Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

2.1. Kultur und Zivilisation
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Penka Angelova (Rousse)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Die Hilflosigkeit in der Kultur. R. Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften

Vladimira Valkova (Veliko Târnovo)
[BIO]

 

  Die Vorstellung, was zur Kultur gehöre und was nicht, ist (... ) umso leichter, je mehr man eine bestimmte Kultur vor Augen hat, und umso schwerer, je mehr es sich um das handelt, was noch Kultur sein oder fähig sein soll, Kultur hervorzubringen.(1)

Diese Betrachtungsweise setzt die Berücksichtigung zweier Ausgangspunkte bei der Auslegung des Kulturbegriffs voraus: erstens die Definierbarkeit der Kultur hängt von ihrer Bestimmbarkeit ab, die einerseits unproblematisch zu sein scheint, zweitens die Definierbarkeit der Kultur ist ihrerseits problematisch, da diese einen Imperativ und ein Potenzial in sich trägt. Bezogen auf die Perspektive des Protagonisten im Roman Der Mann ohne Eigenschaften, ergibt dieses Schema folgende Problematik: erstens, es wird ein Kulturbegriff behandelt, dessen Parameter sich durch zivilisationskritische Aussagen bestimmen lassen. Zweitens: es wird ein Kulturbegriff entworfen, der sich im Verlangen der Hauptfigur äußert, der Wirklichkeit als Essay zu begegnen (MoE, 314ff)(2).

Einen Ausgangspunkt zivilisationskritischer Fragestellungen bietet am Romanafang der Zug der Zeit um 1913, dargestellt am Einstieg in den Roman in einem ironisch gebrochenen kosmischen Zusammenhang. Die Erzählperspektive nimmt Anlauf bei der Bewegung der Luftmassen über dem Atlantik und Mitteleuropa bis zu Russland, führt über die "Schuldigkeit" von Isothermen und Isotheren, der Temperatur- und Luftschwankungen unter Mitwirkung "der Sonne, des Mondes" und der Planeten und landet in der Vielstimmigkeit der mitteleuropäischen Großstadt: Straßen und Menschenwolken sind in einem drahtigen Knäuel zusammengewachsen, dessen vorstehende "Spitzen" und "Schnüre" sich in "Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten wieder vereinigen (MoE, 9/10). Auffallend dabei ist eine allgegenwärtige Geschwindigkeit, die die "vertikale" und "horizontale Bewegung" der Kategorien Zeit und Raum auslöst (MoE, 14, 38). Die auf diese Weise entworfene dynamische Struktur des Weltbildes, das die Kategorien des absoluten Raumes und der absoluten Zeit eingebüßt hat, erscheint keinesfalls als ein homogenes Ganzes, sondern es werden nur "Knotenpunkte von einem Bewegungsapparat" (MoE, 37) aufgegriffen.

Die als Verdichtungen und "Knotenpunkte" assoziativ dargestellte, fragmentierte, völlig entseelte Welt, deren "Stoff (aus) Häusern, Gesetzen, Verordnungen und geschichtlichen Überlieferungen" besteht, prädisponiert eine allumfassende Zerrissenheit, die vom Äußerlichen auf Innerliches übertragen wird: Der ziellos rasende Verlauf der Zeit bedingt das "Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben" (MoE, 39), also der Zeit-, Raum-, Zweck- und Sinnverlust indiziert einen krankhaften Zustand des um seine authentischen Erfahrungen reduzierten Menschen, der einen Halt nur nach der Ausgewogenheit seiner "Tätigkeit und Liebe" bei einer "gründlichen Laboratoriumserfahrung" finden kann (MoE, 37). Daraus ergibt sich "eine Summe von reduzierten Individuen", die als ein "geniales Ganzes" wirkt (MoE, 38). Die hier ironisierte Entindividualisierung und Bedürftigkeit einer rationalen Überprüfung der eigenen Existenz sind schon im ersten Kapitel durch die Infragestellung der Namen des vorübergehenden Paares angedeutet. Die Lösung des "Rätsels, wer sie seien" (MoE, 10) erweist sich in der Beliebigkeit bei der Auswahl der Passanten insofern als belanglos, als es sich nicht um etwas Wiederholbares und Typisches handelt. Die tödliche Wirkung der Allmacht der Typik bedingt auch den "augenblicklichen" Müßiggang Ulrichs (MoE, 13), der zu "verzichten gelernt hat" (MoE, 14). Die paradox und absurd anmutende Erkenntnis einer "ungeheuren Leistung" durch Nichtstun verweist auf die intellektuellen Probleme und emotional-psychologischen Konflikte des einsamen Betrachters, der sich seiner entscheidenden Rolle und Position in Relation zum Versuch, "die Welt zu stemmen" (MoE, 13), bewusst ist. Der Wille des Betrachters, die Welt in seine Verfügung zu stellen und den Weltprozess zu beherrschen, lässt sich mit der durch die Relativitätstheorie und Quantenphysik neu aufgefassten Rolle des Menschen verbinden, der laut Angela Kochs "gleichsam aufgelöst in einer komplexen Welt vordergründiger Paradoxien [erscheint], welche einerseits von ihm statisch zu überblicken sind, welche sich aber andererseits in direkter Abhängigkeit von seinem Akt der betrachtenden Einflussnahme verhalten."(3)

