Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

3.1. Exil und Migration | Exile and Migration | Exil et migration
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Fawzi Boubia (Caen)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Vor der (imaginären) Gesetzes-Kraft

Arno Böhler (Wien)

 

Abschnitt 1: Von den Exilen der Innerlichkeit

Die Zäsur

Dieser Aufsatz handelt von einer Form des Exils, die nicht an Nationen, Rassen oder ein bestimmtes Geschlecht gebunden ist, die aber gleichwohl jeden von uns treffen kann und irgendwann auch schon getroffen hat: jene Form des Exils, in der wir auf uns selbst zurückgeworfen werden, weil uns Äußerungen gewaltsam untersagt, verweigert, verunmöglicht werden.

Nietzsche deutet die innere Revolte der gewaltsam verhinderten Instinktäußerungen, durch die ein Lebewesen gezwungen wurde, den Fluchtweg nach innen anzutreten, da ihm der Fluchtweg nach außen versperrt und verweigert wurde, überhaupt als den tragischen Schoß der Zeit. Als jene Zeitlichkeit geschichtsmächtiger Zäsuren, die den Kalender einer Zeitepoche vergeben, aus dem sich das LebeWesen Mensch dann, für eine bestimmte Zeit lang, versteht, seine epochale Selbstständigkeit und Identität gewinnt und damit das wird, was es schicksalsmäßig schon war: Eine nachträgliche Auslegung jener übermächtigen Ereignisse, die uns aus unseren vertrauten Bahnen herausgeschleudert und auf uns selbst zurückgeworfen haben. Gewaltsam auf sein eigenes privates Selbst reduziert und zurückgebeugt, hebt nun jene intime Fluchtreaktion an, in der das so vom Schicksal gebeutelte Individuum unausweichlich vor der Aufgabe steht, über die Wunde, die es erlitten hat, zu reflektieren. Auf die verstörte Innerlichkeit seiner in.timen Erinnerungen fixiert, zeitigt sich nun jener zwiespältige innere Monolog einer gegen sich selbst gewendeten Seele, die den traumatischen Erinnerungen ihrer eigenen Archive entfliehen möchte, um von ihrem traumatisierten Gedächtnis loszukommen.

Es ist diese mehrfältige Fluchtbewegung von schicksalshafter Zäsur, innerer Migration und nachträglicher Verarbeitung der so erlittenen Schicksalsschläge, die für Friedrich Nietzsche seit je her die intime Bewegung der Kulturgeschichte "Mensch" in Atem hält. Fatale Zäsuren, die eine Seele erst mit einer Fixierung ausstattet und von nun an um einen verborgenen "Ereignis-Kern" herum kreisen lässt, der von nun an die intime Konstellation und das regelmäßig wiederkehrende Thema (subject) dieses Subjekts charakterisiert.

Danach

In den eigenen Schmerz vergraben, bricht jener innere Kampf an, in dem die sich selbst entfremdete Seele den dramatischen Versuch macht, dem Exil ihrer Innerlichkeit zu entkommen, um sich vom giftigen Stachel ihrer traumatischen Verwundung zu lösen. Ein Zustand innerer Migration und seelischen Wiederkäuens, der seinerseits nicht wenig Gefahren in sich birgt. Eignen sich die Bruchstellen der Seele doch vorzüglich als Refugien für Rachegeister, die hier ihr gefährliches Spiel ungehemmt treiben können, indem sie die Maschinerie des Ressentiments auf intime Art und Weise bedienen: Jenen dunklen Wiederholungszwang, der den Kreislauf der Rache am Leben erhält, indem er an traumatischen Erleidnissen zwänglich festhält, um diese, jenseits des Lustprinzips, ständig wiederkehren zu lassen; oft maskiert und unter vorgeschobenen Vorzeichen. "Oh über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch! Welche Einfälle kommen ihr, welche Widernatur, welche Paroxysmen des Unsinns, welche Bestialität der Idee bricht sofort heraus, wenn sie nur ein wenig verhindert wird, Bestie der That zu sein!"(1)

Während für Tiere das "Außenverhältnis" zur Umwelt die primäre Dimension ihrer Innerlichkeit ausmacht, erleidet das Lebe-Wesen im Lebewesen Mensch für Nietzsche eine radikale Zäsur der Verinnerlichung und Subjektivierung. "Alle Instinkte," sagt er in seinen Anmerkungen Zur Genealogie der Moral, "welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen - dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine "Seele" nennt."(2)

Was einst für den Gesamthaushalt eines Lebewesens kaum ins Gewicht fällt, die Erinnerungen an verdrängte Gefühle, Handlungen und Spreckakte, das wird für das rätselhafte Untier "Mensch" immer mehr zu einem sensiblen Leitorgan und Hauptmotiv seines Agierens. Züchtet sich das Reservoir gewaltsam verdrängter Energien im Laufe der Historie des Menschen doch ein immer raffinierter werdendes Gedächtnis an, das schließlich danach trachtet, die schmerzlichen Risse und Ritzen der Zeit ein für alle Mal fest-, und bleibend in Erinnerung zu behalten. Eine bedrohliche Genese einer bedrohlichen Kraft, die im Zuge der Genealogie des Menschen immer mehr dahin tendiert, zum kommandierenden Gedanken (Order-Word) der Selbstorganisation des Menschen (Autopoiesis) überhaupt zu werden. Die primär nach außen gerichtete Natur der Tiere wird bei diesem Prozess sukzessiv durch eine sekundäre, nach innen gerichtete Menschenwelt ersetzt, bis die Exile der Innerlichkeit vom Diktat traumatischer Erinnerungsspuren schließlich gänzlich tyrannisiert und dominiert werden. Ein Zustand, der für Nietzsche vor allem dann bedenklich wird, wenn diese reaktiven Kräfte ihrerseits Flügel und "Genie" bekommen und nun selbst aktiv zu fabulieren beginnen, indem sie reaktive Werte, Ideale und fabelhafte Sagen in die Welt setzen und damit in Umlauf bringen.

