reizen und locken können. Dabei ist die Botschaft nahezu immer dieselbe, denn in den meisten Fällen lautet ihr unmißverständlicher Imperativ: wähle, zahle, kaufe! Die 'Kunst' der jeweiligen Performance besteht darin, uns überhaupt zu erreichen und zu einer Reaktion zu zwingen, und sei diese ablehnend oder distanzierend. Die unter ökonomischem Diktat perfektionierte Verführungskunst kämpft um unsere Aufmerksamkeit und setzt dabei nahezu jedes Mittel ein, wenn es nur effektvoll ist: Betroffenheit und Geiz, Nachdenklichkeit und Gier, Sehnsucht und Überdruss, Übermut und Angst - die Liste ließe sich erweitern zu einer vollständigen Aufzählung aller Affekte, die uns - bewusst, unbewusst oder in komplizierten Konstellationen der Halbbewusstheit - innerlich bewegen. Die Summe der vom modernen Marketing evozierten Empfindungsweisen ergibt ebenso eine Enzyklopädie der Gegenwartspsychologie, wie dies im Mittelalter die Lehre von den Sieben Todsünden des Thomas von Aquin getan hat. In beiden Fällen geht es um die Erfassung unserer Empfindungsfähigkeit jenseits therapeutischer Ambitionen. Wenn es in allen Hochkulturen der Welt bestimmte Affekte gab, die in der Werteskala der edleren und der zu überwindenden Neigungen unten standen (etwa: Geiz, Neid, Gier), so werden sie in der globalisierten Kommerzgesellschaft als bisher ungenütztes Kapital des neuen Profits entdeckt: Geiz ist geil - und kann, wie wir das vor allem in den westeuropäischen Demokratien beobachten, politisch scharf gemacht werden.
In der Spaßgesellschaft wird der einzelne nicht mehr im Horizont des Guten oder Bösen vor die Frage nach dem richtigen oder falschen Handeln gestellt, in der Spaßgesellschaft werden wir von der permanenten Aufforderung begleitet, den inneren Erlebnisfaktor durch die Wahl des richtigen Produkts zu steigern. Intensität ist der Gradmesser des gelingenden Lebens, die maximale Erlebnisausbeute wird zum Horizont des persönlichen Erfolgs. Das neue Himmelreich ist der durch den Einsatz rückhaltloser Erlebnisbereitschaft verdiente Eintritt in die heitere Internationale der Endverbraucher. Das Paradigma des Konsums - des Verbrauchs - erstreckt sich auf Gedanken, Empfindungen und Erlebnisse. Lebensentscheidungen sind keine Frage großer Entwürfe, pathetischer Geschichten oder des Engagements für die richtige Sache; die tägliche, permanent kitzelnde Entscheidung ist die über den Ankauf der angemessenen Attribute für das individuell ausgekleidete Bewusstseinsdesign: je minimaler die Gründe für dies oder jenes werden, umso intensiver werden selbst minimale Entscheidungen stilisiert. Zeige mir welche Pizza du aus dem Menü wählst, welches Auto du bestellst, welchen Urlaub du buchst - und ich sage dir, wie es um deine Bereitschaft steht, im Konzert des generalisierten Konsums mitzuspielen. "Durch die neue Metaphysik des Verbrauchs verdunstet der alte ernste Mensch."(1)
Wenn Konsum und das damit verbundene Produktmarketing an die Stelle von Lebensgestaltung und Diskurs treten, verändert das prinzipiell die Perspektiven des strategischen Handelns. Begriffe wie Stadtmarketing sind eine Folge dieser Veränderung. Ein zentrales Motiv ist dabei die Schaffung von - tourismusorientierten - Attraktionen. Vor allem spektakuläre Gebäude, deren mediales Echo rund um den Globus reicht, sollen Weltregionen wieder ins Bewusstsein heben, die lange im Abseits standen. Die Attraktion steigert den Realitätsgrad des Ortes, weil das mediale Echo seine Wahrnehmung verstärkt. Es entstehen neue Identitäten; wobei Identität heißt: anhand von Attraktionszeichen erkennbar sein für Käufer, Konsumenten und Touristen.
Die Zauberformel lautet: Wiedererkennungswert. In der Marke leben: Das ist allemal besser als daneben zu sein.
Wir sehen das Bild, und der Sirenengesang verheißt: Bilbao.
Abbildung 1: Gehry; Walt Disney Concert Hall; aus: der Standard.
In Anlehnung an Rene Magrittes Bedeutungsspiele - Dies ist keine Pfeife - ließe sich unter dieses Bild schreiben: Das ist nicht Bilbao. - Ist es auch nicht, denn es ist die Walt Disney Concert Hall in Los Angeles, freilich vom gleichen Architekten, Frank Gehry.
Abbildung 2: Guggenheim Museum, Bilbao, aus: Google Bildarchiv.
Schlimmer als das Wechselspiel von Original und Fälschung wirkt die Addition von Werk und Wiederholung. Man sollte die Erfinder von Wahrzeichen vertraglich dazu verpflichten, dem einmaligen Werk kein weiteres folgen zu lassen, zumindest keines, das an das erste erinnert. Die zweite Attraktion offenbart die Vordergründigkeit der ersten, wenn diese ihre Qualitäten jenseits von Aufregung und Einmaligkeit nicht entfalten konnte. So werden auch Architekturen zu medialen Verbrauchs-Gegenständen. Es ist ein wenig, als hätte sich die Zirkustruppe dazu entschlossen, ihr ausgedientes Zirkuszelt nicht mehr mitzunehmen in die nächste Stadt. Der Jahrmarkt duldet keine Wiederholung. Jede neue Attraktion entwertet die vorangegangene. Das Prinzip der Erkennbarkeit durch Aufregung hat seine gnadenlose Kehrseite, denn mit dem Verblassen der Aufgeregtheit droht der alternde Erreger in die Bedeutungslosigkeit zu sinken.
