Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | September 2004 | |
4.4. Transnationale und nationale
Bestrebungen in der Ukraine Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Agáta
Dinzl-Rybárová (Karl Universität Prag)
[BIO]
Es gibt Völker in Europa, von denen die Europäer wenig wissen. Es gibt Regionen in Europa, die man nur schwer auf der Landkarte finden kann. Es gibt Gebiete, die schon viele beherrscht haben und trotzdem haben selbst die Herrscher nicht viel über sie gewusst. So ein unbekannter Teil Europas ist auch die Karpato-Ukraine.
Die Karpato-Ukraine ist ein sehr altes und von vielen Völker besiedeltes Gebiet. Die ersten Belege über die Besiedlung stammen aus der jüngeren Steinzeit. Es lebten hier die Skythen, die Kelten, die Daker, die Römer, die Goten, die Burgunder, die Wandalen, die Hunnen, die Awaren, die Bulgaren, die Morawen und die aus Bulgarien stammenden Slawen. Am Anfang des 10. Jahrhunderts herrscht hier die einheimische slawische Aristokratie. Vom 11. bis 13. Jahrhundert schloß sich Transkarpatien langsam dem neu gebildeten ungarischen Königreich an. In den ersten historischen Belegen wurde diese Region als "Marchia Ruthenorum" erwähnt. Im März 1241 wurde die erste Invasion der Horden des "Großen Eroberers" in die ukrainischen Täler verzeichnet. Das Land wurde verwüstet und fast entvölkert. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts kamen aus dem Norden ruthenische Hirten, aus dem Osten die Rumänen aus der Walachei und aus dem Süden die Ungarn.
1254 lud der ungarische König Bela IV. die deutschen und italienischen Winzer ein, die von den Mongolen entvölkerten Gebiete Transkarpatiens neu zu besiedeln. Aber schon 1308 kam eine neue Dynastie zur Macht, die ungarischen Anjou. Zu dieser Zeit wuchs auch hier die Städtekultur. Den Status einer Stadt haben über 20 Städte - darunter Uschhorod, Mukatschiw, Berehowo, Chust, Wynohradiw, Wary, Bilky, Wyschkowo, Tjatschiw, Wylok, Kossyno, Tschynadijewo u.a. - erhalten. Im 16. Jahrhundert verbreiten sich in Transkarpatien protestantische Konfessionen wie Lutheraner, Kalvinisten und Zwinglianer. In den Jahren 1646-1649 lebte und wirkte hier Jan Amos Comenius, der hierher vom Fürst Georg Rákoczy eingeladen wurde. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verzeichnete die Karpato-Ukraine wieder eine starke Welle der Migration und Emigration. Es kamen hierher auch die ersten ausländischen Förster, Lehrer und Handwerker, darunter auch Tschechen. In dieser Zeit wanderten Hunderte ruthenische und jüdische Familien von hier nach Amerika und in andere Teile Europas aus.(1)
Nach dem ersten Weltkrieg wurde am 10. September 1919 die Karpato-Ukraine der neugebildeten Tschechoslowakischen Republik angegliedert.(2) Die Stadt Uschhorod wurde das administrative Zentrum der Region, der erste Gouverneur war Georgij Schatkowytsch. Gerade in den Zeiten der Tschechoslowakei entstanden hier Bauten in moderner Architektur, und es sprudelte hier das kulturelle Leben der slawischen Bevölkerung. Die tschechoslowakische Regierung siedelte einen eigenen Staatsapparat in das neue Gebiet der Karpato-Ukraine an. Das bedeutete Polizei- und Militärbeamte, aber auch Verwaltungsapparat und Lehrer. Tschechisch war in den Jahren 1919 bis 1938 die Amtssprache. Offen bleibt die Frage, ob die betroffenen Beamten nur zur Strafe in das unbekannte Land versetzt wurden?(3)
Nach dem Wiener Schiedsgericht vom 2. Oktober 1938 wurde der südwestliche Teil Transkarpatiens Ungarn einverleibt. Am 22. November 1938 wurde endlich die Autonomie ausgerufen und in der Folge entstand ein selbständiger Staat - die "Karpato-Ukraine". In den Kriegsjahren kam es wiederholt zur ungarischen Besatzung.