Die Verinnerlichung des Menschen, in der er sich rücklings gegen sich selbst wendet und unter dem Banner der Moral den inneren Kampf gegen "sein ganzes thierisches altes Selbst"(3) und seine sozialen Zäsuren antritt, birgt demnach seinerseits nicht unerhebliche Gefahren in sich. Ist doch nicht auszuschließen, dass sich der Mensch in dieser außerordentlichen Lebenslage selbst zum Fragezeichen und Giftmischer wird, der "innerlich" danach dürstet, das Unerlöste und Unerhörte, das in ihm wohnt, ihn drückt und schmerzt, durch neue, rachsüchtige Versprechungen auflösen zu wollen. "Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden", heißt es in einer Dichtung von Georg Trakl, die mit dem Titel "Frühling der Seele" überschrieben ist.(4)

Vom Wiederkäuen im Exil

Auf ihr eigenes intimes Leiden zurückgebeugt, Verdrängte unter Verdrängenden, irren sie, diese Fremdlinge, nun im privaten Exil ihres historischen Unbehagens herum. "Ungeheuer ist viel, doch nichts Ungeheurer als der Mensch",(5) lässt Sophokles den Chor in seiner Antigone sagen, um auf diese Rastlosigkeit des Menschen hinzuweisen, dem es nicht vergönnt zu sein scheint, irgendwo, irgendwann bleibend zur Ruhe zu kommen.

Im Zustand der inneren Migration, in der Entrückung in die geheime Zeitordnung unserer eigenen In.timität beginnt jetzt jene Quasi-Aktivität des Geistes in den Vordergrund zu rücken, die ich im Anschluss an Nietzsche das geistige Wiederkäuen des Gewesenen nennen möchte. Eine Gesinnung des Geistes, die nach u-topischen Fluchtwegen aus dem irdischen Desaster Ausschau hält, um sich Notausgänge und Schlupflöcher aus den Exilen der Innerlichkeit zu bahnen. Ein angespannter Zustand des Geistes, in dem das ganze Arsenal von Schicksalsschlägen und rastlosen Flüchtlingserinnerungen wach und rege wird, das in solchen Einzelschicksalen wohnt; das ganze "Einst und Ehemals" wird jetzt noch einmal fiktiv durchgespielt und nachträglich bearbeitet; die Wunden der Vergangenheit noch ein Mal imaginär geleckt und in ihrer in.timen Spannkraft durchmessen, um schließlich ein für alle Mal in einem erlösenden Befreiungsschlag verdaut, vergessen und ausgespuckt zu werden: "Es ist vollbracht!", - ... Hoffentlich ... - Denn misslingt dieser intime Befreiungsschlag und kommt der wiederkäuende Geist in seinem inneren Exil auch nachträglich nicht zur Ruhe, dann bedeutet dieser Fehlschlag für Nietzsche nichts anderes als der Anfang vom Ende: die Geburt von "Schuld" und "schlechtem Gewissen" mitten im Herz der Exile unserer Innerlichkeit. Die zurückgestoßene, angestaute Energie bleibt in diesem Fall unverdaut in uns zurück. Sie hört nicht auf, uns wieder und wieder heimzusuchen und giftig nachzustellen. Im Kreislauf traumatischer Geschichten auf das Gewesene fixiert, holt uns das fatale Verhängnis unserer Historie wieder und wieder ein, stößt auf, oft zur Unzeit, auf jeden Fall zwänglich, so dass es sich gerade gegen unseren Willen, gegen unser besseres Wissen und Gewissen, ja sogar gegen unser Lustprinzip widerwillig zurückmeldet: unversöhnt, unverdaut, giftig. "Dieser gewaltsam latent gemacht Instinkt der Freiheit - wir begriffen es schon - dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in`s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen."(6)

Die in`s Innere eingekerkerte Seele und nachträglich nach Vergeltung dürstende Rachsucht des Menschen, sie stellen zwar Formen der "inneren Migration" des Menschen dar, aber zumindest für Nietzsche handelt es sich dabei um jene missglückten, reaktionären Formen einer seelischen Verarbeitung tragischer Erleidnisse, von denen es ratsam und an der Zeit wäre, sich in einer Art übermenschlichen Anstrengung in Zukunft ein für alle Mal zu verabschieden.

In einem Aphorismus, der "Von den Taranteln" der Rache handelt, fragt sich Nietzsche in seinem Zarathustra, ob es nicht möglich ist, diesen Taranteln der Rache ihr Gift zu ziehen, um sie von den intimen Exilen ihres Ressentiments zu befreien, das sie traumatisch um ihr "Es war" kreisen - und damit um ihre eigene Zeitachse winden lässt. "Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern."(7)

Von der u-topischen Erlösung

"Fügen wir sofort hinzu, dass andrerseits mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchvolles und Zukunftsvolles gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte ... Der Mensch zählt seitdem mit unter zu den unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, ... er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei ..."(8)

Als ein "Tier", das versprechen muss, befinden sich die Menschen per se in der prekären Lebenslage, ständig über eine Zukunft sprechen zu müssen, die uns allererst versprochen wird, über deren Kommen wir aber nicht unbedingt verfügen können. Denn immer könnte es für das in die Ferne fliehende Fluchtwesen "Mensch" auch anders kommen, so dass sich das virtuelle Versprechen, das wir uns im Vorhinein blauäugig gegeben haben, im Nachhinein als ein fataler Versprecher einer menschlich, allzu menschlichen Sprache erwiesen haben könnte. Paul De Man hat diesen ambivalenten Sachverhalt auf prägnante Art und Weise auf den Punkt gebracht, wenn er in Allegories of Reading lakonisch vermerkt: "Die Sprache verspricht (sich)."(9)

Es ist daher kein Zufall, dass Nietzsche die zweite Abhandlung Zur Genealogie der Moral FCber "'Schuld', 'schlechtes Gewissen' und Verwandtes" mit folgender rhetorischen Frage beginnt: "Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf - ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat?"(10)

 

Abschnitt 2: A-porien des Versprechens

Kants Inszenierung eines weltbürgerlichen Versprechens

"Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müsste, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; [denn] es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zu Stande kommen."(11)