Das Prinzip der Attraktion heißt Steigerung durch Konkurrenz. Im Kampf um Aufmerksamkeit will jede Attraktion sich abgrenzen und herausheben. Das Ergebnis dieses Prinzips läßt sich wahrscheinlich nirgends so ausführlich studieren wie in den zerklüfteten Landschaften am Rand unserer Städte, in der Peripherie, in der Zwischenstadt. Große Gebiete werden zu Schlachtfeldern des Konkurrenzkampfes, der sich in keine urbanistische Ordnung integrieren läßt. Hier werden Konsumfelder aufgebaut, nicht Lebensräume gestaltet. Die bewusste Beziehungslosigkeit aller Gebäude ist die unmittelbare Konsequenz. Das Einzelgebilde in der Zwischenstadt kann nur für sich schön, intelligent, funktional oder schlicht beeindruckend sein, nicht durch Bezugnahme auf einen Kontext, der schon als verheerend empfunden wird. Es kann sich einfügen nur durch Abgrenzung, als Inselbildung oder durch starke Ausstrahlung, die autistisch auf sich bezogen bleibt und keine Gelegenheit ausläßt, auf die eigene Präsenz zu verweisen. Attraktionen erzwingen Attraktionen. Hat das Konkurrenzprinzip einmal den Kontext zerfetzt, funktioniert alles nach dem Vitalitätsprinzip des Jahrmarkts. Bestimmend ist, wer die lautesten sinnlichen Akzente setzt und am besten zu reizen versteht. Der ökonomische Selbsterhaltungstrieb scheint dazu zu zwingen; denn, und auch diese Seite gehört zum Spiel: der Kunde ist brutal. Er folgt der größten Attraktion.
Nicht jede Attraktion wirkt angenehm, unterhaltsam oder schmeichelnd. In zunehmend perfektionierten Formen lebt in unseren Gesellschaften die Lust an der Überraschung, die Faszination durch das Grausame, die Attraktion des Schrecklichen. Und: Attraktionen sind nicht a priori Ausnahmezustände. Die alltäglichste Schreckens-Attraktion unserer Tage sind die sogenannten reality-shows im Fernsehen. Sie kombinieren Elemente des griechischen Tragödientheaters mit Motiven der römischen Gladiatorenkämpfe. Die Dramen temporärer Familien in Containern oder orangen Taxis, der singende Griff nach Sternen oder das Verleihen von verabschiedenden Rosen spielen mit dem griechischen Modus der Reinigung durch Erschütterung, sofern sie familieninterne Dramen von Treue, Verrat und Unheil inszenieren. Sie rekonstruieren das römische Motiv der Unterhaltung durch Entsetzen, sofern sie die Termination von Kandidaten in Echtzeit zeigen. In den Gladiatorenkämpfen fand das langsam versinkende römische Imperium seine zugleich schreckliche und symbolträchtige Unterhaltung. Der Schrecken: Die Wahrheit des Gladiatorenkampfs ist die Unentrinnbarkeit des realen Todes, die der Gladiator intensiviert, indem er sich kämpfend widersetzt; und was kann intensiver sein als die reale Todesangst des Kandidaten. Die Symbolkraft liegt genau in diesem Terminationsmotiv: wir sind alle Noch-Lebende in der vita brevis, wir sind die, deren Termin noch nicht gekommen ist. Auch im Reality TV spielen lauter nette Leute nach fatalen Spielregeln die Termination, den sozialen Medientod. Die Unentrinnbarkeit auch dieses Todes funktioniert durch die Sendung des Geschehens in Echtzeit; es werden keine Sieger gekürt oder direkt bestimmt, es wird abgewählt, terminiert. Sieger ist, wer - noch - bleiben darf. Wann haben wir zuletzt so vielen Verlierern ins Gesicht sehen dürfen (oder müssen) im Augenblick der Niederlage, im Vollzug des Medien-Tods?
Leben wir heute in der Gesellschaft der Attraktionen - in Weiterentwicklung jener Gesellschaft, die Guy Debord schon 1967 als Gesellschaft des Spektakels(2) vernichtend analysiert hat als jene Gesellschaftsform, in der sich der endgültige Sieg des Konsums über die Freiheit breit macht? Zerstreuung ist alles, Freiheit nichts? Kultur ist, wie Adorno gegen Ende des 2. Weltkriegs ahnte, in der Kulturindustrie zum Massenbetrug geworden?(3) Wer die neuen Max-Kinos an den Rändern unserer Städte sieht, Trapezblechhütten, die von Industriehallen nur durch ihre Kriegsbemalung und die Größe des umgebenden Parkplatzsees zu unterscheiden sind, mag in diesen Containern der Zerstreuung die industrielle Form der Ausbeutung des Unterhaltungstriebes erkennen. Wir leben in der Welt der schäbigen Überwältigungsästhetik.
Aber man muß ja schließlich nicht hingehen, könnte man einwenden. Wer sich dem Sog der Attraktionsindustrie entziehen will, wird eine andere Art des Umschlags erleben: Die von Attraktion zu Terror. Denn Attraktion wird zum Terror in dem genau dem Augenblick, in dem wir nicht mehr angezogen werden, weil uns der Gesang der Sirenen nicht mehr zu locken vermag; dann wird alles penetrant, dann tritt das verschmähte Objekt der Begierde aufdringlich auf. Was ist häßlicher als eine verführungslos gewordene Attraktion? Was ist lästiger, was trauriger?