Im Jahre 1945 unternahm die tschechische Regierung einen Versuch die Karpato-Ukraine wieder zu gewinnen. Das Gebiet war zu diesem Zeitpunkt durch die Rote Armee besetzt und am 29. Juni 1945 wurde in Moskau das offizielle Abkommen über die Vereinigung der Karpato-Ukraine mit der UdSSR unterschrieben.
Die hier lebenden Tschechen und Slowaken durften nach der Anordnung der tschechoslowakischen Regierung vom 8. 8. 1945 das Gebiet der Karpato-Ukraine verlassen und um die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft ansuchen. Anderen hier lebenden Nationen wurde dies von der Tschechoslowakei verweigert.
Über die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung sprechen am besten die Zahlen aus der durch die tschechoslowakische Regierung durchgeführten Volkszählung im Jahre 1930: Gesamtzahl der Bevölkerung: 606 568 (468 838(4)) Einwohner, davon 372 884 (235 666) Ruthenen (Ukrainer), 102 144 Ungarn (119 816), 19 737 Tschechoslowaken (13 857 Slowaken), 13 640 Rumänen (64 917), 10 460 Deutsche (10 351), 80 059 Juden (24 589), 267 Polen und 6760 anderer Ausländer. Das bedeutet 17,3% Ungarn, 1,74% Deutscher und 13,35% Juden.(5) Wir erfahren aus der Geschichte der Karpato-Ukraine im 2. Weltkrieg, dass hier viele Juden und Roma umgekommen sind. Bei der Volkszählung 1930 wurden die Zahlen der Roma und Sinti nicht beachtet.
Interessant schien die Aufteilung der Presse zu dieser Zeit. Erst 1861 erschien in Uschhorod auf Ungarisch die erste Zeitung "Karpatskyj Wisnyk". Im Jahre 1920 gab es in der Karpato-Ukraine 60 Zeitungen: 22 davon erschienen in ungarischer, 10 in russischer, 9 in jiddischer, 4 in tschechischer, 4 in ukrainischer und 6 in anderen Sprachen.
Das Interesse an der Karpato-Ukraine begann nicht nach dem Anschluss an die damalige Tschechoslowakei im Jahre 1919. Rudolf Havel, der das Nachwort zum Buch "Der Räuber Nikola Suhaj" aus dem Jahre 1972 verfasste, schreibt über die Situation der zwanziger Jahre: "Über die Karpato-Ukraine wurde in Böhmen nicht viel gesprochen. Für einen Tschechen war sie ein exotisches Land, bereits deshalb, weil sie sich nicht im historischen Bewusstsein befand und weil es zu ihr bis daher keine Beziehungen gab, weder kulturelle noch politische oder wirtschaftliche. Die Leser erfuhren über sie nur bei einer Gelegenheit des Besuches eines Politikers oder beim Ausbruch einer Affäre, welche es nicht gelang, rechtzeitig zu vertuschen ...."(6) Die tschechischen und slowakischen Studenten und Intellektuellen verbrachten gerne ihre Ferien und Urlaube in der Karpato-Ukraine. Sie reisten mit dem Zelt und wenig Geld durch das Land und erforschen es. Bis heute bieten auch zahlreiche Reisebüros Reisen und Aufenthalte in der Karpato-Ukraine an. So kamen in die Karpato-Ukraine auch die tschechischen und slowakischen Schriftsteller, fasziniert von den Erzählungen über das weite Land und die tiefen Wälder, über die mutigen Männer und deren arbeitsamen Frauen, über die Freundlichkeit dortigen Menschen, über die unbeschreibbare Armut und über Schönheit der jungfräulichen Natur der Karpato-Ukraine.
Das Interesse an der Karpato-Ukraine stand ab dem Jahre 1929 im Vordergrund der Presse und Literatur. Zuerst entstanden Reportagen und Artikel, später Gedichte, Romane und Erzählungen. Ivan Olbracht, Karel Èapek, Vladislav Vancura, Karel Nový, Jan Vrba, Jaroslav Zatloukal, Jindrich Zodr, Josef Knap, Vlastimil Borek, Václav Káòa, Jaroslav Durych - ich habe insgesamt fünfzehn Autoren gezählt, die sich mit der Problematik der Karpato-Ukraine auf verschiedene Art und Weise in ihren Werken auseinander setzen, katholische Schriftsteller genauso wie Schriftsteller des sozialistischen Realismus.
