Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

3.2. Sektion sozialverträgliche Wissenschaftskulturen
Herausgeber | Editor | Éditeur: Michael Strähle (Wissenschaftsladen Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Bericht: Sozialverträgliche Wissenschaftskulturen (1)

Michael Strähle (Wien)

 

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Technologien eröffnen bislang ungeahnte Handlungs- und Eingriffsmöglichkeiten, deren mögliche Folgen - seien es soziale, kulturelle oder ökologische - Bedenken laut werden lassen. Politik steht somit vor der Aufgabe, die forcierte wirtschaftliche Nutzung wissenschaftlichen Wissens mit der erwarteten ökologischen und sozialen Verträglichkeit der Wissenschaften in Einklang zu bringen. Wobei die Aufgabe weitaus größer ist als es scheint, geht sie doch über die Regulierung von Bio-, Informations- und Kommunikationstechnologien hinaus.

Die Verwissenschaftlichung von Lebensvollzügen - und damit deren Delegierung an Fachleute - führt zum Verlust von lebensweltlichem Wissen. Wieviel Wissenschaft brauchen wir? Wie kann eine solche Kolonisierung der Lebenswelt vermieden werden? Ein Bündel von Wissensformen unter anderen, welche Rolle könnte den Wissenschaften zukommen? Kann wissenschaftliches Wissen mit anderen Wissensformen sich verbinden ohne diese zu dominieren? - Mittlerweile gibt es eine Reihe von Maßnahmen, Initiativen und Vorschlägen wie beispielsweise Konsensuskonferenzen, Wissenschaftsläden, erweiterte Peer Review und die Einbeziehung von KonsumentInnen in Forschungsprojekte, denen darum zu tun ist, soziale Verträglichkeit durch die Mitbestimmung durch BürgerInnen zu fördern. Wird hier wirklich Mitbestimmung praktiziert oder werden Interessen in den Dienst genommen? Werden die BürgerInnen als PartnerInnen oder Bedürftige gesehen? Wie wird die soziale Verträglichkeit präsentiert? Viele dieser Initiativen bewegen sich am Rande oder außerhalb des Wissenschaftsbereiches, wenn sie nicht gar unsichtbar bleiben. Warum ist dem so? - Die Universitäten sind nicht länger die alleinigen Orte, an denen bewertet wird, ob Wissen wissenschaftlich, soll heißen: rechtmäßig zustande gekommen ist. Die Disziplinierung der Wissensformen ändert sich. Welche neuen Formen der Disziplinierung sind entstanden? In welchem Verhältnis stehen diese zur verlangten sozialen Verträglichkeit der Wissenschaften?

Wie sieht also sozial verträgliche Wissenschaft aus bzw. wie könnte sie aussehen?

Michael Strähle bot im Vortrag, der die Sektion eröffnete, einen Überblick über Themenbereiche, welche die Frage nach der Sozialverträglichkeit von Wissenschaft berührt. Sozialverträglichkeit sei nicht mit Akzeptanz, nicht mit mehr öffentlichem Verständnis für Wissenschaft und Technik zu verwechseln. Dieses Mißverständnis stehe sozialer Verträglichkeit im Wege. Akzeptanzförderung setze eine assymetrische Beziehung voraus: einen potentiell ignoranten Adressaten und eine Höherwertigkeit wissenschaftlichen Wissens. Dabei werde ein zu starker Akzent auf das Wissen gelegt und zu wenig berücksichtigt, daß soziale Beziehungen keine des Wissens, sondern der Anerkennung sind. Die Betonung der Dimension des Wissens lenke von der Erfahrung des Getrenntseins des wissenschaftlichen Bereichs von anderen Bereichen ab und verleite dazu, Beziehungen der Wissenschaften zu anderen Bereichen vornehmlich als Konfliktbeziehungen zu beschreiben, denen Nichtwissen zugrunde liege. Unter diesen Voraussetzungen werde Sozialverträglichkeit als Zustand der Fraglosigkeit, der Ruhe, gesehen. Sozialverträglichkeit sei jedoch ein Prozeß immer wieder von neuem erforderlicher wechselseitiger Anerkennungen von Positionen, Ansprüchen und Bedürfnissen anderer und der eigenen Grenzen; ein solcher Prozeß schließe - auch heftige - Diskussionen und Debatten nicht aus, im Gegenteil, er verlange danach.

