Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Mai 2004
 

3.6. Kulturelle und Sprachvielfalt. Koexistenz, Interferenzen und Divergenzen in pluriethnischen Regionen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: András F. Balogh (Budapest) / George Gutu (Bukarest) / Dagmar Kostálová (Bratislava / Preßburg)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Kaffeehaus und Weinlokal als Kommunikationszentren in den Kulturen Mitteleuropas, erörtert aus slowakischer Sicht

Dagmar Kostálová (Bratislava)
[BIO]

 

In der vorgelegten Form hat das Thema für mich Pioniercharakter, da ich es - selbst hinsichtlich der kleinen Slowakei - als so komplex und vielschichtig entdeckte, dass ich kaum mehr als ein erstes neugieriges Sich-Herantasten daran präsentieren kann.

Ich stamme aus einem Eltern- und Großelternhaus, wo - so meine Kindheitserinnerungen - die Großmutter am Fenster, dezent hinter der Gardine versteckt, regelmäßig auf die Rückehr meines Großvaters aus dem Kaffeehaus gewartet hatte und wo fast der gesamte Freundeskreis meiner Eltern aus der Zeit ihrer früheren - beinahe täglichen - Besuche von Pressburger Weinlokalen herrührte. Mein Vater, wurde mir erzählt, sei im Kinderwagen - hinter dem Rücken seiner Eltern - in Kaffehäusern großgeworden. Ein wohl typisches Schicksal in der damaligen Zeit, wie man liest.

Seit ich mich erinnere, gehörten die Namen der bekanntesten Kaffehäuser wie auch die Sätze: "íst' pod viechu, byt' pod viechou" - in die Weinschenke gehen, in der Weinschenke sein - zur orientierenden Kenntnis meiner Geburtsstadt. Auch die Publikationen der letzten Jahrzehnte schenken diesen Einrichtungen in Pressburg-Bratislava mehr Aufmerksamkeit als etwa dessen Restaurants oder Gaststätten. Als traditionelles Merkmal der Stadt üben sie auch im nachhinein - nach vier Jahrzehnten sozialistischen Dahinsiechens des kultivierten Stadtlebens - eine wichtige identitätsbildende Funktion aus. Und zwar nicht nur, weil unsere Stadt sich in jenen vierzig Jahren selbst verlorenging und sich nun über sich mehrende Erinnerungsbücher der alten Pressburger - wie sie sich nennen - mühsam wieder sucht, sondern weil Kaffehäuser und Weinlokale als Kommunikationszentren, wie ich festgestellt habe, eng mit wichtigen Entwicklungsphasen der slowakischen Nationalkultur verbunden sind.

Näher eingehen möchte ich in diesem Zusammenhang auf die aus der Sicht anderer nationaler Kulturkontexte wohl relativ sehr späte Epoche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf die Zwischenkriegszeit. Erst nach der Herauslösung aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in die erste Tschechoslowakische Republik begann sich nämlich für die Slowaken als Kulturnation ein eigenständiges Kulturleben zu entwickeln. Zwar waren bereits die letzten hundert Jahre in der Monarchie durch intensive Bemühungen um sprachliche, kulturelle und politische Autonomie geprägt, offiziell unterstand das damalige "Oberungarn" - die Region der heutigen Slowakei - jedoch dem Ungarischen Königreich, wo die Slowaken, aber auch Karpatendeutsche und andere Nationalitäten, einem massiven Assimilationsdruck ausgesetzt waren. Erst an der Seite der Tschechen und mit ihrer Hilfe konnten sie also nach 1918 versuchen, ihre nationalkulturellen Forderungen von früher in die Tat umzusetzen.