Keine Frage, Attraktion ist kein positiv besetzter Begriff. Attraktionen sind assoziativ mit Jahrmarkt, Rummel und Zerstreuung verbunden und sprechen jene Neigungen an, die früher kurzerhand die niederen genannt worden sind. Seit der gesellschaftliche Bezugsrahmen von hoher und niederer Kultur seine unbestrittene Verbindlichkeit verloren hat, ist die Attraktion jedoch durchaus salonfähig geworden. Ihr zu erliegen, sich ihr hinzugeben oder mit ihr genußvoll zu spielen ist heute kein gesellschaftlich negativ bewertetes Verhalten, sondern gehört mitunter zur selbstbewussten Alltagsathletik uneingeschüchterter Subjekte.
Pädagogen hingegen klagen darüber, dass durch die Attraktionsdichte unserer Lebenswelt die Erlebnisfähigkeit unserer Kinder überstrapaziert wird. Durch die attraktionsmäßige Aufrüstung möglicher Erfahrungen werden sie in der Entfaltung ihrer weltzugewandten Fähigkeiten behindert, verzerrt, überreizt. Wo alles aufreizend inszeniert ist, fehlt der Raum für die Entfaltung von feineren und stilleren Erlebnis-Qualitäten ebenso wie der experimentierende, phantasieorientierte Zugang zur unerschlossenen Welt. Aber das Unbehagen an der Dichte und Intensität der uns betörenden und uns attackierenden Attraktionen ist nicht auf verantwortungsbewusste Pädagogen beschränkt, sondern weit verbreitet. Gibt es einen Standpunkt jenseits von Ressentiment, Überdruss, Pietismus, Kulturkonservativismus oder bürgerlicher Restmoral, von dem aus sich dieser Eindruck präzise beschreiben ließe? Gibt es eine präzise kulturwissenschaftliche Methode dieser Beschreibung? Umgekehrt: welchem Begriff von Kultur können wir in dieser Beschreibung Gestalt geben?
Ich möchte im Folgenden versuchen, eine historische Passage einzuschieben, in der zwei Achsen unserer kulturgeschichtlichen Überlieferung miteinander überlagert werden. Zunächst werde ich versuchen, einige markante Entwicklungsschritte der Bedeutungsgeschichte des Attraktiven, des Anziehenden, als Inbegriff des Schönen skizzenhaft nachzuzeichnen. Die zweite Achse rekonstruiert die Gegenüberstellung des zum Paradigma geronnenen Präzisionsanspruchs naturwissenschaftlicher Forschung mit dem in der Modernen Kunst virulent gewordenen Wahrheits- und Erkenntnisanspruch der Kunst - ein Anspruch, der seinerseits eine folgenschwere Modifikation des Schönheitsbegriffs bewirkt hat. Ich möchte die These illustrieren, dass sich gerade im Schnittpunkt beider Achsen jenes Element bildet, das uns heute als entfesselte Attraktion um die Ohren fliegt.
Am Beginn der historischen Entwicklungsachse steht die antike Konzeption eines integralen Kosmos, der als gute Ordnung alles mögliche Sein integriert: Hier ist anziehend, was schön ist, und Schönheit ist eine Eigenschaft des Guten, das wir wiederum gerade daran erkennen, dass wir von ihm angezogen werden und es begehren. Am anderen Ende der Entwicklung steht die Attraktion als operatives Modul bei der Themenparkplanung: anziehend ist, was dich reizt und dir keine Alternative läßt, weil es den Triebmotor anwirft und das Begehren startet und so in geheimer Komplizenschaft die Eigenenergie des Subjekts in Aufruhr versetzt, sie stimuliert, lenkt und verbraucht.
Vor allem für die Theoriegebäude der griechischen Klassik gilt: Im integralen Kosmos kann nichts die eine, wahre, schöne und gute Ordnung stören. Auch alle menschlichen Vermögen - und ihre Störungen - werden innerhalb dieses kosmischen, metaphysischen Rahmens gedacht. Es ist es ein Vermögen der Seele, durch das Schöne angezogen zu werden. Durch diese 'Attraktion' wird das Seelenvermögen zur Erkenntniskraft, die das Schöne identifiziert. Hier wird das Phänomen der Attraktion klar vom Objekt her gedacht. Nur eine von irregeleiteten Begierden beherrschte Seele kann etwas erstreben, das nicht schön, wahr und gut ist.
Ich zitiere den bekannten Beginn der Nikomachischen Ethik des Aristoteles: "Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt."(4) Es ist Aufgabe der Philosophie, in tastenden Denkbewegungen, das 'Richtige' zu sehen. Voraussetzung dafür ist eine von unmäßigen Leidenschaften unabhängige Lebensführung. Dann erkennt der Besonnene als das höchste Gut, das um seiner selbst willen erstrebt wird: "...so ist die Glückseligkeit offensichtlich als eine von den Tätigkeiten aufzufassen, die an sich und nicht bloß als Mittel begehrenswert sind. Sie ist ja keines anderen Dinges bedürftig, sondern sich selbst genug. Und an sich begehrenswert sind die Tätigkeiten, bei denen man nichts weiter sucht als die Tätigkeit selbst."(5) Vorbild für die vollkommene Glückseligkeit der betrachtenden Glückseligkeit sind die olympischen Götter, für die gilt: Leben heißt, betrachten wie andere leben. Im gut eingerichteten Kosmos bilden sie das Außen des Ganzen, des einen Kosmos. Die große Gleichung von Begehren und dem höchsten Gut, Erkenntnis und Phänomen, Attraktion und Schönheit ist die siegreiche Vision des ersten Enzyklopädisten der prima philosophia. Die Antike kennt aber - gerade in den mythologischen Schichten der Überlieferung - auch andere Deutungen des Attraktionsphänomens. Ich erinnere an den Gesang der Sirenen, die Geschichte von Echo und Narciss und die Figur des Adonis.