Näher betrachtet, ist diese gelegentliche Muße aus der fehlenden Notwendigkeit des Gelderwerbs und aus dem Fehlen einer geeigneten Anwendung seiner Fähigkeiten entstanden. Was seine Veranlagung auszeichnet, ist ein Möglichkeitssinn, den er als eine "Begabung" empfindet (MoE, 74). In einem "Zivilisationszeitalter, worin der Zugang zur Seele verschüttet worden ist" (MoE, 130), wo die Umwertung und Verschiebung der Begriffe wie der Paradigmenwechsel in den Wissenschaften und in der Ästhetik als eine "geheimnisvolle Krankheit" (MoE, 69ff.) erlebt wird, bietet das Kontingenzdenken eine Abwehrhaltung gegen zeitgenössische Verzerrungen an. Dabei erscheint die Muße, die Einsamkeit und die Ausgestoßenheit als eine gewollte Lage (MoE, 163f.), in der man sich gegen die Auflösung in das Geschehen des "Seinesgleichen" wehrt (MoE, 274). Das Anderssein(4), das sich im Fall Ulrichs anfänglich als ein Verlangen nach einer Vermischung von Geist und Mathematik äußert (MoE, 49), steht für das Bedürfnis nach einem unvermittelten Zugang zur Wirklichkeit: ohne die Interpretationen, die durch gesellschaftliche Institutionen vermittelt werden. Der Möglichkeitssinn kann an und für sich die durch die fehlenden Anhaltsstützen entstandene Leerstelle nicht ausfüllen. Bei der Lösung des neu entstandenen Zivilisationsproblems handelt es sich nicht um ein Oppositions-, sondern um ein Binaritätsprinzip, bei dem das Zusammenspiel von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn keine Unschärferelation aufweist, sondern die wechselnde Kombination von Verständnismustern darstellt, die sich an das neue Weltbild anpassen.

Was als ein anderes Zivilisationsproblem entworfen wird - der schon erwähnte problematische Zugang zur Seele -, die Unmöglichkeit ihrer "Befreiung von der Zivilisation", d.h. von der allgemeinen Zerrissenheit, kann mit Hilfe der Religion, der Kunst, des Verstandes und des Herzens nicht gelöst werden (MoE, 249ff.). Ulrichs Suche nach der "ergänzenden Neigung" (MoE, 74), seine Sehnsucht nach Vereinigung von Ich und Welt, erweist sich als die Suche nach einer Komplementarität, die eine identitätsstiftende Rolle bietet, die sowohl die Zusammengehörigkeit der Ich-Teile als auch deren Harmonisieren mit der Um- und Außenwelt sichern kann. Dieses Bedürfnis äußert sich im Verlangen nach einer Einheit von Mensch und Ding (MoE, 156).