Bratislava bzw. Presporok, wie die Stadt damals hieß, als die neue Hauptstadt des slowakischen Teils der Republik, spielte in diesem Prozeß eine sehr wichtige Rolle. Umso mehr, als die Stadt noch weitere dreißig Jahre, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, nicht wirklich slowakisch war. Das ganze Gebiet der heutigen Slowakei war spätestens seit dem 12. Jahrhundert, als die deutsche Kolonisierung begann, eine multikulturelle, pluriethnische Region, wo neben Slowaken auch andere Nationalitäten zu Hause waren und diese kulturell mitprägten. Noch im Jahre 1930 lebten in Bratislava, Pressburg oder Pozsony, wie die Stadt auf Ungarisch hieß, neben 48% Slowaken und Tschechen 26% Deutsche und 15% Ungarn.(1) Sie waren es, die von Anfang an den überwiegenden Teil des reichen Patriziats und des Mittelstandes stellten und wesentlich zum kulturellen Aufschwung der ganzen Region beitrugen. Dementsprechend spricht Zajac von Ablagerungen der Kulturen unterschiedlicher Ethnien, die einen Bestandteil der Geschichte und des heutigen Kulturbewusstseins der Slowaken bilden.(2)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es allerdings infolge der autonomistischen Bestrebungen der Slowaken, umso mehr natürlich dann infolge der Entstehung des neuen Staates, zu allmählichen, an manchen Orten massiven Veränderungen der traditionellen Bevölkerungsstruktur. Bratislava erlebte von 1910 bis 1940 einen Einwohnerzuwachs von 80 auf 140000(3), von denen die meisten Slowaken waren und der unteren Gesellschaftsschicht angehörten. Ähnliches erlebte die Stadt noch einmal nach 1945. Trotz der dadurch bewirkten langfristigen Proletarisierung der Stadt sind die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen für die Slowaken auf jeden Fall die Zeit eines mächtigen und vielseitigen Aufschwungs und der offiziellen Konstituierung des eigenen nationalen Kulturkontextes. "Als ich im Dezember 1919 nach Bratislava kam", schreibt der slowakische Journalist und Schriftsteller Ján Hrusovský, "fand ich dort viele Freunde und Bekannte. Es sah fast aus, als wäre zumindest die halbe Slowakei nach Bratislava gezogen."(4)

Nun ist für die Nichtkenner der slowakischen Topographie anzumerken, dass im Zuge dieser Bewegungen die in diesem Raum ansässigen Nationalitäten und deren Kulturen auf einmal viel massiver und vielschichtiger als bisher aufeinander trafen. Was die Hauptstadt Bratislava betrifft, die, an der Donau liegend, an der Kreuzung der westslowakischen Ebene mit den Ausläufern der Kleinen Karpaten erwuchs und deren Blick sich von der mächtigen Burg eher in den Süden und Südwesten Ungarns und Österreichs als in den hügeligen slowakischen Nordosten erstreckt, waren die nach 1918 in sie strömenden Slowaken zuerst einmal mit einer ganz anders gearteten Landschaft konfrontiert, die auch landwirtschaftlich anderes hergab. In unserem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die Region um Bratislava sich im Unterschied zu dem bergigen Rest des Landes (mit Ausnahme der ostslowakischen Ebene) sehr gut für Weinbau eignet und dort traditionell guter Wein produziert wurde und wird. Während also in den früher viel mehr von Slowaken bewohnten bergigen Regionen eher Schnaps, der berühmte slowakische Borovicka - Wachholderschnaps -, aber auch aus Kartoffeln, Getreide und Obst gebrannter starker Alkohol getrunken wurde, tranken und liebten die alten Pressburger den Wein. Und infolge der Tatsache, dass sich, wie Fachleute belegen, um die Entwicklung des Weinbaus in der heutigen Slowakei vor allem aus dem Rheinland eingewanderte deutsche Winzer verdient machten, von denen viele in Pressbug und Umgebung lebten - noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollen sie fast ausnahmslos deutscher Nationalität gewesen sein(5) -, kommt es infolge der Slowakisierung dieses Gebiets nach 1918 zu einer Art Kulturtransfer, indem viele aus der Provinz stammende Slowaken in der Stadt dem Wein auf den Geschmack kommen.

Um eine andere, ähnliche Art Kulturtransfer handelte es sich im Fall des Kaffeetrinkens. Nachdem, wie die Ethnologin Rastislava Stolicná anführt, der Kaffee in unser Gebiet zwar bereits nach der Niederlage der Türken bei Wien 1683 Einzug hielt - als Getränk des Adels und des reichen Bürgertums allerdings nur -, war er den unteren Schichten und somit auch der armen slowakischen Landbevölkerung trotzdem lange unzugänglich. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sollen die meisten nur Kaffeeersatz gekannt haben.(6) Anders jedoch in Bratislava und in anderen größeren Städten wie Kosice z.B. in der heutigen Ostslowakei. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts soll es in Bratislava 9 Kaffeehäuser gegeben haben. 1895 waren es 17, 1937 schon 35 große und 306 kleine Cafés und Restaurants.(7) Und während der Weinbau und die ganze Weinkultur eine Domäne der Deutschen war, sollen die Kaffeehäuser eher ungarisch gewesen sein. "In die Cafés gingen mehr Ungarn als Deutsche ... Man hörte mehr Ungarisch als Deutsch", schreibt Aladár Balogh dazu.(8) Auch die Juden bevorzugten die Kaffeehäuser, wo weniger Alkohol und mehr Kaffe oder Tee getrunken wurde.(9)