Rainer Hohlfeld sieht in der Re-Kontextualisierung der Naturwissenschaften eine der Bedingungen für Sozialverträglichkeit. Objektivität werde, zumindest nach orthodoxer Auffassung, mit Kontextunabhängigkeit gleichgesetzt, so daß die Forschungsgegenstände Schritt für Schritt von kontextuellen Bezügen - pragmatischen, semantischen und sozialen - befreit werden. Damit einher gehe eine Blindheit für Kontexte und soziale Bezüge, die für Risiken und Gefahren blind und oftmals Prognosen unsicher mache. Nicht immer sei Dekontextualisierung möglich, deshalb würden beispielsweise Umgebungen Laborbedingungen unterworfen - Hohlfeld erwähnte die Pasteurisierung von Hühnerställen durch Pasteur -, Kontexte variiert - wie in der AIDS-Forschung - oder - wie im Falle der Freisetzung transgener Organismen - unkontrollierbare Kontexte akzeptiert. In allen drei Fällen zeige sich, daß Kontextualisierungen wertende Entscheidungen, ob und wenn ja, welche Kontexte ausgetestet werden müssen, vorangehen müssen. Kontextualisierungen geschähen daher nicht immer im Hinblick auf Sozialverträglichkeit und seien daher nur notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingungen für Sozialverträglichkeit.

Hans Keune stellte die Arbeit des Flämischen Zentrums für Umwelt und Gesundheit vor, eines von zwölf solcher Zentren in Flandern, die sich auf unterschiedliche, politikrelevante Themenbereiche konzentrieren. Das Zentrum für Gesundheit und Umwelt konzentriert sich u. a. auf die regelmäßige Kontrolle (Biomonitoring) und die Kartierung von industriellen Umweltbelastungen auf die Gesundheit. Keune erläuterte aus sozialkonstruktivistischer Sicht, wie dort unter Einbeziehung von AkteurInnen aus unterschiedlichen Bereichen in einem pragmatischen Prozeß politikrelevantes Wissen entsteht und welche Rolle SozialwissenschaftlerInnen dabei spielen. In einer unausgesetzten Reflexion auf diesen Prozeß wird dieser regelmäßig den aktuellen Anforderungen angepaßt, um ein möglichst adäquates Setting zu gewährleisten.

Frank Becker präsentierte anhand des Projekts ReUse-Computer an der Technischen Universität Berlin, wie das Aufkommen von elektronischem Schrott durch die Aufarbeitung und Wiedervermarktung gebrauchter Computer vermindert werden kann. Pronounciert stellte er Nutzenoptimierung der Verbrauchsmaximierung gegenüber. Erhaltendes Handeln biete ein Gegengewicht zur durchgängigen "Ökonomisierung" unseres herkömmlichen Handelns und entschleunige unsere Wirtschaft. ReUse-Computer leisten Beiträge zu einer nutzerInnenorientierten Technikentwicklung, stärken die Rolle der Regionen durch die Erhöhung der regionalen Wertschöpfung und machen Nachhaltigkeit sowie Innovation praktisch erfahrbar.

Für Bernhard Wieser ist ein Mehr an Partizipation für Sozialverträglichkeit unabdingbar; er beschäftigte sich anhand der Erfahrungen mit der Grazer Informationsstelle Gentechnik - INFOgen - mit der Frage, wie partizipative Wissenschaftskommunikation zum Thema Gentechnik aussehen könnte. Vorherrschende Zugänge, so Wieser, implizierten nicht selten ein Defizitmodell, dem gemäß eine potentiell unwissende Öffentlichkeit zur Akzeptanz bewogen werden soll. Um diesem Modell zu entgehen, sei ein anderes Setting nötig, das an signifikante Erfahrungen der Teilnehmenden und deren Lebenswelt anschließe, Interaktivität erlaube und erkennbare Handlungsrelevanz besitze. Diese Bedingungen sieht Wieser insbesondere in der beruflichen Weiterbildung durch ihren hohen Organisationsgrad, die dortige Homogenität der Zielgruppen, die Möglichkeit zu intensiverer Kommunikation und die gegebenen Handlungsbezüge gegeben. Durch ein solches Setting werde Praxiswissen aufgewertet und die Hierarchie von wissenschaftlichem und Handlungswissen relativiert, weil wissenschaftliches Wissen als provisorisch, lokal, kontrovers und kontextgebunden erfahren werde, zusätzlich brächten die vorgeblichen LaiInnen Neues ein.