Vlastimil Borek schrieb 1929 eine Reportage "Die Podkarpato-Ukraine", in welcher er dieses Gebiet "als ein vergessenes, unglückliches und gesetzloses Land beschreibt, in dem die ungarischen durch die tschechischen Tafeln ausgewechselt wurden und statt dem Ungarischen das Tschechische als Amtssprache gesprochen wird".(7) Václav Káòa gab im Jahre 1931 eine Serie von Reportagen über das Leben des ukrainischen Proletariats heraus, die aus seiner Begeisterung für Russland entstanden sind. Antonín Hartla schreibt eine Serie von Artikeln über die ruthenische Literatur, die er in der Zeitschrift "Èin" ("Die Tat") publizierte. Josef Spilka gab elf Gedichte über die Karpato-Ukraine heraus, Vladislav Vancura schrieb den Roman "Das letzte Gericht". Die Geschichte spielt sich zwar wegen der sozialen Problematik in Prag ab, aber die Hauptprotagonisten sind Ruthenen und Juden. Jan Vrba gab im Jahre 1931sein Roman "Die Seele in den Bergen" heraus, er sah die Karpato-Ukraine mit den Augen eines loyalen Tschechen, er feiert in einer Liebesgeschichte "die ehrenwürdigen Bemühungen des stationierten tschechoslowakischen Staatsapparates das Niveau der Karpato-Ukraine zu heben". Der katholische Schriftsteller Jaroslav Durych schrieb über die Karpato-Ukraine die Erzählung "Die Figur an der Aposteluhr" ("Figura na orloji"), Stanislav Kostka Neuman gab die Bücher "Popp Ivan" und "Der Karpatensommer" heraus, Karel Èapek platzierte hier seinen Roman "Hordubal" (1933). "Hordubal" gehört bis heute zu den bekanntesten Werken über dieses Land und seine Verhältnisse, nicht weniger erfolgreich war auch die gleichnamige Verfilmung "Hordubal" aus dem Jahre 1979.
Der bekannteste tschechoslowakische Schriftsteller, der über die Karpato-Ukraine geschrieben hat, bleibt unbestritten Ivan Olbracht mit seinem Roman "Der Räuber Nikola Suhaj" und mit seiner Trilogie "Die traurigen Augen".
Im Jahre 1933 erhielt Ivan Olbracht für "Den Räuber Nikola Suhaj" von einer unabhängigen Jury den tschechoslowakischen Staatspreis für Literatur. Bis zum Jahre 1939 wurde dieses Werk elf Mal herausgegeben und ins Deutsche, Französische, Ukrainische, Polnische, Russische und Italienische übersetzt.
Ivan Olbracht, mit wirklichem Namen Karel Zeman, wurde am 6. 1.1882 in Semily in einer böhmisch-deutsch-jüdischen Familie geboren. Sein Vater war der bekannte Schriftsteller Antal Stasek - ebenfalls ein Pseudomyn. Seine Mutter Camilla Schönfeldová kam aus einer reichen jüdischen Familie. Um ihren Mann heiraten zu können, konvertierte sie vor der Heirat im Jahre 1880 zum Christentum.(8) Von da kommt höchstwahrscheinlich auch das Interesse Olbrachts an der jüdischen Kultur.
Nach der Beendigung des Gymnasiums studierte Olbracht Rechtswissenschaften an der Berliner Universität. Während des Studiums interessierte er sich für alles Andere als für das eigene Studium. Er inskribierte verschiedene Vorlesungen für Philosophie, Psychologie, Geschichte und Literatur. Aus der erhaltenen Korrespondenz zwischen Olbracht und seinen Eltern, ist ersichtlich, dass Olbracht erst in Berlin Deutsch gelernt hat. Wegen der mangelhaften Kenntnisse der deutschen Sprache war er sogar gezwungen, einige Prüfungen im ersten und zweiten Semester zu verschieben. Schlussendlich überredete Olbracht seine Eltern zum Abbruch des Studiums in Berlin und zur Inskription an der Karls-Universität in Prag. Nachdem er auch das Studium an der Karls-Universität abbrach, entschied er sich, Journalist und Schriftsteller zu werden. Als Journalist arbeitete er für linke Blätter wie "Wiener Arbeiterblätter" oder "Rotes Recht" ("Rudé právo"). Noch erfolgreicher wurde seine schriftstellerische Tätigkeit. Er schrieb Romane, Novellen, Erzählungen, Reportagen. Zu den bedeutendsten Werken gehören "Im dunklen Kerker" (1916), "Der Schauspieler Jesenius" (1919), "Neun lustige Geschichten aus Österreich und der Republik" (1927), "Anna das Mädchen vom Lande" (1928), "Der vergitterte Spiegel" (1930), "Der Räuber Nikola Suhaj" (1933), "Berge und Jahrhunderte" (1935). Olbracht war auch ein begabter Übersetzer, er übersetzte Werke von Thomas Mann, Jakob Wassermann, Lion Feuchtwanger u.a. ins Tschechische. Er wurde 1929 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, blieb aber bis ans Ende seines Lebens links orientiert.(9) Nach der misslungenen ersten Ehe heiratete der Autor im Jahre 1936 Slávka Kellerová. Als ihre gemeinsame Tochter Helena zur Welt kam, feierte er gerade seinen 58. Geburtstag. Ivan Olbracht starb im Jahre 1952 in Prag.