In beiden Fällen sind die Slowaken also die später Dazugekommenen, für die, wie gesagt, erst nach der Entstehung der Tschechoslowakei der lange ersehnte Aufstieg und somit auch ein in vielerlei Hinsicht noch produktiverer und folgenreicherer interkultureller Austausch- und Lernprozess beginnt.

Nicht unähnlich den Verhältnissen in der Weimarer Republik öffnet sich das nun ihnen gehörende Land mit tschechischer Hilfe dem modernen bürgerlichen Zeitalter. Das nationalistische Aufbegehren gegen die tausendjährige Unterdrückung gehört fürs erste der Vergangenheit an, das Interesse richtet sich zunehmend auch auf die Welt außerhalb der eigenen Grenzen. Nun wollen sie einen vielfachen Nachholprozess in die Wege leiten, um quasi als sie selbst in der Welt anzukommen. Die slowakische Mittelschicht wächst beträchtlich und mit ihr auch der von den deutschen, ungarischen, tschechischen oder jüdischen Mitbürgern übernommene anspruchsvollere und kultiviertere Lebensstil. Viele Slowaken studieren in Prag und bringen von dort den Hauch der "großen Welt". Die Nähe Wiens und Budapests macht sich nun vermehrt auch in ihrem Leben bemerkbar. Dies ist unter anderem auch die Blütezeit ihrer Weinstuben- und Kaffeehausbesuche. Auf deren eingangs erwähnte wichtige Rolle im slowakischen Kulturleben möchte ich nun kurz näher eingehen.

Die slowakische Literatur nach 1945 weist eine beträchtliche Menge Erinnerungsbücher auf, die auf diese Zeit zurückgreifen. Namhafte Schriftsteller, Dichter und Journalisten entwerfen ein gleichsam idyllisches Bild jener Jahre, so gut verständlich aus der Sicht des nachfogenden gemaßregelten grauen sozialistischen Vor-sich-hin-Vegetierens. Gleich mehrere von diesen Büchern stammen von Stefan Záry, einem bedeutenden Dichter der slowakischen Variante des Surrealismus, der in den 30er Jahren einsetzt und bis in den Krieg hinein als die einzige klar ausgeprägte Richtung der slowakischen Poesie und bildenden Kunst anhält.(10) Záry entwirft Portraits seiner Zeit- und Weggenossen, der "Künstler und Bohemians", wie Hrusovský sie in seinem Buch nennt, und somit ein facettenreiches Bild von Bratislava jener Zeit.

Träumen ohne Alkohol ist nicht zu ertragen, lässt er in einem davon den Dramatiker und Bühnenautor Ivan Bukovcan behaupten.(11) Eigentlich ist diese Meinung für die gesamte slowakische Boheme der Zwischenkriegszeit repräsentativ. Der laut Záry damals letzte Aufschrei der Avantgarde im Überrealismus, wie die Richtung auf Slowakisch hieß(12), verband sich mit einer intensiven Genusssucht, mit einem inzwischen beinahe legendären Durst auf Alkohol und mit vielen überlieferten kulinarischen Gelüsten, ja sogar erstaunlichen Kompetenzen auf diesem Gebiet.