In seiner kleinen Spätschrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht stellt sich Kant die Frage, wie die Geschichte der Menschheit tatsächlich verlaufen müsste, wenn sie vernünftigen Zielen folgen würde. Eine seltsame Art und Weise, Geschichtsphilosophie zu betreiben. Wird die wirkliche Geschichte in ihrem tatsächlichen Verlauf von Kant hier doch so vorgestellt, als ob die Natur- und Menschheitsgeschichte am Ende tatsächlich die Verwirklichung und der Effekt eines vernünftigen Versprechens gewesen sein könnte. Natürlich lässt sich die tatsächliche Verwirklichung dieses vernünftigen Versprechens nicht unbedingt vorhersagen. Aber diese Ungewissheit, dieses "gefährliche Vielleicht"(12) verbietet uns nicht, die wirkliche Natur- und Menschheitsgeschichte zumindest so zu denken, als ob sie am Ende auf die Verwirklichung vernünftiger Ziele hinauslaufen könnte. Sowenig sich der tatsächliche Geschichtsverlauf für Kant im Vorhinein unbedingt voraussagen lässt, so wenig lässt sich ein Grund dafür finden, warum die Realisation dieser denkbaren Möglichkeit tatsächlich unmöglich sein sollte und die Natur- und Menschheitsgeschichte in ihrem historischen Werdegang die Realisation einer solchen vernünftigen Möglichkeit a priori von sich weisen und rigoros ausschließen sollte?

Gleichwohl die Tatsächlichkeit eines solchen Geschichtsverlaufs für Kant also nicht a priori bewiesen werden kann, kann ein solcher Geschichtsgang von uns als ausgezeichnete Möglichkeit eines möglicherweise möglichen Geschichtsverlaufs philosophisch bedacht und als Möglichkeit unseres historischen Da-seins systematisch reflektiert werden. Eine philosophische Aufgabe, der sich Kants Geschichtsphilosophie stellen möchte. Geht es ihr doch um die systematische Ausbildung des theoretischen Entwurfs einer ausgezeichneten Möglichkeit unseres geschichtlichen In-der-Welt-seins,(13) die als besorgbare Möglichkeit unseres Da-seins von uns Menschen jederzeit ergreifbar ist. Kants Geschichtsphilosophie stellt uns demnach unter anderem auch vor die existentielle Wahl, uns von dieser ausgezeichneten historischen Möglichkeit in Anspruch nehmen zu lassen, indem wir uns ganz persönlich dazu entschließen, durch unser persönliches Engagement die Besorgung dieses historischen Vorhabens aktiv voranzutreiben und mitzutragen, um es seiner geschichtlichen Realisation ein klein wenig näher zu bringen. Eine kosmopolitische Utopie, "in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, welche die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden."(14)

Offenbar denkt Kant die Geschichte der Menschheit in dieser kleinen Schrift als Angleichung der Wirklichkeit an ein virtuelles Vernunftversprechen, das den Menschen historisch in Anspruch nimmt, die "Natur" nach dem Vorbild der menschlichen Vernunft umzugestalten und damit im Lauf der Zeit der Bedürftigkeit des Menschen anzupassen.

Aber nehmen wir einmal an, die Geschichte würde wirklich so verlaufen und tatsächlich einen Zustand hier auf Erden realisieren, in dem die ökologische Anordnung der Natur in eine völlige Übereinstimmungen mit den moralischen Anforderungen unseres Freiheitsbegriffs gekommen wäre. Wäre dann jene andere - denn offenbar ist es nicht die unsrige - jene zu-künftige Welt nicht zum theatralischen Raum einer weltbürgerlichen Inszenierung geworden, zu der Kant die Idee geliefert hätte und andere dafür Sorge getragen hätten, die Idee zu einem solchen Geschichtsroman theatralisch umzusetzen und in der wirklichen Geschichte durch strategische, weltbürgerliche Politiken de facto uraufzuführen?

Würde eine solche kosmopolitische Inszenierung gelingen, dann wäre aber offensichtlich nicht nur die Geschichte der Verwirklichung, sondern sogar das Ergebnis dieser "Wirklichkeit" durch und durch virtuell? Denn die angebliche Wirklichkeit, die im Laufe eines solchen Geschichtsromans uraufgeführt würde, wäre ja nur die reale Darstellung eines artifiziellen Drehplans, den die in diesem Stück vorkommenden wirklichen Darsteller befolgen, um ihn auf überzeugende Art und Weise im Zuge seiner Dramatisierung als wirklich und wahr erscheinen zu lassen?

Kant muss in seiner kleinen kosmopolitischen Regieanweisung daher nicht nur die Gefahr bannen, dass die gegenwärtige Antizipation dieses "utopischen" Flucht-Wegs aus der Wirklichkeit in das Genre populistischer Sci Fi- & Geschichtsromane fällt, sondern er muss auch in Betracht ziehen, dass die Realisation und Realität der von ihm antizipierten Zukunft letztlich nicht Gefahr läuft, artifizielle Menschen zu produzieren, die nach langer Proben- und Vorlaufzeit auf der Bühne des Lebens tatsächlich nur noch das Drehbuch zu einem historischen Roman zur Uraufführung bringen.

Gleichwohl die Weltgeschichte also schon hier, bei Kant, zu einer Theatergeschichte für Regisseure, Schauspieler und Romanhelden zu werden droht, die sich für die Aufführung dieses Kantschen Marionettentheaters entschieden haben, stellt er schon im Titel dieser Schrift klar, dass es sich bei seinem fiktiven Leitfaden nicht bloß um einen "Roman", sondern um eine allgemein ver-bindliche Idee von Geschichte handelt, in der nicht nur ein eurozentrischer Idiolekt oder eine Kantsche Privatsprache, sondern eine für alle Kulturen, Nationen, Staaten und Menschen maßgebliche universelle Vernunftidee zur Sprache kommt. Aber - kaum ausgesprochen, meldet sich schon jener zweifelsüchtige Dämon "Europa" in uns zu Wort und wirft eine quälende Frage auf, die uns einiges zu nagen gibt. Europa: "Wie soll ein fiktiver Leitfaden zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht jemals im Stande sein, die maßgebliche völkerverbindende Kraft auf unserem Planeten zu werden?"