Im Mythos vom Gesang der Sirenen artikuliert die griechische Mythologie das Motiv der unwiderstehlichen und deshalb fatalen Attraktion. Die Sirenen singen süß, wie es in der Überlieferung heißt, sie singen den Helden ihr Lied und versprechen ihm das Wissen über alle künftigen Geschehnisse auf Erden. Wer dieser Verlockung widerstehen kann, hat nicht gehört wie die Genossen des Odysseus, deren Ohren mit Wachs verstopft sind, oder ist an den Mast gebunden, wie Odysseus, der sich hier zum reinen Rezipienten macht und vorhinein jedes Begehren entschärft. Wer derartige Vorkehrungen nicht trifft und sich der Attraktionskraft dieses Gesangs ungeschützt aussetzt, wird es nicht mehr schaffen, sich aus dem Sog des Gesangs fortzubewegen. Zu Füßen der Sirenen stapeln sich der Gebeine der Helden, die ihrem Gesang verfallen sind.(6)
Auch die Episode von Echo und Narciss handelt von den fatalen Folgen übermäßiger Attraktion. Narciss ist der schönste von allen Jünglingen; wer ihm begegnet, kann sich der Anziehungskraft seiner Schönheit nicht entziehen. Der Mythos beschreibt hier eine Konstellation, in der Narciss sich selbst erliegt in genau dem Augenblick, in dem er sich, im Spiegel der Wasserfläche, selbst begegnet. Er kann kein Bild von sich haben, ohne sich selbst zu verfallen. Im Bann der unwiderstehlichen Attraktion seiner Erscheinung kann er den Schritt von der Subjekt- zur Objektliebe nicht vollziehen. Er bezahlt sein Selbstbewusstsein mit dem Tod:
Schön ist, wer begehrt wird. Was begehrt wird, erzeugt Konkurrenz. Keine Figur der antiken Überlieferung verkörpert diesen Zusammenhang reiner als Adonis und seine Funktion als Teilzeitliebhaber für Aphrodite und Persphone, die beide nicht auf den schönen Jüngling verzichten wollen. Adonis ist schön - und hat ansonsten keine weiteren Attribute. Er ist der Merkmallos-Schöne; seine Schönheit spricht nicht durch Eigenschaften, sie ist stumm.(8) Verkörpert Narciss die fatalen Konsequenzen der starken Attraktion in Modus der Selbstbezüglichkeit, so zeigt der Tod des Adonis das Risiko der Schönheit; denn seine Attraktivität wirkt neben konkurrierenden Göttinnen auch auf den Eber, der, voll des Begehrens und in der Absicht, sich mit Adonis zu vereinigen, das Objekt seiner Begierde tötet.
In der Neuzeit deuten wir das Erleben der Schönheit, das Wahrheitsgeschehen und insgesamt den Weltbezug des handelnden Subjekts von dessen Begehren aus, oder, wie noch Kant sagte, von der subjektiven Triebfeder des Handelns. Das Triebmodell, das Freud der Psychoanalyse zugrunde legt, artikuliert die klare Gegenposition zum Attraktionsmodell des Schönen und Begehrenswerten; an die Stelle des objektiven Schönen, das anziehend wirkt, tritt die Eigendynamik des Begehrens und der Projektion. Zwischen den beiden Extrempositionen gibt es ein breites Spektrum an Übergangsformen. Als wesentliche Struktur verweise ich auf die christlich dominierte Geisteswelt des Mittelalters, in der die Integration des Wahren, Guten und Schönen durch die Existenz Gottes gewährleistet wird. In der christlichen Konstruktion bildet sich jedoch bereits die Zweideutigkeit der guten Attraktion durch das Göttliche im Gegensatz zur sündigen Verführung durch das Weltliche - nicht zuletzt ein hartnäckiger Reflex des primären Konstruktionsproblems der monotheistischen Vision des Guten Gottes angesichts des Schlechten oder des Bösen in der Welt.
Den Übergang von der antiken zur modernen Konstruktion möchte ich an drei Darstellungen des biblischen Themas der Susanna im Bade illustrieren, ein Thema, das von der Renaissance bis ins Barockzeitalter auffallend häufig dargestellt worden ist. Kurz die Geschichte: Altes Testament, Buch Daniel. Zwei alte Männer, Freunde und Gäste ihres Mannes, sehen Susanna täglich im Garten ihres Hauses spazieren; "da regte sich in ihnen die Begierde nach ihr." (Daniel, 13, 8) Die beiden Alten hoffen darauf, allein auf Susanna zu treffen. "Während sie auf einen günstigen Tag warteten, kam Susanna eines Tages wie gewöhnlich in den Garten, nur von zwei Mädchen begleitet, und wollte baden; denn es war heiß. Niemand war dort außer den beiden Ältesten, die sich versteckt hatten und ihr auflauerten. Sie sagte zu den Mädchen: Holt mir Öl und Salben und verriegelt das Gartentor, damit ich baden kann. Die Mädchen taten, wie ihnen befohlen war. Sie verriegelten das Tor und verließen den Garten durch die Seitenpforte, um zu holen, was ihnen aufgetragen war. Von den Ältesten bemerkten sie nichts, denn diese hatten sich versteckt. Als die Mädchen weg waren, standen die beiden Ältesten auf, liefen zu Susanna hin und sagten: Das Gartentor ist verschlossen, und niemand sieht uns; wir brennen vor Verlangen nach dir. Sei uns zu Willen, und gib dich uns hin! Weigerst Du dich, dann bezeugen wir gegen dich, dass ein junger Mann bei dir war und dass du deshalb die Mädchen weggeschickt hast." (Daniel, 13, 15-21) Das ist die Szene, die gewöhnlich in den Susanna-Bildern dargestellt wird. Kurz die Fortsetzung der Geschichte: Susanna widersteht den Alten, worauf diese sie verleugnen. Sie wird zum Tode verurteilt. Schon auf dem Weg zur Hinrichtung tritt ein junger Mann aus der Menge, Daniel, der durch ein Meisterstück der Verhörtechnik die beiden Alten der Falschaussage überführt. Susanna ist rehabilitiert, die soziale Ordnung wird wiederhergestellt.