Erich Grießler und Beate Littig präsentierten ein internationales Projekt zur Xenotransplantation, der Transplantation von tierischen Geweben, Organen und Zellen in den Menschen, in dessen Rahmen die Methode des neosokratischen Dialogs in die partizipative Technikfolgenabschätzung eingeführt und die Ergebnisse dessen evaluiert wurden. Das Projekt wurde in Österreich, Deutschland und Spanien durchgeführt. Die Bedenken gegenüber Xenotransplantationen würden bislang vor allem aus der Perspektive der Sicherheit erörtert und die Debatte würde von NaturwissenschaftlerInnen dominiert werden, so Grießler. Ziel des Projektes sei es gewesen, ethische Fragen der Xenotransplantation aufzugreifen und mit betroffenen AkteurInnen aus unterschiedlichen Bereichen zu diskutieren, nicht Risiko- und Gefahrenanalyse zu betreiben. In Österreich gebe es bis dato weder eine Debatte zu diesem Thema, noch würden sich Körperschaften damit beschäftigen, obwohl Österreich bei Transplantationen an dritter Stelle hinter Belgien und Spanien liege und die Akzeptanz von Xenotransplantationen in der Bevölkerung im internationalen Vergleich gering sei. In Gruppen mit acht bis zehn TeilnehmerInnen, je die Hälfte von ihnen WissenschaftlerInnen und LaiInnen, wurden ausgehend von Beispielen aus der Alltagserfahrung allgemeine Maximen abgeleitet. Die Ergebnisse seien ermuntigend, doch uneinheitlich gewesen. Wie bei allen partizipativen Verfahren in der Technologiefolgenabschätzung sei die Verbindung der neosokratischen Dialoge zur politischen Entscheidungsfindung indirekt und unklar gewesen.

Franz Seifert setzte sich anhand der österreichischen BürgerInnenkonferenz Genetische Daten: Woher, Wohin, Wozu? mit der Gleichsetzung von Sozialverträglichkeit mit partizipativen Maßnahmen kritisch auseinander, bleiben doch die Ergebnisse bekannter Partizipationsmaßnahmen wie Konsensuskonferenzen zu allermeist unverbindlich. Die neuen Entscheidungsstrukturen zur Mobilisierung der Wettbewerbsfähigkeit seien hierarchischer und dezisionistischer. Wirkliche Mitbestimmung finde nicht statt, stattdessen werde durch PR-orientierte Partizipationsmaßnahmen über wenig umstrittene Themen Konsens, also der Schluß einer etwaigen Debatte und damit Sozialverträglichkeit suggeriert, könnten doch die durchgeführten Partizipationsmaßnahmen weder Repräsentativität, noch Verläßlichkeit für sich beanspruchen. Die BürgerInnenkonferenz habe keine wesentlichen politischen Auswirkungen gehabt und auch keine größere öffentliche Debatte hervorgerufen. Eben auf Grund der politischen Bedeutungslosigkeit hätte sie auch nur ein vergleichsweise geringes Medienecho erzeugt. Das dänische Modell der Konsensuskonferenz habe sich als ausreichend anpassungsfähig erwiesen, um in Österreich Teil einer breiten Imagekampagne zu werden und die tatsächlichen Entscheidungsprozesse nicht zu berühren. Ob vielleicht gerade diese Anpassungsfähigkeit zum internationalen Erfolg dieses dänischen Mitbestimmungsmodells beitrage, wäre interessant zu untersuchen.