Wahrlich. Eine gewichtige, schwerverdauliche Frage. Eine Frage für Nagetiere und bedächtige Wiederkäuer. Eine Frage also für "uns" Philosophen.

 

Verdauungstest 1:

Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ist offenkundig nur dann vernünftig und allgemein verbindlich, wenn die Natur von uns vernünftigerweise so gedacht werden kann, dass sie sich der Realisation dieser Idee nicht unbedingt verschließt. Denn wäre die Erfüllung dieses geschichtsphilosophischen Versprechens a priori unmöglich, dann wäre die Berufung auf diese Idee offenkundig von vornherein unsinnig. Oder nicht? Wozu könnte uns eine "große Erzählung" verpflichten, wenn sie grundsätzlich dazu verdammt wäre, dem Reich der Fiktion anzugehören?

Um dem Verdacht einer rein fiktiven Erzählung zu entgehen, muss Kant daher zunächst einmal zeigen, dass die tatsächliche Realisation seines geschichtsphilosophischen Leitfadens zumindest denkbar und daher grundsätzlich betrachtet auch nicht widersinnig, sondern vernünftig ist. Eine Notwendigkeit, die schon seine Kritiken der reinen und praktischen Vernunft eingesehen haben. Geht es ihnen doch darum, aufzuzeigen, dass die Realität von Freiheit einerseits widerspruchslos denkbar und vom Horizont der praktischen Vernunft her gesehen vernünftigerweise sogar postuliert werden kann. In seinen geschichtsphilosophischen Schriften wird nun über die kritische Grundlegung einer Philosophie der Freiheit hinaus die konkrete, praktische Einlösung dieses Postulats gefordert, indem Kant der Frage nachgeht, wie die Natur vernünftigerweise gedacht werden muss, wenn sie als Ort der Realisation der größtmöglichen Freiheit aller Menschen gedacht werden soll?

Für Kant ist klar. Im wirklichen Leben wird zwar gegen die Forderung unseres Gewissens, dem moralischen Gesetz Achtung zu erweisen, ständig verstoßen und der Ordnung unseres "moral sense" damit Gewalt angetan, aber ganz im Sinne von Rousseau wohnt der Mensch auch für Kant in zwei Welten, in denen einerseits die moralische Forderung nach gegenseitiger Achtung wach ist, andererseits permanent dagegen verstoßen wird. Ein Sachverhalt, den Rousseau treffend auf den Punkt bringt, wenn er sagt. "If I could have no other proof of the immateriality of the soul than the triumph of evil and the repression of the just in this world, then that would be enough to prevent me from having any doubts about it ... If the deity [that is to say, the center of moral accord] did not exist, only the wicked would reason rationally. The just man would merely be mad."(15)

Die Erfahrung der Ungerechtigkeit der Welt in Hinblick auf die asymmetrische Verteilung von Glück/Unglück in Bezug auf die Moralität bzw. Immoralität der Menschen wird von Rousseau und Kant also gleicherweise als amoralischer Terror erfahren, der gegen die legitimen Forderungen unseres Gewissens verstößt, die personale Würde des Einzelnen rigoros zu achten. Ein Gewaltakt wider unser moralisches (Ge-)Wissen, der für Kant und Rousseau in den Betroffenen quasi automatisch - und völlig zu Recht - das halluzinatorische Verlangen und Begehren nach einer anderen Welt auslöst. Einer Welt, in der diese barbarische Gewalt und ihre nicht zu rechtfertigende Gewalttätigkeit wider die moralische Natur der Menschheit ein für alle Mal zerstört und durch eine Wert- und Weltordnung ersetzt worden ist, in der die etablierten Machtverhältnisse mit dem moralischen Freiheitsgesetz in Einklang gebracht worden sind.

Was für ein visionäres Halluzinogen, das von Kant hier zur Sprache gebracht wird! Wird den Flüchtlingen der Innerlichkeit an dieser Stelle doch in Aussicht gestellt, dass sich der Wert einer Person in jenem anderen, (zu-)künftigen Reich der Freiheit einzig nach dem Grad ihrer moralischen Gesinnung bemisst und nicht mehr nach den etablierten "faktischen" Herrschaftsverhältnissen und ihren "natürlichen" Ressourcen, wie es in dieser Welt der Fall ist! Für Kant und Rousseau stellt das religiös konnotierte Reich der Moral also noch ein legitimes Refugium für all jene dar, deren personale Würde durch die realen Machtverhältnisse verletzt wird und sie daher quasi automatisch zwingt, im Reich der praktischen Vernunft Zuflucht zu suchen, um zumindest hier, im Reich der "Freiheit", ihre verdrängte Würde imaginär wiederzugewinnen.

Damit der fiktive Geschichtsentwurf der Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht allgemein akzeptiert wird, muss er auch eine mehrheitsfähige utopische Perspektive in Aussicht stellen, in welcher der fiktive Status dieses virtuellen Versprechens durch die Einlösung seines inhärenten Versprechens einst historisch überwunden worden sein wird. Zumindest in der Vorstellung von einer fernen Zukunft, in der sich diese Geschichte geschichtlich realisiert und materiell bewahrheitet hat. Eine animierende Aussicht auf das, was in Zukunft bei uns ankommt, da sich das utopische Versprechen einer solchen geschichtsphilosophischen Perspektive mit der libidinösen Kraft unseres affektiven Begehrens verbündet und die Geschichte des Menschen, im Großen wie im Kleinen, für alle in einem begehrenswerten und erstrebenswerten Licht erscheinen lässt.