In Bratislava, wie gesagt, lernten die Slowaken, aber auch die biergewohnten Tschechen so richtig Wein trinken und dessen Qualität genießen. Die multiethnische "pressburger Weltzeit", von der der Schriftsteller L'udo Ondrejov sprach(13), war nicht zuletzt in den von Deutschen, Ungarn, Tschechen und Slowaken geliebten Weinlokalen zu erleben, indem ihnen allen mit ihren verschiedenen Sprachen gerade der Wein die Zungen löste. Auch im übertragenen Sinn einer interkulturellen bzw. interethnischen Begegnung. Die zu Beginnn von den Deutschen und Ungarn nämlich als Eindringlinge wahrgenommenen Slowaken - Schriftsteller, bildende Künstler, Musiker, Journalisten und Theaterleute, die plötzlich neben Politikern und Beamten die Stadt okkupierten - wurden in der kosmopolitischen Atmosphäre gerade über ihr schon aus den Prager Studienzeiten bekanntes ausschweifendes nächtliches Bummeln durch die Weinlokale mit heimisch. Infolge des massiven Bevölkerungszuwachses gab es nach 1918 einen extremen Mangel an zufriedenstellenden Wohnmöglichkeiten - ein bekannter Opernsänger soll angeblich eine Zeitlang auf einem Baum genächtigt haben -, so dass der Alltag für die Dazugekommenen auch aus diesem Grund in Gaststätten, Cafés oder eben Weinlokalen verbracht wurde. Zumal sie, aus ihrer alten in eine fremde Welt versetzt, über neue Kontakte in Bratislava heimisch zu werden versuchten.

Eine ganz besondere und für Bratislava sehr typische Form des Weinausschanks, für manche Besucher der Stadt sogar eine Einmaligkeit, die auch in den Erinnerungen an diese Zeit vor allem eine Rolle spielt, wurde in sog. "viechy" betrieben. Nach dem damals geltenden Gesetz durften die in der Stadt ansässigen Winzer für jeweils 14 Tage (manchmal auch mehrmals im Jahr) ihren Wein direkt im eigenen Haus verkaufen. Als Zeichen für den eben stattfindenden Ausschank wurde aus dem Dach des Hauses für zwei Wochen die erwähnte "viecha", ein grüner Zweig befestigt an einer langen Stange hinausgestreckt. Die daran hängenden farbigen Bänder gaben an, ob Weiß- oder Rotwein, ob Jung- oder Altwein ausgeschenkt wurde. Der Winzer öffnete darauf hin sein Haus vom Einfahrtstor, Innenhof und Garten bis in die Privatgemächer der Familie, um möglichst vielen Gästen Platz und ein gutes Geschäft zu machen. Indem es auf diese Weise immer wieder woanders "grünte", zog man übers ganze Jahr von einem Winzerhaus zum anderen, im Jahre 1937 etwa in 35 verschiedenen Straßen der ganzen Stadt zerstreut.(14) Deutsche, ungarische und slowakische Zeitungen brachten genaue Angaben, wer und wo gerade seinen Wein verkauft.

Nach dem Gesetz durften die Winzer nichts zum Essen verkaufen, aber man durfte "unter die Viecha" gehend, wie es auf Slowakisch hieß, Essen selbst mitbringen. Als entsprechende Einkaufsmöglichkeiten werden bekannte Fleischläden, Delikatessengeschäfte, Bodegas (heißt auf Slowakisch ähnlich) oder die Markthalle erwähnt. Oder aber man ließ sich von den vielen sog. "kucébri"(15), den herumziehenden Kraxenträgern bedienen, die neben anderen verkauften Sachen auf mitgebrachten eigenen Geräten - alles um den Hals gehängt -, sogar vor Ort unterschiedliche Frischgerichte zubereiten konnten. Oder die Winzer boten selbst etwas zum Essen an, trotz des Verbots, wogegen, heißt es, immer wieder die Bratislavaer Gastwirte gereizt reagierten.

Die uns interessierende interkulturelle Begegnung bestand für die Slowaken an diesen Orten, wie der Ethnologe Peter Salner meint, zuerst einmal in deren Bemühen, vor den kultivierten deutschen und ungarischen Weintrinkern nicht durch ungebührliches Verhalten aufzufallen. Erst allmählich lernten sie, wie die Tschechen angeblich auch, dass das Weinglas nicht wie borovicka oder Bier auf einmal geleert wird, sondern der Wein schluckweise verkostet, in Farbe und Alter aufmerksam geschätzt und nur langsam genossen wird. Zugleich begriffen sie, dass man sich unter der "viecha" höchstens "a klanes Schwipserl" holen durfte, wie die Pressburger sagten, man sich jedoch nie betrank. Obwohl die Slowaken nämlich relativ trinkfest sind, gehörte der übermäßige Alkoholgenuss trotzdem traditionell zu jenen Gewohnheiten, die die Volksaufklärern stets rigoros zu bekämpfen versuchten.