Mit der Diskussion seiner Erfahrungen mit Peer Review und rezenter Entwicklungen des Publikationswesen in der Physik beleuchtete der Physiker Karl Svozil einen innerwissenschaftlichen Aspekt von Sozialverträglichkeit. Peer review, im allgemeinen angesehen als die Maßnahme zur Qualitätssicherung in den scientific communities, laufe oftmals auf böswillige Zensur hinaus, die Fortschritt verhindere. Dazu komme, daß Publikationen oft erst lange nach der Einreichung erscheinen würden. Ein Grund für diese Mißstände bestünde darin, daß die GutachterInnen überdies immer weniger Zeit hätten und Begutachtungen von Beiträgen prinzipiell kostenlos erfolgen würden, so daß weitere Verschlechterungen in der Qualität der Gutachten zu befürchten seien. Überdies stiegen trotz sinkender Ankaufsbudgets vieler wissenschaftlicher Zeitschriften die Preise der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften stetig. Doch entwickle sich, nicht zuletzt durch die Möglichkeiten, die die globalen Datennetze eröffnen, dazu eine Gegenbewegung, das Publizieren auf Preprint-Servern, wo Beiträge bereits vor ihrem Erscheinen im Druck veröffentlicht und diskutiert würden. Zugriffe auf diese Server seien frei möglich. Sollten die "Kinderkrankheiten" dieses Systems behoben sein (ungeklärte Fragen des Urheberrechts etc.) und ein solcher universaler E-Print-Server beispielsweise durch die UNESCO kontrolliert werden, dann, so Svozil, wäre dies eine echte Alternative zum herrschenden Publikationswesen.

Manfred E.A. Schmutzer sah hinter dem Anspruch auf Sozialverträglichkeit einen Schwund an Vertrauen in bestimmte Wissenschaften. Dieser Schwund bedeute, daß die kulturelle Entwicklung dieser Wissenschaften und der Gesellschaften, in die sie eingebettet sind, nicht länger akkordiert ist. Sozialverträglichkeit sei, nicht zuletzt durch die Kulturabhängigkeit von Sinn- und Deutungsmustern, jeweils systemimmanent aus dieser Interaktion zwischen Wissenschaften und Gesellschaften zu verstehen. Für unterschiedliche wissenschaftliche Interpretationen seien soziale Charakteristika und Erfahrungen ausschlaggebend, die nur mühevoll bewußt gemacht werden können; sie entstünden aus der Interaktion kulturspezifischer Deutungssysteme und den zugehörigen Organisationsstrukturen. Science wars, heftige Auseinandersetzungen in den Wissenschaften, aber auch öffentliche Auseinandersetzungen um neue Technologien seien also als cultural clashes zu verstehen, bei denen nichtkompatible Deutungsmuster aufeinander stoßen. Daraus ergebe sich, daß Mitbestimmung nicht in jedem Fall soziale Verträglichkeit garantiert.

In der Sektion nahmen Diskussionen einen breiten Raum ein. Es wurde deutlich, daß die herkömmlichen Maßnahmen, für neue Technologien Akzeptanz zu schaffen, kaum geeignet sind, sozial verträglichere Wissenschaftskulturen zu schaffen. Doch auch die praktizierten partizipativen Maßnahmen können daran nicht viel ändern, wenn sie unverbindlich bleiben. Sozialverträglichkeit ist mit Demokratie eng verknüpft; es braucht deshalb breite öffentliche Debatten zu den Fragen, die wissenschaftliche und technische Entwicklungen aufwerfen, und eine ernsthafte Demokratisierung gesellschaftspolitischer Entscheidungsprozesse.

© Michael Strähle (Wien)


ANMERKUNG

(1) Der Autor dankt Gerhard Fröhlich (Universität Linz) für dessen Anregungen, auf die u. a. der Sektionstitel zurückzuführen ist.


3.2. Sektion sozialverträgliche Wissenschaftskulturen

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For quotation purposes:
Michael Strähle (Wien): Bericht: Sozialverträgliche Wissenschaftskulturen. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_2/straehle_bericht15.htm

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