Nun ist für Kant dieses Moral Image of The World zwar "schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ"(16) - wie Nietzsche in seiner Fabel von der Wahrheit einst ironisch angemerkt haben wird - es dient ihm über diesen erbaulichen Effekt hinaus aber auch noch als nützlicher, philosophischer Ratgeber für eine aufgeklärte Geschichtsphilosophie und Weltpolitik, die dem quasi "natürlichen" Kampf und Krieg aller gegen alle endgültig den Krieg erklärt. Im 4. Satz seiner kleinen geschichtsphilosophischen Schrift kann er daher öffentlich deklarieren. "Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird."(17)

Da sich die Entwicklung aller menschlichen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abzielen (1. Satz), für Kant "nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln"(18) (2. Satz) und der Mensch seine eigene gattungsmäßige Vollendung aus sich selbst und durch sich selbst hervorbringen soll (3. Satz), muss er sich zur Erreichung dieses Ziels aus freiem Willen einem Herrn unterwerfen, "der ihm seinen eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen."(19) (6. Satz). Kants Antwort, mit welchen Mitteln ein planetarischer Friede und die damit verbundene größtmögliche Freiheit aller Erdbewohner global erreicht werden kann, lässt also nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. "Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft."(20) (5. Satz) Und dieses Problem, das "Problem der Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöst werden."(21) (7. Satz)

Der Herr, der sich das antagonistische Tier im Menschen unterwirft und mit der Peitsche des Gesetzes zurechtbiegt, bis es von der dominanten Gewalt des Gesetzes gefügig gemacht worden ist, ja die Unterwerfung unter die Peitsche des moralischen Gesetzes selbst zur Quelle höchster Lust und Selbstachtung macht, dieser "Herr" ist für Kant der bürgerliche Staat und seine Erweiterung zum kosmopolitischen Staatenbund.

Die Bezeugung der eigenen Gewissenhaftigkeit im alltäglichen Handeln, die Errichtung einer bürgerlichen Rechtsverfassung im öffentlichen Raum sowie die Installation eines globalen Völkerbundes sind folglich die drei Säulen, auf denen der Roman zur Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht aufbaut und weltgeschichtlich realisiert werden soll. Mit dem Ziel, im Zuge dieses hypergewissenhaften Handelns den fiktiven Status eines "bloßen" Zukunftsromans zu überwinden, indem sich das welthistorische Projekt einer solchen Geschichtsauffassung selbst mehr und mehr zur maßgeblichen Wirklichkeit auf diesem Planeten macht. "[B]is endlich einmal teils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, teils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich ein Zustand errichtet wird, der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann."(22)

Wie? -
Die Vollendung der Menschheitsgeschichte?-
Sie soll in der planetarischen Errichtung eines sich selbst erhaltenden bürgerlichen Automaten liegen? -
(23)

Vielleicht werden wir zumindest an dieser Stelle stutzig, ob sich hinter diesem welthistorischen Versprechen nicht wieder einmal ein menschlich, allzumenschlicher Versprecher verbirgt? Denn offensichtlich braucht die Durchsetzung dieses welthistorischen Automaten auch eine Exekutivgewalt, die bereit ist, alle jene zu entmachten und zu entwaffnen, die sich der "legitimen" Gewalt dieses gewaltigen Versprechens widersetzen, da ihnen die Achtung vor dem bürgerlich-moralischen Gesetz immer noch mehr Frust als Lust bereitet. "Das asketische Ideal drückt einen Willen aus: wo ist der gegnerische Wille, indem sich ein gegnerisches Ideal ausdrückt? Das asketische Ideal hat ein Ziel ... es legt sich Zeiten, Völker, Menschen unerbittlich auf dieses eine Ziel hin aus, es lässt keine andre Auslegung, kein andres Ziel gelten, es verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im Sinne seiner Interpretation (- und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation?); es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte Rang-Distanz in Hinsicht auf jede Macht - es glaubt daran, dass nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Wert zu empfangen habe, als Werkzeug zu seinem Werke, als Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu einem Ziele ... Wo ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation? Warum fehlt das Gegenstück? ... Wo ist das andere 'eine Ziel'? ..." (24)

Der "mystische Grund der Autorität" des bürgerlichen Welttheaters.

Dieter Henrich unterstreicht die Relevanz dieses Problems, wenn er in seinen Kant-Studies an der Stanford Universität, die er 1990 unter dem Titel Aesthetic Judgment And The Moral Image Of The World gehalten hat, schreibt: "Kant argues correctly that all moral conduct would collapse if we had to believe that all moral actions had effects that prevented their objectives` being actualized."(25) Eine Argumentation, die besonders Nietzsche gegen Kant ins Spiel bringen wird. Denn sobald wir annehmen, dass die Idee eines zweckbestimmten Tuns das zu erreichende Ziel nicht erreicht, vielleicht sogar das Gegenteil dessen bewirkt, was im Tun beabsichtigt war, ganz im Sinne der "höllischen" Redensart, "ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft", würde auch die Forderung nach der Realisation eines moralischen Welt-Bildes in sich zusammenstürzen und korrumpiert. Daher mussten wir gleich zu Beginn betonen, dass der fiktive Entwurf eines moralischen Welt-Bildes qua normative Vorgabe einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht nur dann vernünftig und legitim ist, wenn der utopische Entwurf in einer fernen Zukunft einmal wirklich realisiert worden ist, indem er in Kraft tritt und dadurch seinen fiktiven Status tatsächlich hinter sich gelassen hat.

Aber heißt das nicht, dass ein geschichtsphilosophischer Entwurf dann und nur dann legitimierbar ist, wenn er über genügend Macht und Gewalt verfügt, sich selbst einmal ökologisch inthronisiert und ins Recht gesetzt zu haben?