Záry geht in seinen Erinnerungen auf viele Aspekte des sich elitär gebärenden Alltags oder eher Allnachts der slowakischen Künstlerboheme ein. Bezeichnend für sie war, dass sie, offen für alles Fremde, für die Welt, für die Inspirationen aus der Kunst der großen Metropolen, nach tiefen Regungen aus war, nach der Möglichkeit, sich von der sprichwörtlichen slowakischen Kleinkariertheit, wie es immer wieder heißt, durch Extravaganz und bewußtes Beflügeln der inneren Phantasiewelten abzusetzen.

Als "junge Riesen", wie sich die jungen Mitglieder des 1923 gegründeten Verbandes der slowakischenn Schriftsteller bezeichneten(16), wollten sie mit viel Elan - so auch er Name der anspruchsvollen Zeitschrift des Verbandes - über das Bisherige hinaus. Über dem Wein kamen sie nicht nur mit ihren deutschen und ungarischen Mitbürgern zusammen, sondern auch untereinander als Surrealisten oder Sensualisten auf der einen und als linke Intellektuelle und katholische Moderne auf der anderen Seite. Die "Oxford-Jahre des damaligen Winzerhauslebens", von der Záry schreibt, jene, meint er, so"reiche Armut des regen Lebens"(17), bildeten über den engen und intensiven Austausch und das sich daraus immer wieder ergebende professionelle Zusammenwirken von Dichtern, Malern und Journalisten etwa die slowakische Moderne heran.

Eine Art Modellfall des erhobenen Anspruchs, in Europa und dessen Kunst anzukommen, ist der Lyriker und Maler Rudolf Fábry, der nur mit einem Jahr Verspätung nach dem Auftritt des tschechischen 1935 den Surrealismus auch in die slowakische Poesie einführte.(18) Záry zeichnet ihn als einen weltoffenen, nonkonformen Geist, der mit spöttischer Selbstverständlichkeit und großem Krach die Tür nach Europa aufriss, alles Hinterwäldlerische hinter sich lassend. Bratislava betrat er mit dem Schritt eines in und durch die Prager "Weltluft" Ausgebildeten, den sein leidenschaftlicher Durst nach Leben später durch fremde Kontinente und unterschiedlichste Lebensbereiche hin und her trieb, zu jungen Zigeunerinnen ebenso wie zu häufigen Verkleidungen und dem Bratislavaer Wein und Bier. Und dem von den Surrealisten geliebten grünen Absinth. Fábrys Durst genauso wie sein Apetit sollen eine Art "Urlust"(19) nach der großen Welt gewesen sein , auch im Essen und Trinken. Seine eigene Kochkunst war legendär, zumal er immer wieder neue Ideen und Zutaten von seinen fernen Reisen mit nach Hause brachte und bis zum Schluss, so Záry, ein großes internationales Kochbuch zu schreiben plante. Von seinen täglichen Besuchen in Kaffehäusern und Weinlokalen bekannt, soll er wiederholt von Berufsköchen um Rat gefragt worden sein. Ein in vielerlei Hinsicht bahnbrechender Vermittler zwischen Kulturen, eine Art aufklärendes Echo der "großen Welt" mitten in der schläfrigen Muffigkeit Bratislavas.(20)

Auf jeden Fall hatte das "flüssige Frühstück", um Zárys Bezeichnung als Metapher für die erblühte slowakische Weinliebe zu nutzen(21), eine die künstlerische Kreativität anregende Wirkung. Davon zeugt der damals unter den Künstlern verbreitete Name eines bescheidenen Wirtshauses am Rande der Stadt, wo sich die bunte Gesellschaft einmal wöchenlich traf. Im "Wirtshaus der goldenen Phantasie", so lautete der bezeichnende Name, wurde aus neuen Werken gelesen, es wurden neue Gedichte oder Entwürfe für Bilder und Statuen zur Diskussion gestellt oder es wurde in Abgeschiedenheit des Nebenraums Literatur geschrieben. Über den Wein war nicht nur für Außenstehende den oft schwierigen Künstlernaturen beizukommen, sie konnten auch selber leichter zu jenem brodelnden Urquell ihrer eigenen Kunst Zugang finden, den Záry in Bezug auf den Dichter Jan Smrek "süße Hölle" oder "quälendes Paradies" nennt.(22)