Die erste Darstellung stammt von Francesco di Giorgio Martini, Renaissance, Siena, entstanden um 1480. Schon die alttestamentarische Geschichte beschreibt ein Übermaß an Begehren. Susanna ist attraktiv ohne Absicht; sie weiß nicht, dass sie bei den Alten ein Begehren auslöst, das die soziale Ordnung sprengen wird. Susanna ist die ahnungslose Verführerin. Die Verlegung des Sujets in ein geradezu monastisches Ambiente unterstreicht dies. Neben den Eigenheiten des Bildes - Susanne wird mit Heiligenschein dargestellt und steht mit zum Gebet gefalteten Händen im Bade - bleibt ihr Blick indifferent. Sie scheint mehr zu hören als zu sehen. Auffallend ist auch das wie zum Zufall stilisierte Nebeneinander von Susanna und den beiden Alten. Nichts deutet auf Begehren, Annäherung oder Intrige.
Abbildung 3: Francesco di Giorgio Martini (Siena 1439 - 1502); Susanna al bagno, Siena, pinacoteca communale.
Abbildung 4: Tintoretto; Susanna im Bade, Wien. Kunsthistorisches Museum.
Welche Spannung zwischen den Personen, welche Dynamik in den Gesten, welche Plastizität in der Darstellung der begehrenden Alten! Hier spüren wir die Realkraft von Blicken, aber auch die unwiderstehliche Anziehung, die Susannas Schönheit auf die Alten ausüben muss. Wohin geht Susannas Blick? Weiß sie schon, dass sie beobachtet wird, oder betrachtet sie sich noch versonnen im Spiegel? Und: Wer ist der Voyeur?
Rembrandt zeigt Susanna in dem Augenblick, in dem das Übermaß des Begehrens der Alten sie zu attackieren beginnt. Natürliche Attraktivität und überfließende Begierlichkeit sind nicht mehr ins Gleichgewicht zu bringen. Der Blick der Susanna bezieht mit aller Kraft den Betrachter in das Geschehen um Schönheit und Begehren mit ein. Und so wie die Zentralperspektive die geometrische Umsetzung des subjektiv innerweltlichen Blicks ist, läßt Rembrandt den Bildbetrachter keinen Standpunkt jenseits der Szene mehr einnehmen. Es ist der Blick des Betrachters, das das Bild, wie eine Projektion, entstehen lässt.
Abbildung 5: Rembrandt; Susanna im Bade, The Hague, Royal Cabinet of paintings.
In der Schwellenzeit der Renaissance finden wir zahlreiche Spuren des Übergangs von der Logik des Anziehenden zur Logik des Begehrens. Ich wähle ein Beispiel aus der literarischen Überlieferung. In den märchenhaften Portia-Szenen aus Shakespeares Kaufmann von Venedig werden die Brautwerber auf die Probe gestellt. Sie müssen zwischen drei Kästchen entscheiden: Was ist attraktiv? Was begehre ich? Was sage ich damit über mich selber? Shakespeare entwirft eine Relation von Attraktion und Bewusstseinszustand. 2. Akt, Szene 7.(9) Der erste Brautwerber, Marokko, studiert die drei Kästchen:
Die Auflösung in vereinfachter Form: Das naive Bewusstsein wählt das goldene Kästchen: Wert hat, was die meisten begehren. Das relative Bewusstsein wählt das silberne Kästchen, denn es sucht das relative Gegenbild dessen, was es selber geworden ist - und erhält, als Spiegel, den es gesucht hat, die Figur eines Narren. Das freie Bewusstsein - gibt und wagt, was es nur hat. Seine Sehnsucht zielt auf Selbstüberwindung und Verwandlung.
Die nächste Wegmarke in unserer Passage durch die europäische Geistesgeschichte setze ich bei Immanuel Kants Ästhetik. Mich interessiert auch hier vor allem ein Aspekt, die Gewichtung des - in Kants Worten - Wohlgefallens und des Begehrungsvermögens im Geschmacksurteil. "Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er der Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstab seines Beifalls macht."(10) Kant ist bemüht, das Geschmacksurteil, das das Schöne bestimmt, als Ausgleich von Attraktion und Begehren bzw. Reiz und Interesse zu konstruieren. Hierher gehören die berühmten Formulierungen der vier Momente des Schönen, allen voran natürlich jene vom interesselosen Wohlgefallen. Vom Schönen angezogen, kommt das Interesse zum Stillstand: "Wir verweilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert; welches derjenigen Verweilung analogisch (...) ist, da ein Reiz in der Vorstellung des Gegenstandes die Aufmerksamkeit wiederholentlich erweckt, wobei das Gemüt passiv ist."(11)
Was Kant in seiner Ästhetik noch bestritten hat - die Wahrheitsfähigkeit der Kunstwerke - tritt in der Folge als neuer Anspruch einer sich emanzipierenden Kunst auf.(12) Hegels sogenanntes Ältestes Systemprogramm artikuliert klar und euphorisch den neuen Anspruch: Überwindung des von Kant beschriebenen Widerspruchs von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Gefühl bzw. Empfindung und Verstand durch konkrete Phantasie, wissenschaftliche Mythopoiese, heilbringende Kunst. Kristallisationspunkt dieser Aufhebung des Widerspruchs ist der Schöne Schein: " Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit (...). Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, der indem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist, und dass Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind - der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter."(13)