Verdauungstest 2:

In Gesetzeskraft. Der "mystische Grund der Autorität" weist Jacques Derrida ausdrücklich auf diese Aporie hin, indem er uns darauf aufmerksam macht, dass in der deutschen Sprache das Wort Gewalt "auch die Bedeutung einer legitimen Gewalt oder Macht, einer Amtsgewalt, einer öffentlichen, staatlichen Gewalt" besitzt. "Die gesetzgebende Gewalt nennt die Legislatur, die geistliche Gewalt meint die Kirche, die Staatsgewalt die Macht und die Autorität des Staates."(26)

Wie soll man nun aber zwischen der Gesetzeskraft [force de loi], der legitimen Gewalt des etablierten Rechts und der ursprünglichen Gewalt(tat) [violance], die dieses Recht in Kraft gesetzt hat, um es im Nachhinein erst zu einer legitimen Macht zu machen, unterscheiden? Denn als Akt einer performativen Handlung zerbricht jede revolutionäre Gesetz-Gebung im Zuge ihrer Machtergreifung in der Tat "das Gewebe einer [homogenen] Geschichte"(27) und stellt daher ein rational unableitbares Ereignis dar. Eine gewaltige Tat, "die ihrer eigenen Definition gemäß von keiner vorgängigen Justiz, von keinem im Vorhinein stiftenden Recht, von keiner bereits bestehenden Stiftung oder Gründung verbürgt, in Abrede gestellt oder für ungültig erklärt werden könnte. Kein rechtfertigender Diskurs kann oder darf die Rolle einer Metasprache übernehmen und dafür sorgen, dass sie gesprochen wird, wenn es um die Performativität der instituierenden Sprache oder um deren vorherrschende Deutung geht."(28) Als unbegründbarer, nicht mehr argumentativ zu rechtfertigender Akt, der sich einzig und allein durch die Handlung der Machtergreifung selbst setzt und legitimiert, handelt es sich bei jedem revolutionären Geschehen um die singuläre Signatur einer Entscheidung, die sich selbst nicht mehr auf ein vorgängiges (positives) Recht stützen kann und ihre Dezision daher eigens zu verantworten hat.

Ganz im Gegensatz zu Pascal oder Montaigne, für die der mystische Grund der Autorität des Gesetzes gerade in der Tatsache besteht, dass das Gesetz als Gesetz gesetzt worden ist und daher aus Gewohnheit gilt, beruht der mystische Grund der Autorität des Gesetzes für Derrida gerade darin, dass der stets revolutionäre Akt einer neuen Gesetz-Gebung selbst nicht mehr begründbar und argumentativ zu rechtfertigen ist. Es sei denn, durch die illokutionäre Kraft der revolutionären Tat selbst, die keine Macht über oder außer sich als Metagewalt anerkennen darf, um ihren revolutionären Status nicht zu verlieren.

Nun hat Kant uns aber gerade zu bedenken gegeben, dass eine revolutionäre Macht nicht nur im Entschluss der Revolutionäre beruht, mit der Machtergreifung ernst zu machen und ihre Realisation damit tat-sächlich zu intendieren, sondern auch in jenem illokutionären Versprechen, das uns in Aussicht stellt, dass die Revolution nicht a priori zum Scheitern verurteilt ist, sondern Aussicht auf Erfolg hat und daher nicht kraftlos und ohnmächtig bleiben muss.

Wieder stehen wir vor dem Kantschen Paradox. Wäre eine revolutionäre Geschichte a priori zum Scheitern verurteilt, dann wäre es wohl schwierig, die revolutionären Ideale zur normativen Grundlage eines Gemeinwesens zu machen, da sie wenig Aussicht hätten, allgemein anerkannt zu werden. Schon Pascal hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass "Gerechtigkeit ohne Kraft (Gewalt)" - eine Gerechtigkeit also -, die "kraftlos und ohnmächtig" ist,(29) per se eine Form von Unrecht darstellt. Woraus wir schließen müssen, dass Gerechtigkeit erst dann und nur dann das ist, was sie ist, Gerechtigkeit, wenn sie von sich her die Kraft besitzt, sich selbst in Kraft zu setzen und damit den Status einer allgemein verbindlichen Gesetzes-Kraft zu erwerben. "Kraft (Gewalt) ohne Gerechtigkeit ist [also] tyrannisch. Gerechtigkeit ohne Kraft (Gewalt) wird [aber] nicht anerkannt."(30)

Wenn sich eine legitime (göttliche) Gewalt gerade nicht gewalttätig ins Recht setzen darf, da sie sonst selbst eine Form von Gewalt (violence), von Unrecht würde, gleichwohl aber über die illoktionäre Kraft (Gewalt) und Autorität verfügen muss, das von ihr gegebene Versprechen in der Tat auch einlösen zu können, dann stellt sich jetzt die Frage, wie sich das enforcement, die Gesetzes-Kraft einer solchen legitimen Gewalt denken lässt? - Wenn sie sich überhaupt denken lässt? "Wie soll man zwischen dieser Gewalt, dieser Kraft [force] des Gesetzes, dieser 'Gesetzeskraft', wie man im Französischen und ebenso - wenn ich mich nicht irre - im Englischen sagt, und einer Gewalt(tätigkeit) [violence], die man für ungerecht hält, unterscheiden? Welcher Unterschied besteht zwischen einer Gewalt, die gerecht und angemessen sein kann, von der sich auf jeden Fall behaupten lässt, sie sei legitim, einer Gewalt, die nicht einfach ein Instrument im Dienste des Rechts ist, sondern die vielmehr dessen Erfüllung, dessen Wesen darstellt, jenes, wodurch es sich geltend macht - und einer Gewalt(tätigkeit) [violance], die man immer für ungerecht hält? Was ist eine gerechte Gewalt, eine Gewalt, die nicht gewalttätig ist?"(31)

Für Kant ist klar. Die gewalttätige Installation eines allgemein bürgerlichen Rechtsstaates ist legitim, da sie das einzige vernünftige Mittel darstellt, den Krieg aller gegen alle aufzuheben und den Naturzustand der bisherigen Menschheit in einen zivilisierten, kultivierten und schließlich moralisierten Rechtszustand überzuführen. Damit geht das Gewaltmonopol an den Staat über, der seinerseits wieder durch einen Völkerbund in einen planetarischen Staatenbund eingebunden werden muss, um dem Staatsterror einzelner "Schurkenstaaten"(32) Einhalt zu gebieten. "...if everyon`s actions and intentions could be such that the principles guiding them could be adopted by everyone else, and if everyone`s will could always approve such an order without running into a contradiction, a maximum order within each individual will, as well as within all wills, would be established."(33)

Die Hervorbringung einer solchen gerechten bürgerlichen Verfassung stellt für Kant "die höchste Aufgabe der Natur" in Hinblick auf das Gattungswesen Mensch dar. Sie ist jener, von der Vernunft geforderte Herr, der das Tier im Gattungswesen Mensch einst gebändigt, gezügelt und schließlich neutralisiert haben wird, "bis endlich einmal ... ein Zustand errichtet wird, der einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann."(34)