Wirkten der Wein und der Besuch der "nassen Viertel" der Stadt, wie die Slowaken sagen, vor allem als inspirierende Musen, so war das mit dem Weinlokal ernsthaft konkurierende Kaffeehaus viele Jahre lang eine Art Austragungs- und "Verwaltungsort" der jungen Kunst. "Der Literat gehört ins Kaffeehaus und das schönste Grün ist der Bezug des Billiardtisches", so fasst unser Dichter(23) das ungeschriebene Kredo der ehemaligen Surrealisten zusammen. Laut ihm hatte das Kaffeehaus zugleich die Funktion eines Literatursalons, wo natürlich auch diskutiert, mit Leidenschaft gestritten und improvisiert wurde, wo aber in erster Linie die wichtigsten Publikationen entworfen, zusammengetragen und gestaltet wurden und wo es zu wichtigen Treffen von Dichtern, Kritikern, bildenden Künstlern, Chefredakteuren oder Herausgebern kam.

Neben etlichen anderen werden in der Zwischenkriegszeit immer wieder die noch in meiner Jugendzeit sehr bekannten Cafés Grand, Luxor und Metropol erwähnt, wo die slowakische Künstlerboheme jahrelang Stammgast war. Dass auch hier die Kundschaft multiethnisch zusammengesetzt war, davon zeugen viele Aussagen - etwa über die vielen Zeitungen, die es dort zu lesen gab: der viersprachige Journalist Emo Bohúò etwa bekam nach seiner Ankunft die slowakische Zeitung Slovenský denník, dazu auf tschechisch Lidové noviny, außerdem die deutschsprachige Morgenzeitung und zwei ungarische Zeitungen zur Auswahl in die Hand.(24) Es werden auch die Pester Lloyd aus Budapest, das Pragher Tagblatt, die damals beste deutschsprachige Zeitung in der Tschechoslowakei, das Wiener Journal und die Neue Freie Presse erwähnt, außerdem Londoner und Pariser Zeitungen, die zwar etwas verspätet zu haben waren, alle jedoch täglich bereits vor 8 Uhr in der Früh(25), wie es heißt.

Die Abfolge der täglichen Gäste ist bunt und bezeugt, dass der Kaffeehausbesuch bei vielen fest im Tagesverlauf eingebaut war: Kurz vor sieben kamen erste Beamte und Angestellte, errinnert sich der Besitzer des sehr bekannten und beliebten Cafés Stefánia. Nach ihnen Professoren und Ärzte. Nach acht dann viele Geschäftsleute, darunter viele Juden. Ihnen folgten die ersten Stammgäste des Vormittags - einigen brachten die Briefträger sogar ihre Pensionen dorthin.

Am Nachmittag kamen als erste Juristen und Anwälte, nach ihnen dann die noble Gesellschaft der Stadt. Danach wieder die Ärzte, die im Notfall im Kaffeehaus angerufen wurden. Vor acht am Abend waren es noch Konzertbesucher oder Weintrinker, nach acht schließlich die Unterhaltunge suchende Nachtgesellschaft.(26)

Wegen der starken Konkurrenz - 1937 wurden, wie erwähnt, neben 35 großen über 300 kleinere und an die 50 Volkscafés, sog. Kaffeeschenken gezählt - legte man auf die Ausbildung des Personals großen Wert. Dazu wurde der Nachwuchs, u.a. wegen der Fremdsprachen, ins Ausland geschickt.(27) Allein das Kaffeekochen war eine weitverzweigte und hochgeschätzte Kunst, oft von speziellen Köchinnen ausgeführt. Dazu kamen zumeist kalte Gerichte, aber auch Gulasch und berühmte Suppen - Kohl- und Bohnensuppe vor allem -, die sich - mit einem Stamperl Borovicka davor - angeblich sehr als Medizin gegen den Rausch der letzten Nacht bewährt hätten. Zum Kaffeehaus gehörten Billiard, Schach- und Kartenspiel, in Bratislava außerdem gute Zigeunermusik.