Die viel diskutierte Suche nach dem "anderen Zustand" wird von Musil in seinem Essay Der deutsche Mensch als Symptom als die Auflösung der Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich bezeichnet: "Während sich sonst das Ich der Welt bemächtigt, strömt diese in dem anderen Zustand in das Ich ein oder vermengt sich mit ihm" (GW8, 1393). Einen solchen Sprung in die Welt der Dinge führt das Kapitel "Moosbrugger tanzt" (MoE, 501ff.) vor. Moosbruggers Nachdenken über die Zufälligkeit der Wörter und Begriffe mündet nicht in bewusste Erkenntnis, sondern in einen veränderten Zustand, den "man das Halluzinieren nennt" (MoE, 303), ähnlich wie es dem Protagonisten im Kapitel "Ulrich hört Stimmen" (MoE, 147ff.) widerfährt. Damit ist angedeutet, dass Moosbrugger keine wirkliche gedankliche Klarheit über seine Lage gewinnt, selbst wenn sein Nachdenken wieder einsetzt. Die zahlreichen Erinnerungen Moosbruggers in der Einzelhaft werden nicht verarbeitet, sie trüben nur sein Zeitempfinden. Sein Geltungsdrang, der nicht mehr in den öffentlichen Gerichtssitzungen befriedigt werden kann, äußert sich nun darin, dass er "alles in Ordnung" bringt (MoE, 503), d.h., die Gegenstände seiner Zelle mit sich identifiziert und sich beherrscht. Es erscheint dabei paradox, dass gerade durch die Auflösung der Ich-Grenzen eine erlebte Synthese zwischen Ich und Außenwelt möglich ist. Worauf diese Bewusstseinssteigerung zielt, ist ein verändertes Weltbewusstsein: Die äußere Wirklichkeit kann nur durch diese neue Art der Verarbeitung positiv gesehen werden, wobei die Welt "als ein ganzheitliches, organisches System von letztlich unkontrollierbaren, weil nicht vereinzelt zu betrachtenden Wechselwirkungen", als ein "unteilbare[s] kosmische[s] Gewebe" erlebt wird, "das den menschlichen Beobachter und sein Bewusstsein einbezieht."(5)

Auf einer anderen Ebene betrachtet und in Zusammenhang mit Ulrichs "anderem Erlebnis" gebracht, bedeutet dieser andere Zustand einen Versuch, die disparaten Erscheinungen der Wirklichkeit, das, was als die Hilflosigkeit der Kultur, als ihre Zerrissenheit, als das Fehlen eines Integrierungsmodells beklagt wird (MoE, 250), zu überwinden.

Annährungen an einen solchen Zustand zeigen sich in Ulrichs Briefschreiben: "Der Zustand hatte aber sonst nichts mit Traum gemeinsam. Er war klar und übervoll von klaren Gedanken. (...) Und mit Hilfe solcher stillen Erfahrungen erhielt alles, was sonst das gewöhnliche Leben ausmacht, eine umstürzende Bedeutung (...)". (MoE, 157.)

Solchen Textstellen kommt im Roman ein besonderer Wert zu, da sie nicht nur eine Einlassung in die Landschaft des Imaginären durch einen verzauberten Blick erlauben und die Verdrängung des Schreibenden (des Subjekts) durch die "Landschaft" (des Objekts), durch sein Geschriebenes vorführen, und zwar als ein reales Geschehen, frei von allerlei romantischen "Trans"-Zuständen und psychoanalytischen Hilfsbegriffen, sondern auch weil sie sich als künstlerische Selbstreflexionen lesen lassen. Sie erlauben auch einen Vergleich mit Musils Erzählweise, die oft durch längere theoretische und essayistische Abhandlungen gebrochen wird, so dass die Frage "wer spricht?" offen bleibt. Als solch erzählerisches Ablenkungsmanöver dienen manchmal ganze Kapitel (wie z.B. "Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben", MoE, 18ff.), so dass große narrative Brüche entstehen. Der dadurch gewonnene Eindruck von Diskontinuierlichkeit verstärkt sich auch durch die wechselnde Hineinversetzung des Erzählers in die Innensicht der unterschiedlichen Figuren, so dass eine Vervielfältigung des Sprechers zustande kommt.