Kant denkt die Geschichte des Gattungswesens Mensch letztlich als eine gewaltige kosmopolitische Maschine. Sie verfolgt einen geheimen Plan, dient einem bestimmten Zweck und erfüllt damit performativ ein einst gegebenes Versprechen. Jene, die sich diesem einen Ziel, diesem einen Sinn, diesem einen Wert normativ nicht unterordnen, werden von der bürgerlichen Staatsmaschinerie legitimerweise an den Rand gedrängt und schließlich geopfert.(35)

Aber ist ein solcher unbedingter Gehorsam gegenüber dem moralisch-bürgerlichen Gesetz wirklich vernünftig? Oder sollten wir uns mit Nietzsche nicht vielmehr fragen "Wo ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation? Warum fehlt das Gegenstück? ... Wo ist das andere 'eine Ziel'?"(36)

Nachsatz

Birgt das Wagnis, das ein Wesen darstellt, das per se dazu verdammt ist, sich selbst versprechen zu müssen, vielleicht nicht doch noch ein geheimes, unerhörtes Versprechen, das in diesem Text noch nicht zur Sprache gekommen ist?

Gilles Deleuze hat in Differenz und Wiederholung wiederholt darauf hingewiesen, dass jede Wiedererinnerung eine erotisierende Wirkung auf das sich erinnernde Subjekt ausübt. Das intime Durchdringen der Hallen unseres Gedächtnisses erregt und stimuliert uns gerade auch dann, wenn es sich bei der Rückbesinnung auf unsere Vergangenheit um die Erinnerung an traumatische Wunden und verdrängte Ereignisse handelt, die in ihrem "thrill" nachträglich ans Licht gebracht und aufgedeckt werden sollen. "Jede Wiedererinnerung ist erotisch, ob es sich um eine Ortschaft oder um eine Frau handelt. Immer ist es Eros ... der uns in jene reine Vergangenheit an sich, in jene jungfräuliche Wiederholung, Mnemosyne, eindringen läßt. Er ist der Begleiter, der Bräutigam Mnemosynes."(37)

Die Frage, warum der Akt der Erinnerung erotisch wirkt, diese Frage bliebe für Deleuze unbeantwortbar, wenn im Erinnern nicht per se ein Versprechen liegen würde, das in der dritten Synthese der Zeit,(38) dem Gedächtnis der Zukunft, anklingt. Aber was verspricht sich in dieser Synthese der Zukunft?

In Potentialities spricht Giorgio Agamben im Anschluss an Walter Benjamin davon, dass das Geheimnis des Gedächtnisses nicht so sehr darin beruht, dass es Vergangenes wiederholt und dadurch nachträglich vergegenwärtigt, sondern darin, dass im Akt des Erinnerns dem Vergangenen seine Potentialität zurückgegeben wird. "Remembrance restores possibility to the past ... Remembrance is neither what happened nor what did not happen but, rather, their potentialization, their becoming possible once again."(39)

Das unerhörte Geheimnis des geistigen Wiederkäuens gewesener Zeitinhalte beruht nicht so sehr darin, dass in der Wiedererinnerung vergangene Ereignisse re-präsentiert und damit nachträglich vergegenwärtigt werden, wie noch Husserl im Anschluss an Hume vermeinte, sondern darin, dass die Vergangenheit, durch den Akt ihrer nachträglichen Vergegenwärtigung ihrer ursprünglichen Potentialität zurückgegeben wird. Im Erinnern wird Vergangenes repotenziert und damit seiner Unwi(e)derruflichkeit und Unwi(e)derbringlichkeit entzogen, indem das Vergangene durch den Akt des Andenkens nachträglich remarkierbar gemacht wird. Die dritte Synthese der Zeit scheint demnach das Unmögliche(40) zu versprechen, dass das Gewesene in seiner Bedeutung nicht vergangen, sondern solange zukünftig bleibt, solange es von uns nicht vergessen wurde. Denn trotz seiner chrono-logischen Vergangenheit und Unwiederbringbarkeit bleibt das Vergangene Kraft der Macht des Gedächtnisses logisch remarkierbar und in seiner einstigen Bewandtnis daher semantisch unabgeschlossen - futural ankünftig.

Diese Unabgeschlossenheit des Gewesenen wird vor allem dann brisant, wenn wir jene Deutung von Personalität und Lebendigkeit in Betracht ziehen, die Henri Bergson in Materie und Gedächtnis entwickelt hat. Ein wunderbares Buch, in dem er ein Bild vom Menschen zeichnet, das die Singularität des Menschen insgesamt von der Fakultät des Gedächtnisses her zu begreifen versucht. "Wir haben angenommen," steht da zu lesen, "dass unsere ganze Persönlichkeit in jede aktuelle Wahrnehmung eingeht, das gesamte Archiv unserer Erinnerungen, und zwar ungeteilt ..."(41)

Die Rezitation der Narben unserer Vergangenheit ist dann keine Frage der Vergangenheit mehr, sondern der situativen Gegenwart, in der diese wiederbelebt und aktuell supplementiert werden. Wenn aber die primäre Funktion des Gedächtnisses weder darin beruht, originär Wahrgenommenes retentional in Erinnerung zu behalten, noch darin, Gewesenes nachträglich noch einmal zu re-präsentieren, sondern vielmehr darin, das, was uns affiziert, in seiner Remarkierbarkeit offen zu halten, dann zeitigt sich im aktuellen Augenblick einer Situation auch jederzeit jene Möglichkeit mit, die Irreversibilität des Gewesenen situativ aufzuheben, um dem LebeWesen Mensch jenen Fluchtraum offen zu halten, der es ihm ermöglicht haben wird, aus seiner traumatischen Vergangenheit aktuell herauszutreten und damit zu entkommen. Wenn es aber die dritte Synthese der Zeit, die Remarkierbarkeit des Gewesenen ist, die den traumatischen Exilen des Menschen einen Fluchtraum gewährt und Fluchtwege offen hält, dann ist es vermutlich dieser Gedanke und ein von ihm durchdrungenes Sprachspiel, von dem sich Nietzsche jenes Gegengift versprochen hat, das den Taranteln der Rache einst ihren Todesstoß versetzt haben wird.