Zugleich mit dem Aufkommen des Wahrheitsanspruchs der Kunst, der die Moderne und später den Avantgardismus auf den Weg bringt, vollzieht sich endgültig der Bruch mit dem Attraktionsprinzip des Schönen. Es ist kein hinreichendes Kennzeichen des Schönen, attraktiv zu erscheinen, sobald es als Erscheinungsform von Wahrheit und Freiheit gedacht wird. Die Deklassierung des Nur-Schönen (oder wie Schiller sagt: des sentimentalischen Schönen, im Gegensatz zum heftigen Schönen) wird zunächst die Angst vor dem abgeschmackten, Süßlichen, Gefälligen hervorrufen und führt letztlich zur Entstehung der Theorie des Kitsches. Das neue Selbstbewusstsein der Kunst als Artikulationsort der Wahrheit verbietet jede Beschönigung. Wenn Schönheit das Erlebnis meint, zustimmen zu können, das Erlebnis des großen Ja, in dem zwanghafter Aktivismus zu freier Kontemplation wird und jedes Tun ein Lassen ist - so ist die Tiefe dieser Zustimmung(14) nur im Horizont des Gewussten, im Bewusstsein um den Schrecken und allen Schmerz der Welt möglich. Verdrängen gilt nicht. Das beschönigte Leben ist das falsche Leben; ist Kitsch. Das macht das Schöne so anspruchsvoll und seine Rezeption so kompliziert. Es entstehen Ästhetiken des Häßlichen, es beginnt die Zeit der Blumen des Bösen, des bizarren Schönen, der romantischen Ironie und der vergifteten Idyllen. Am Ende dieser Entwicklung steht die ästhetische Theorie der klassischen modernen Kunst, wie sie etwa Adorno formuliert hat. Das Schöne wird herb, anspruchsvoll, provokativ. Sobald das Schöne als Bedeutungsort von Wahrheit und Freiheit in Anspruch genommen wird, ist es nicht mehr verführerisch wie eine unschuldig Badende im Garten. Was attraktiv ist, wird verdächtig. Was uns schmeichelt, weil es uns anzieht, weckt das Begehren, ohne uns zu befreien. Das attraktive Schöne wird zum Inbegriff von Verdrängung, Lüge und Unbewusstheit. Es vollzieht sich der Übergang vom antiken Kosmos, der objektiv schön ist, zur Kosmetik, die beschönigt.
Komplementär zur Verabschiedung des Attraktionsprinzips der Schönheit durch die Aufladung der Kunst mit dem Anspruch von Wahrheit und Heil entwickelt sich das Erkenntnismodell der stark werdenden Naturwissenschaften. Als Erfahrungswissenschaften werden sie zum Paradigma der präzisen Erforschung der Welt. In der Verbindung von Erfahrungswissen und technischer Erfindungskraft werden sie unsere Lebenswelt maßgeblich verändern. Der Erfolg macht sie sicher. Hier ist nicht der Ort, die Geschichte von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in den vergangenen zweihundert Jahren aufzurollen. Ich begnüge mich daher mit einer knappen Bemerkung. Es war und ist bis heute nicht die Stärke der Naturwissenschaft, einen starken Wahrheitsbegriff methodisch auf den Weg gebracht zu haben. Gerade umgekehrt, hat sich doch der zunächst naive Wahrheitsbegriff der empirisch orientierten Wissenschaften schrittweise einschränken und zurücknehmen müssen zugunsten eines operativen Begriffs von Unwiderlegbarkeit. Aus dem Anspruch der Erkenntnis der Welt wurde der praxisorientierte Anspruch, die Welt im Modus der Annäherung hinreichend gut zu kennen, um sie kontrolliert manipulieren und beherrschen zu können. So produzieren die modernen Wissenschaften vor allem praxisorientiertes Wissen über die Wirksamkeit - auch über die Wirksamkeit des Attraktiven im außerästhetischen Sinn.
Der Anspruch der Präzision scheint nirgends so erfolgreich realisiert wie in den Naturwissenschaften. Aber gerade gegen diese These regt sich Widerstand durch die modernen Ästhetiken. Ich verweise noch einmal auf Adorno und sein Wort vom Rätselcharakter des Kunstwerks.(15) Was ich etwas simpel enträtseln möchte, indem ich sage: Der Präzisionsanspruch des Kunstwerks bezieht sich auf die Einheit von Form und Inhalt, Gestalt und Gehalt. Was im wahrheitsfähigen Kunstwerk artikuliert ist, kann schlechthin nicht übersetzt werden, nicht einmal richtig interpretiert, sondern bestenfalls umschrieben. Anders gesagt; es gibt eine Welt möglicher Erkenntnisse, die verstanden und gesagt, aber nicht mit empirischen Messmethoden überprüft werden können. Wo diese Präzision erreicht ist, entsteht der Eindruck von Schönheit.
Keine Frage, dem skizzierten Schönheitsbegriff ist mit der Dichotomie von Attraktion und Begehren nicht mehr beizukommen. Daher kann es nicht verwundern, dass die ästhetische Theorie der klassischen Moderne sich für den Sektor des Populären nie wirklich zuständig fühlte. Aber stand hinter der Gleichung von Kulturindustrie und Massenbetrug nicht auch ein kritisches Gemisch aus Ressentiment und postmoralischer Entrüstung? - Was nichts daran ändert, dass sich die Texte heute geradezu prophetisch lesen. Jedoch, sie geben keine weiterführenden Hinweise, mit welcher Haltung wir dem Phänomen entfesselter Attraktionen begegnen können. Sie sind bestenfalls geeignet, das weit verbreitete Unbehagen an der ökonomisch orientierten Schaffung von Attraktionen zu illustrieren.