"Die Räuber" waren schon immer ein beliebtes Thema in der Literatur. Über sie schrieb Vulpius, der Schwiegervater von Goethe ("Rinaldo Rinaldini")(10), oder Friedrich Schiller ("Die Räuber") genauso wie Leonhard Frank ("Die Räuberbande") und Martin Prinz ("Der Räuber"). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam die Romantisierung der Freibeuter in die Literatur - die Bürger sahen in Räubern und Piraten die Idealbilder von freiheitsliebenden und unbeugsamen Menschen. Dieses war - nach Bitterli - an einen Prozess der Demokratisierung der Gesellschaft und der Durchsetzung gegen die Aristokratie geknüpft.
Der Roman "Der Räuber Nikola Suhaj" verbindet eine reale Geschichte und eine Räuberlegende. Der Hauptdarsteller Nikola Suhaj ist ein Deserteur, der im Ersten Weltkrieg dem 85. Balasagyarmater-Regiment in Darmoty entläuft und in den Wäldern als Straßenräuber lebt. Mit ihm gemeinsam entläuft auch ein Siebenbürgerdeutscher, der ihn im ersten Kapitel des Buches begleitet. Sie beide bleiben eine Weile bei einer Hexe wohnen, die sie ordentlich ausnützen. Die Hexe hat zwei Töchter, Vasja und Jevka, die von Nikola und seinem Freund, "dem Deutschen ohne Namen", selbstverständlich verführt werden. Die Hexe drängt zur Hochzeit und weil ihre Forderungen zu lästig werden, bringen sie sie um und laufen wieder weg. Die Hexe gab Ihnen einen Zaubertrank zu trinken, damit sie vor jeder Kugel im Kampf geschützt bleiben, gleichzeitig aber verdammt sie die Beiden. Ihre Wege gehen auseinander und der Weg von Nikola wurde von der Hexe bestimmt. Er kehrt heimlich nach Kolocava zurück, weil, wie Ivan Olbracht schreibt, "der süße Name Kolocava auf der Zunge schmeckt"(11) . Nikola raubt hier mit einer Bande weiter und später mit seinem 15jährigen Bruder Jura. Er nutzt schamlos das politische und wirtschaftliche Durcheinander aus. Als er zum ersten Mal von der tschechischen Polizei gefangen wird, gelingt es ihm dank der Bestechlichkeit eines tschechischen Beamten zu entkommen. Nikola flüchtet jedes Mal wie durch ein Wunder vor der Polizei, die tschechischen Beamten sterben in den Schießereien, bis schließlich die Behörden die Taktik wechseln und für das Fassen von Nikola eine Belohnung in der Höhe von 3.000 Kronen ausgeschrieben wird. Weitere 30.000 Kronen sollen die Juden für den Fänger ansammeln, die der Unterstützung von Nikola Suhaj beschuldigt werden. Die ratlose Polizei verhaftet Freunde von Nikola und später auch seine Frau Erzika. Schlussendlich werden Nikola und sein Bruder Jura von seinen eigenen Leuten - von drei Bauern aus Kolocava - nichtsahnend mit Hacken auf einer Alp erschlagen. Die Polizeibeamten schreiben diesen Erfolg auf ihr Konto. Sie erpressen die drei Bauern, die zum Schluss froh sind, aus der Geschichte ohne Strafe herausgekommen zu sein. Den ausgeschriebenen Lohn kassiert niemand. Nikolas Frau Erzika erfährt vom Tode und Begräbnis ihres Mannes im Gefängnis.