Dieses künstlerische Verfahren kann schon in der Eingangsszene des Romans verfolgt werden: Der Leser wird Zeuge jäher wechselnder Bilder, beginnend mit einem fernen "Satellitenbild", bis zu einer diskontinuierlichen Nahaufnahme einer Stadt mit ihren Passanten und dem Interieur der "Gelehrtenwohnung" Ulrichs, so dass man durch eine bewegliche Kamera geführt zu werden scheint. Den Höhepunkt dieses Verfahrens bildet die Verdoppelung der Perspektive des Erzählers und der hinter dem Fenster stehenden und auf die Straße blickenden Figur, so dass der Leser doppelt - mit den Augen des Erzählers und der Figur - auf die Straße sieht. Die wechselnde Ablösung der auktorialen durch die personale Erzählperspektive stört nicht, solange es sich um einen kontinuierlichen Erzählprozess handelt. Aber wenn dieser Rollenwechsel durch die Einschaltung der Perspektiven vieler Figuren ständig unterbrochen wird, von denen man anfangs nicht weiß, in welchem Zusammenhang sie mit dem Erzählgegenstand stehen, und die dem zu Erzählenden eine neue Richtung geben (z. B die Figur Moosbruggers), entsteht der Eindruck von einer Zerstückelung des Erzählablaufs. "Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, -..." (MoE, 317f.), wird ein ganzes Panorama-Zeitbild von vielen Points of view zusammengestellt. Die anfangs zerstreut erscheinenden Figuren und Sachverhalte erweisen sich später als die Stränge eines ineinander verknoteten Ganzen, bei dem die Regie nicht von einer leiblichen Erzählerinstanz geführt wird, sondern sich anscheinend selbst um den Erzählgegenstand verdichtet, d.h. vom Objekt des Erzählten zum Subjekt des Erzählens zu werden scheint. Ein solches Verfahren bringt im Sinne der Unmöglichkeit, die atomaren und subatomaren Verhältnisse mit Hilfe traditioneller "makroskopischer" Perspektiven nachzuvollziehen, eine Ästhetik zum Ausdruck, die als der Versuch zu verstehen ist, dem durch die Wissenschaften veränderten Weltbild in der Literatur adäquat zu begegnen.

© Vladimira Valkova (Veliko Târnovo)


ANMERKUNGEN

(1) Musil, Robert: Vortrag in Paris. In: Gesammelte Werke, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 8, S. 1267. Des weiteren zitiert im Text als GW8 und Seitenzahl.

(2) Die in Klammern gedruckten Seitenzahlen und die Abkürzung MoE beziehen sich auf die Ausgabe des Verlags Volk und Welt, Berlin, 1975.

(3) Kochs, Angela Maria: "Die 'Geburt des Gedankens aus dem Geist der Maschine' - der Paradigmenwechsel innerhalb der Naturwissenschaften zu Anfang des 20. Jahrhunderts." In: "Chaos und Individuum. Robert Musils philosophischer Roman als Vision der Moderne", Verlag Karl Alberg, Freiburg/München, S.23.

(4) Vgl.: "Er sah, (...) dass (er) anders denkt als gewöhnliche Menschen", (MoE, 49).

(5) Zit. nach Angela Maria Kochs: "Die 'Geburt des Gedankens aus dem Geist der Maschine' - der Paradigmenwechsel innerhalb der Naturwissenschaften zu Anfang des 20. Jahrhunderts." In: "Chaos und Individuum. Robert Musils philosophischer Roman als Vision der Moderne", Verlag Karl Alberg, Freiburg/München, S.23.


Primärwerke:

1. Musil, Robert: "Der Mann ohne Eigenschaften", Volk-und-Welt-Verlag, Berlin, 1975.
2. Musil, Robert: Gesammelte Werke, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 8.

Sekundärwerke:

1. Dawidowski, Christian: Die geschwächte Moderne. Robert Musils episches Frühwerk im Spiegel der Epochendebatte. Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 54, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2000.
2. Döring, Sabine A.: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie., Mentis, Paderborn, 1999.
3. Kochs, Angela Maria: "Chaos und Individuum. Robert Musils philosophischer Roman als Vision der Moderne, Verlag Karl Alberg, Freiburg/München, 2000.
4. Moser, Manfred: Schreiben ohne Ende. Letzte Texte zu Robert Musil. Sonderzahl Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien, 1991.
5. Puppe, Heinrich: Muße und Müßiggang in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und zur neueren österreichischen Literatur, Bd.1Werner J. Röhrig Verlag, 1991.


2.1. Kultur und Zivilisation

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For quotation purposes:
Vladimira Valkova (Veliko Târnovo): Die Hilflosigkeit in der Kultur. R.Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/02_1/valkova15.htm

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