Entfesselte Attraktion - am Ende unserer kleinen Geschichte der Begriffskarriere der Attraktion stellen sich drei Fragen. (1.) Gibt es irgendeine neue Qualität in der gesellschaftlichen Produktion von Attraktionen oder unterschiedet sich der gegenwärtige Zustand nur durch die entstandene Attraktionsdichte? (2.) Welchen Stellenwert hat das Unbehagen an der Attraktionsindustrie jenseits des Ressentiments? Was sind die wesentlichen Elemente einer Kritik der Attraktion? (3.) Welche Strategien haben sich als Gegenmittel herausgebildet?
Alle Kulturen hatten ihre Feste, und spätestens seit der Zeit des Römischen Reiches kennen wir Berichte über große Spektakel und attraktionsgeladene Inszenierungen. In allen hierarchisch organisierten Gesellschaften ist das große Spektakel durch zwei Elemente charakterisiert: Repräsentation der Macht und Zerstreuung fürs Volk. Die neue Attraktionsindustrie, die sich in demokratisierten Gesellschaften ausbildet, setzt an die Stelle der Repräsentation von Macht den ökonomisch definierten Profit. Der Modus des Konsums wird auf alle Lebensbereiche ausgedehnt; auch Vergnügungen werden im Modus des Verbrauchs genossen. Die Mechanismen von Reiz und Reaktion gehören zu den am nutzbringendsten erforschten Geheimnissen unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Mit wissenschaftlicher Akribie wird die richtige Intensität und Dichte von Erlebnissen geplant. Das funktionale Planungsmodul in Themenparks ist die 'Attraktion'; deren Wirksamkeit in der möglichen Ausbeute (Geld gegen Erlebnis) in präzisen Studien erforscht wird. Da stehen Erlebnisplaner mit der Stoppuhr in der Hand neben der Vergnügungsmaschine und messen, wie lange der Reiz anhalten muss, damit der Konsument bereit ist, neu zu zahlen. Die Dosis muss genau auf die 'Zielgruppe' - Kinder, Kunden, Frustrierte - eingestellt werden. Die Attraktion muss den Konsumenten im Zustand der Bedürftigkeit halten, um die maximale Konsumneigung zu erwirtschaften.
Die Attraktionsindustrie bedient sich dabei großzügig aus dem Werkzeugkasten der kulturellen Überlieferung. Gerade die avancierte Kunst der klassischen Moderne eignet sich bestens, um in den Verwertungszusammenhang der Attraktionsindustrie integriert zu werden: Ironisierungen, Anspielungen, Verkitschungen. Was Kunst war, kann Kitsch werden, hat Adorno bemerkt. Man kann im Hinblick auf die ökonomische Strategie der Attraktivierung ergänzen. Was in der Kunst als Provokation wirksam war und sich im Dienste der Wahrhaftigkeit als Schock bewährt hat, kann - man möchte sagen: spielend - von der Wirtschaft als Attraktion unter Vertrag genommen werden. Was Provokation war, kann Attraktion werden.
Das Unbehagen an der entfesselten Attraktion bezieht sich wesentlich auf den reich instrumentierten Angriff auf unsere Reizbarkeit. Die ökonomisch motivierte Attraktion ist ein tatkräftiges Attentat auf das Ideal der Emanzipation, weil sie den Anspruch auf Befreiung durch Bewusstwerdung und Verfeinerung äußerst kompetent unterwandert. Das kommerziell Attraktive fördert unsere Empfindungsfähigkeit nicht, es betäubt sie. Es setzt Reize, die stark und subtil sind. Es ist laut und wirkt, in Summe, vergröbernd, nicht verfeinernd.
Das Attraktive ringt um Aufmerksamkeit, um diese im selben Augenblick abzulenken. In seinem Entwurf zu einer Ökonomie der Aufmerksamkeit(16) unternimmt Georg Franck den Versuch, das Phänomen der Attraktionsindustrie in umgekehrter Perspektive zu betrachten. Worum die Attraktionsmacher kämpfen und konkurrieren, ist die Aufmerksamkeit des Publikums. An nichts wird mit so viel Energie gearbeitet wie an der Fähigkeit - von Produkten, Politikern, Medien, Personen, Themenparks etc. -, Aufmerksamkeit zu wecken und zu binden. Darin bildet sich eine Klarheit von anthropologischer Tragweite heraus. Sie lehrt uns, dass es keine Droge gibt, die tiefer reicht als die Sucht nach der Aufmerksamkeit anderer. Deshalb, so Franck, stehe letztlich der Ruhm über der Macht.
Wo jedoch mit starken Einsätzen um die Aufmerksamkeit Fremder gerungen wird, so Francks These, muß Aufmerksamkeit eine knappe Ressource sein. Daher der Doppelsinn einer Ökonomie der Aufmerksamkeit: Einerseits wird um die knappe Aufmerksamkeit als neuer Währung des Erfolgs gerungen; andererseits wird die errungene Aufmerksamkeit ökonomisch ausgebeutet.(17) Vor allem der mediale Kampf um Aufmerksamkeit, der die Hochrüstung der uns umgebenden Bildwelten produziert, greift dabei markant ein in unsere Wahrnehmung dessen, was wir als wirklich erleben: "Wirklich ist für uns aufmerksame Wesen, was unsere Aufmerksamkeit bei sich hält. (...) Es gibt nichts Wirklicheres als Bilder, die nicht mehr aus dem Sinn gehen. Nichts hat größere Macht über uns als das, was aufmerksame Zuwendung erzwingt. Alles, worauf wir unwillkürlich achten, hat unwillkürliche Wirkung auf uns. Und alles, was unsere Aufmerksamkeit reizt, ist in einem höheren Grade wirklich als der Hintergrund."(18) Als Gegenkraft entwirft Franck das Ideal der moralischen Eleganz. "Es ist ein Ideal, daß nicht nur damit zu tun hat, daß der Reichtum an Beachtung mit dem Wunsch nach Verfeinerung einhergeht. Es ist ein Ideal, das im Wesen des Tauschs der Aufmerksamkeit gründet."(19)
Eine andere Strategie verfolgt Wolfgang Pausers Werbebewusstsein. Die schlanke Sammlung von Essays zu Werbesujets betreibt mit atemberaubender Präzision eine Art subversiver Affirmation. "Werbebilder gleichsam beim Bild zu nehmen und so genau zu betrachten, wie es sonst nur Kunstwerken widerfährt, ist das Programm dieses Buches." So betreiben diese Essays "ihre kleine fröhliche Wissenschaft in Form von Experimenten im vernunftleeren Raum. (...) Das 'Werbebewusstsein' verpackt ganz unauffällig Analysen als Schmuggelgut in bunte Päckchen. So macht es Werbung für Bewusstsein. Leichtfertig erzählt es Gerüchte aus dem beschönigten Leben; dabei zielt es stets über seine diversen Anlässe hinaus auf eine "Ästhetik des Konsums".(20) Die Werbebilder - zweifellos Teil des attraktiven Komplex' - zielen auf unsere Aufmerksamkeit. Indem Pauser ihnen bewusst mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt als sie erwarten, unterwandert er ihre Intention, die auf unbewusste Aufmerksamkeit ausgerichtet ist.
