Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | August 2004 | |
1.6. The Unifying Method of
the Humanities, Social Sciences and Natural Sciences: The Method
of Transdisciplinarity Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
irmfried windbichler (Architekt, Architekturbüro Windbichler, Graz, Austria)
für den nicht theoretisierenden architekten stellen sich viele praktische fragen, bevor sich der blick auf die ästhetischen und philosophischen aspekte wendet. daher möchte ich von den produktionsbedingungen von architektur ausgehen, den rahmenbedingungen.
ein aspekt unserer gesellschaft heute ist in zunehmendem masse das sicherheitsdenken, der aspekt der verantwortung und verantwortlichkeit im sinne von haftbarkeit nimmt einen immer breiteren raum ein, gerade im arbeitsgebiet des architekten. mit der vorherrschaft von rechtspersonen auch auf der bauherrenseite und nicht mehr nur im öffentlichen verwaltungsapparat werden gesetze, verordnungen, richtlinien und normen immer strikter zu handlungsparametern. termindruck und wirtschaftlichkeitsvorgaben, allesamt pönalisiert, mutieren zum alleinigen qualitätskriterium. quantifizierbarkeit nach dem muster der technischen disziplinen ist angesagt.
trotzdem hat man den eindruck, die architektur werde öffentlich beachtet wie selten zuvor. in sonntagsreden zu eröffnungen von gebäuden wird sie beschworen- und doch bleibt der eindruck eines grundsätzlichen missverständnisses: behübschung von oberflächen, fassadenarchitektur, dekoration, abgehoben, elitär, unwichtig eben. aber ganz nett. in die kunstecke abgeschoben.
in der anderen, der realitätsecke ist die wissenschaftliche rationalität zuhause, in einer naturwissenschaftlich- technisch reduzierten form, auf jeden fall pragmatisch, judizierbar, quantifizierbar. wenig wunder also, dass in der europäischen dienstleistungsrichtlinie architektur und städtebau sowie abwasserreinigung und gebäudereinigung in der gleichen kategorie behandelt werden.
hier tritt eine seltsame verschiebung auf. architektur ist in ihrem wesen eine umfassende bearbeitung und lösung von problemen, in technischer, wirtschaftlicher, sozialer, politischer und ästhetischer hinsicht. damit geht sie weit über den engeren kunstrahmen hinaus und auch weit über den rahmen der technischen disziplinen. im neuen verständnis der politischen eliten ist diese der architektur immanante transdisziplinarität offensichtlich suspekt, die ganzheitliche betrachtung wird filetiert und in administrierbare einheiten aufgeteilt, (divide et impera), der architekt wird nur mehr zur behübschung der aussenhaut herangezogen. im bürgerlichen verständnis wird architektur damit im korsett von stilen domestiziert. diese lassen sich wiederum sehr einfach beschreiben und kategorisieren und sind damit der "wissenschaftlichkeit" und der verharmlosung ausgeliefert.
es offenbart sich ein tiefes dilemma unserer sprachfixierten kultur. alle denk- und wertesysteme, die nicht auf verbaler sprache aufgebaut sind, werden abgewertet, weil sie von der allgemeinheit nicht mehr verstanden werden. die kunst als archetypisches bezugssystem ist ein bevorzugtes opfer. auf den vorwurf an lehrer, sie erziehen kinder quasi zu anaphabeten, weil sie ihnen nicht beibringen, wie man zeichnungen liest, erntet man bestenfalls verständnislosigkeit.
die zeichnung, die musik, der tanz, die architektur aber sind kommunikationssysteme, sprachen mit eigenem vokabular und eigener grammatik, die jeder, der will, lesen kann. sie sind komplexe offene systeme, sie sind chaotisch und kreativ und sie sind intuitiv, "aus dem bauch": der bauch hat mehr nervenzellen als das gehirn, was immer man daraus folgern mag. die sprichwörtliche entscheidung aus dem bauch ist ein intuitives problemlösungsverhalten, weil lösungen komplexer probleme praktisch nur auf intuitiver basis gefunden werden. der intuitive bewusstseinslevel ist umfassender als der quasirationale. vordergründiges wissen und strenge denkmuster sind oftmals eher eine barriere. der bereich der intuition, die alle ebenen verbindet, praktisch im sinne einer "multilevel reality" , wird zur included middle, die die verbindung herstellt zwischen der rationalität und dem vielen so unheimlichen künstlerischen bereich, dem archaischen, der in unserer digitalisierten welt oft so fehl am platz erscheint.
architektur ist eine alte kunst, archaisch, wie die menschen selber. ein wesenszug der architektonischen ästhetik ist die unschärfe, die mit der unschärfe von wahnehmung zu tun hat. den umgang damit haben die meisten verlernt, was auch mit den produktionsmittlen zu tun haben mag. eine freihandzeichnung ist per se unscharf, aber ihre ungenauigkeiten entsprechen genau den ungenauigkeiten der wahrnehmung. "ungerade gerade" wirken oft gerader als geometrisch korrekte gerade, die alten griechen haben dies meisterhaft in ihren bauten umgesetzt. in CAD zeichnungen lassen sich solche unschärfen nur sehr schwer erzeugen und immer exaktere baumethoden schliessen zufällige abweichungen aus. die produktionsmittel sind also für die ästhetische wirkung ebenfalls bedeutsam.
die architektur ist eine universelle kunst, was zugleich ihre stärke und schwäche ist. sie umfasst problemlösungen ganz alltäglicher art ebenso wie die ästhetische organisation des lebens. sie ist damit den gesellschaftlichen und politischen problemstellungen ausgeliefert und kann sie gleichzeitig bestimmen.
die architektur ist die nicht nur ästhetische organisation des dreidimensionalen raumes und daher seit jeher eine umfassende, transdisziplinäre disziplin.
die im nachdenken für diese verbale statement entstandenen bilder dokumentieren die gedanklichen schritte. denken findet häufig außerhalb der worte statt und läßt sich daher oft nur bildhaft darstellen.
© irmfried windbichler (Architekt, Architekturbüro Windbichler, Graz, Austria)
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For quotation purposes:
irmfried windbichler (Graz, Austria): gibt es einen ästhetischen
aspekt in der architektur?. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für
Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_6/windbichler15.htm