Zum Schluss noch ein typisches Beispiel des Bratislavaer Kaffeehausstammgasts, der unbedingt zum Bild der damaligen regen slowakischen Künstlergemeinschaft gehört, weil er wesentlich zur Anspornung und Förderung von deren vielfältigen Aktivitäten beigetragen hat. Michal Povazan war der führende Theoretiker und Kritiker des Surrealismus, dazu Herausgeber aller drei Sammelbände der Gruppe. Oft ohne feste Unterkunft, wie Záry schreibt, verbrachte er im Kaffeehaus jahrelang praktisch den ganzen Tag. Als von allen geachtete zentrale Persönlichkeit der Richtung war er es auch, der entschied, wann und wohin - in welches Café bzw. Weinlokal - man ging, was getrunken wurde und wer dafür zu bezahlen hatte. Nach dem ersten festen Sitz der Gruppe im Café Metropol (Luxor und andere Orte gehörten gelegentlich dazu) zog er 1940 mit seinen Treuen in das laut Záry gelobte neue Grand-Café. Er hatte in beiden seinen Arbeitstisch, auf dem alle Fäden des regen Künstlerlebens der Gruppe zusammenkamen. Deshalb verdient vor allem das Grand-Café, heißt es, einen Ehrenplatz in der Geschichte der slowakischen Kriegsmoderne: "Alles, oder beinahe alles, fand in diesem Kaffeehaus statt", behauptet Záry, "von dort starteten wir in die Vorlesungen, in die Druckereien, unter die Viecha, zu verschiedenen [...] Festen, [...] ja sogar zum Militär, in den Aufstand (gemeint ist der antifaschistische Aufstand 1944) und in die Illegalität."(28)

Dass an Povazans Begräbnis einer der ganz alten Bratislavaer Kutscher ebenso wie der ihn seit Jahren bedienende Kellner aus dem Grad-Café teilnahmen, scheint mir eine Art symbolische - und was gerade diesen Lebensbereich betrifft - überaus sympathische - Anerkennungsgeste des multikulturellen Bratislava der sich lebhaft nach vorn und nach oben drängenden "jungen" slowakischen Kultur gegenüber.

Im Zusammenhang meines Themas noch eine abschließende und bezeichnende Behauptung Zárys: "Es gab Krieg, keine leichte Zeit [...] Aus Prag kehrten Künstler, Studenten zurück Das perifere, spießbürgerliche und wenig slowakische Bratislava roch nach jungem Wein, zugleich nach [...] Kleinkariertheit [...] Und damals begann etwas Wunderbares: eine Handvoll Menschen [...] trugen in dessen Mauern [...] den Puls der Welt hinein [...] Vieles ahmten wir nach, [...] nur Eines nicht: den Willen zu leben."(29)

© Dagmar Kostálová (Bratislava)


ANMERKUNGEN

(1) Encyklopédia Slovenska, I.zv. Bratislava 1977, S. 235.

(2) Peter Zajac: Sen o krajine. Bratislava 1996, S. 174.

(3) Encyklopédia Slovenska, I.zv. Bratislava 1977, S. 240.

(4) Ján Hrusovský: Umelci a bohémi. Bratislava 1963, S. 155.

(5) Peter Salner a kolektív: Taká bola Bratislava. Bratislava 1991, S. 93.

(6) Rastislava Stolicná: Jedlá a nápoje nasich predkov. Bratislava 1991, S. 108f.

(7) Vgl. Salner 1991, S. 111f.

(8) Ebd., S. 16.

(9) Ebd.

(10) Vgl.Stanislav Smatlák: Dejiny slovenskej literatúry II. Bratislava 1999, S. 478.

(11) Stefan Záry: Snímanie masiek. Bratislava 1979, S. 79.

(12) Ebd., S. 176.

(13) Stefan Záry: Zlatoústi rozprávaci. Bratislava 1984, S. 39.

(14) Vgl. Salner 1991, S. 104.

(15) Ebd.

(16) Vgl. Hrusovský 1963, S. 180.

(17) Záry 1984, S. 157ff.

(18) Stefan Záry: Rande s&nbspbásnikmi. Bratislava 1988, S. 11.

(19) Ebd., S. 78.

(20) Ebd., S. 73.

(21) Záry 1979, S. 124.

(22) Záry 1988, S. 87.

(23) Záry 1979, S. 13.

(24) Záry 1984, S. 147.

(25) Salner 1991, S. 118.

(26) Ebd., S. 115f.

(27) Ebd., S. 112.

(28) Záry 1979, S. 96.

(29) Ebd., S. 145.


3.6. Kulturelle und Sprachvielfalt. Koexistenz, Interferenzen und Divergenzen in pluriethnischen Regionen

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Dagmar Kostálová (Bratislava): Kaffeehaus und Weinlokal als Kommunikationszentren in den Kulturen Mitteleuropas, erörtert aus slowakischer Sicht. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_6/kostalova15.htm

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