Dass das Vergangene nicht vergangen, sondern im Vollzug der nachträglichen Wiedererinnerung im Kommen bleibt, von dieser hypermodernen Sage hat sich Nietzsche vermutlich einen utopischen Ausweg aus den Exilen der Rache versprochen und imaginiert. - Und in der Tat. Lehrt sein abgründigster Gedanke, der Gedanke der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen" nicht tat-sächlich die unendliche Rekontextualisierbarkeit des Gewesenen in seiner ewigen Wiederkunft und Wider-kehr?

Als Flüchtling und unzeitgemäßer Betrachter der Moderne, der er zeitlebens blieb, fand Nietzsche in diesem, seinem abgründigsten Gedanken allem Anschein nach doch noch eine literarische Bleibe und philosophische Zufluchtstätte, die ihm, nach einer langen Odyssee, Asyl und ein neue sprachliche Heimat gewährte. Denn die Möglichkeit, einen früheren Kontext zu resignifizieren macht es möglich, dass die Vergangenheit "mit der Zeit von ihrer Macht zu verletzen abgelöst und als affirmativ rekontextualisiert werden"(42) könnte.

Womit sich für uns die Möglichkeit einer Idee zu einer singulären Geschichte in hypermoderner Absicht anbahnt. Eine Idee, die auf Taubenfüßchen daherkommt.

© Arno Böhler (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Friedrich NIETZSCHE, KSA 5, Zur Genealogie der Moral, 332f. Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Berlin/New York 1967-1977.

(2) Friedrich NIETZSCHE, KSA 5, Zur Genealogie der Moral, 322.

(3) Friedrich NIETZSCHE, KSA 5, Zur Genealogie der Moral, 326.

(4) Georg TRAKL, Werke Entwürfe.Briefe, 91f. Stuttgart 1984.

(5) Sophokles, Die Tragödien, "Antigone", 275. Stuttgart 1962.

(6) Friedrich NIETZSCHE, KSA 5, Zur Genealogie der Moral, 325.

(7) Friedrich NIETZSCHE, KSA 4, Also sprach Zarathustra, "Von den Taranteln", 128. Vgl. dazu auch Martin HEIDEGGER, Was heißt denken? 33. Tübingen 1984.

(8) Friedrich NIETZSCHE, KSA 5, Zur Genealogie der Moral, 323f.

(9) Paul de MAN, Allegories of Reading, 277. Yale 1997.

(10) Friedrich NIETZSCHE, KSA 5, Zur Genealogie der Moral, 291.

(11) Immanuel KANT, "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", 36. In: Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1992.

(12) Friedrich NIETZSCHE, KSA 5, Jenseits von Gut und Böse, 17.

(13) Zur "eigentlichen" Wahl qua Existential unseres geschichtlichen In-der-Welt-seins vgl. Martin HEIDEGGER, Sein und Zeit, v. a. § 74. Tübingen 197915.

(14) Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 38.

(15) Dieter HENRICH, Aesthetic Judgment And The Moral Image of The World, Studies in Kant, 11f. Stanford 1992.

(16) Friedrich NIETZSCHE, KSA 6, Götzen-Dämmerung, 80.

(17) Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 25.

(18) Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 23.

(19) Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 28.

(20) Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 27.

(21) Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 29f.

(22) Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 31.

(23) (Anmerkung: Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass dieser Vortrag im Rahmen einer interkulturellen Tagung im Austria Center der Wiener Uno-City gehalten wurde. Einer Institution, die selbst eine Bühne dieser kosmopolitischen Inszenierung darstellt.)

(24) Friedrich NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral, Bd. 5, 395.

(25) Dieter HENRICH, Aesthetic Judgment And The Moral Image of The World, 26.

(26) Jacques DERRIDA. Gesetzeskraft. Der "mystische Grund der Autorität", 13. Frankfurt am Main 1991.

(27) Jacques DERRIDA. Gesetzeskraft, 28.

(28) Jacques DERRIDA. Gesetzeskraft, 28.

(29) Jacques DERRIDA. Gesetzeskraft, 23.

(30) Jacques DERRIDA. Gesetzeskraft, 23.

(31) Jacques DERRIDA. Gesetzeskraft, 12f.

(32) Eine eingehende Erörterung dieses Terminus finden wir bei Jacques DERRIDA, Schurken. Frankfurt am Main 2003.

(33) Dieter HENRICH, Aesthetic Judgment And The Moral Image of The World, 18f.

(34) Immanuel KANT, Schriften zur Geschichtsphilosophie, 31.

(35) Zur Geschichte in hypermoderner Absicht vgl. Arno BOEHLER, "Nietzsches virtuellen Wanderungen im Sprachzeitraum des Gefährlichen Vielleicht". In: Nietzscheforschung. Jahrbuch der internationalen Nietzschegesellschaft, Band 10, (im Druck) 2004.

(36) Friedrich NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral, Bd. 5, 395.

(37) Gilles DELEUZE, Differenz und Wiederholung, 118. München 2 1997.

(38) Gilles DELEUZE, Differenz und Wiederholung, 118.

(39) Gorgio AGAMBEN, potentialities, 267. Stanford 1999.

(40) Zum Prinzip der "Unwiderruflichkeit des Gewesenen", das selbst für die Götter eine unbedingte Grenze ihrer Macht darzustellen scheint, vgl. Gorgio AGAMBEN, potentialities, 262.)

(41) Henri BERGSON, Matter and Memory, 165. New York 1998. Übersetzung vom Autor. "We have supposed that our entire personality, with the totality of our recollections, is present, undivided within our actual perception."

(42) Judith BUTLER, Hass spricht. Zur Politik der Performativen, 27f. Berlin 1998.


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For quotation purposes:
Arno Böhler (Wien): Vor der (imaginären) Gesetzes-Kraft. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_1/lboehler5.htm

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