Verfeinerung, Bewusstsein - es ist vielleicht schwer, an dieser Stelle nicht daran zu erinnern, dass sich daraus eine der elementaren Definitionen von Kultur insgesamt destillieren lässt - Kultur als Haltung der bewussten Verfeinerung.
Mit welcher Haltung behaupten wir uns in der Welt der lauten Attraktionen? Mit einer Aufmerksamkeit, die penetrant auf Verfeinerung dringt? Mit einem frivolen Bewusstsein, wo man uns ans Unterbewusste will? Eine heitere, mitunter auch freche Form des zweiten Blicks, die dem attraktiven Komplex in paradoxer Weise mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt, als dieser erheischt - das erscheint mir als jene heitere Tugend, die uns davor bewahren kann, von Attraktionen terrorisiert zu werden.
© Thomas Pilz (Architekt, Graz, Österreich)
ANMERKUNGEN
(1) Peter Sloterdijk; Falls Europa erwacht, Frankfurt/M., 1994, S. 22.
(2) Vgl. Guy Debord; Die Gesellschaft des Spektakels, aus dem Französischen von Jean-Jaques Raspaud, Berlin, 1996, Edition TIAMAT, Critica Diabolis 65, besonders § 154ff.
(3) Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno; Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M.. 1969, S. 128ff. (Kulturindustrie als Massenbetrug).
(4) Aristoteles; Die Nikomachische Ethik, Übertragung Olof Gigon, München, 1967, S. 105 (1094 a1-5).
(5) ebda; (1176 b2-7).
(6) Vgl. Robert von Ranke-Graves; Griechische Mythologie, Reinbeck b. Hamburg, 1960, S. 681.
(7) Ovid, Metamorphosen, III, 463-468.
(8) Vgl. Winfried Menninghaus; Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt/M.. 2003, S. 17. - Die Studie von Menninghaus bietet unter anderem eine geisteswissenschaftliche Rekonstruktion der evolutionsbiologischen Attraktionstheorie seit Darwin, die er in ein Verhältnis zur philosophischen Ästhetik setzt.
(9) William Shakespeare; Der Kaufmann von Venedig, Übersetzung Erich Fried, Berlin, 1991 (Wagenbach), Bd. I, S.460/61.
(10) Immanuel Kant; Kritik der Urteilskraft, Edition Felix Meiner, Hamburg, 1924, S. 62.
(11) a.a.O. S. 61. - Als Gegengewicht zum Schönen entfaltet Kant in der Folge die Analytik des Erhabenen. Dem Prinzip der Attraktion wird das Staunen und die Überwältigung an die Seite gestellt.
(12) Schon Kant hatte am ästhetischen Urteil das Moment der Bestimmbarkeit bemerkt, was in der Folge zur Bestimmung der Kunst als "Erscheinen der Freiheit" (Schiller) führt. Es war jedoch erst Hegel, der das Kunstwerk als beredte Erscheinung, als sprechend, als bedeutungsgeladen definiert hat. Vgl. dazu: Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München Wien 2000, besonders S. 19ff.
(13) Hier zitiert nach:Christoph Jamme, Helmut Schneider; Mythologie der Vernunft. Hegels 'ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus', Frankfurt/M., 1984, S. 82f
(14) In der Begriffskarriere des Schönen im 19. Jhd führt diese Entwicklung zur Forderung des großen Ja, das Nietzsche als Kennzeichen der Freiheit beschrieben hat (Die Fröhliche Wissenschaft, § 125). Angesichts des Schönen können wir, im Bewusstsein des Schmerzes und des Schreckens, zustimmen und sind befreit von den Zwängen des Anders-Wollens; im Erlebnis des Schönen vollziehen wir den Übergang von der reflexhaften reactio zur freien actio.
(15) Vgl. Theodor W. Adorno; Ästhetische Theorie, Frankfurt/M., 1970, besonders S. 192ff.
(16) Vgl. Geord Franck; Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München,Wien, 1998, S. 13f.
(17) Ebda, S. 13f.
(18) Ebda, S. 171f.
(19) Ebda, S. 250.
(20) Wolfgang Pauser; Dr. Pausers Werbewusstsein, Texte zur Ästhetik des Konsums, Wien, 1995, S. 7.
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For quotation purposes:
Thomas Pilz (Graz, Österreich): TERROR DER ATTRAKTION. Der
Diskurs um Schönheit, Wahrheit und Präzision und die
ökonomische Verwertung von Aufmerksamkeiten. In: TRANS. Internet-Zeitschrift
für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_6/pilz15.htm