Das Rauben in den Gebieten der Karpato-Ukraine hatte eine lange Tradition. Im 16. und 17. Jh. fanden hier Massenberaubungen durch Räuber-Banden statt.(12) Olbracht widmete ein ganzes Kapitel in "Nikola Suhaj" dem Räuberideal Oleksa Dovbus (bekannt auch als Dovbuscuk). Er lebte in den Jahren 1700 bis 1745 und gilt als Robin Hood der Ukraine. Er raubte gemeinsam mit seinem Bruder Iwan und einer Bande von 30 bis 50 Männern. Dovbus verkörpert das Räuberideal, daß den Reichen genommen und den Armen gegeben hat.(13) Die Geschichte von Oleksa Dovbus, der von einer verheirateten Frau verraten wurde, lässt das böse Ende von Nikola Suhaj voraus zu ahnen. Nikola wird im Werk dreimal durch drei verschiedene Menschen vorgewarnt: durch die Geschichte von Oleksa Dovbus(14) , durch den Dorfarzt, der ihn während des Typhus betreut und ihn vor seiner Frau Erzika warnt, und schlussendlich durch seinen kleinen Bruder, der ihn sowohl vor Erzika und als auch vor den drei Bauer auf der Wiese warnt.(15) Die Popularität des Nikola Suhaj geht auf die einfachsten Prinzipien der Zeit zurück: Die Menschen brauchen eine Person, welcher sie vertrauen können und welche für sie kämpft. Nikola hat wie auch Oleksa Dovbus den Reichen genommen und den Armen gegeben. Er ist während seines Lebens bereits ein Mythos geworden. Er war eine kleine Flamme der Hoffnung der ausgehungerten und gotteserbärmlich armen Massen der Karpato-Ukraine.
Zum ersten Mal besuchte Ivan Olbracht die Karpato-Ukraine im Juli des Jahres 1931. Olbracht war an allem interessiert, aber am meisten faszinierten ihn in der Karpato-Ukraine die Juden - die alten, die sich streng an die alte Tradition hielten, und die jungen, die gerne des Alten zu Gunsten des Neuen entsagen. Olbracht hatte gute Vergleichsmöglichkeiten: In Böhmen und Mähren lebten ja auch Juden, die aber eher einer bürgerlichen Elite angehörten - sie waren Ärzte, Rechtsanwälte, Unternehmer, Professoren, Journalisten, Schriftsteller. Sie waren ganz anders als die orthodox-chassidischen Juden der Karpato-Ukraine, die sich als Viehhändler, Bauern, Gastwirte, Hausierer, Bettler durchschlagen mussten. Wie in den "Traurigen Augen" prallen auch in "Nikola Suhaj" Glaube und Unglaube, Kollektiv und Individuum, Vergangenheit und Gegenwart aufeinander.(16)
Den Charakter der Geschichte vertiefen die wirksamen Schilderungen der Natur und die volkstümlichen und märchenhaften Motive. Durch die zahlreichen Archaismen versetzt Olbracht seine Leser in eine alte, sehr weit entfernte Welt. Olbracht schildert meisterhaft das Zusammenleben und die Interessen der drei aufeinander prallenden Welten - der Welt der Juden, Ruthenen und Tschechen. Er stellt mit psychologischer Vollkommenheit und mit unglaublicher Präzision sowohl die Berührungspunkte als auch die Isolation der einzelnen Gruppen dar. Alle Gruppen kommen durch ihr Interesse am Tod von Suhaj doch zusammen. Häufig wird die Grenze zwischen Mythos und Realität bei Ivan Olbracht kritisiert. Es ist bekannt, dass er die Polizeiakten des Nikola Suhaj studiert hat. Er selbst konnte im Jahre 1931 - also 10 Jahre nach dem Tod von Nikola Suhaj - die Grenze zwischen dem Mythos und der Realität nicht immer unterscheiden.
Die historische Person des Mykola Suhaj hat es tatsächlich gegeben, er wurde im Jahre 1897 in Kolocava geboren. 1914 wurde er zum Militär berufen und 1918 desertierte er gemeinsam mit anderen Soldaten. Während der Flucht erschoss Nikola einen ungarischen Soldaten, die Ungarn erließen gegen ihn einen Haftbefehl. Nach dem Anschluss der Karpato-Ukraine an die Tschechoslowakei gab die tschechoslowakische Regierung ebenso einen Haftbefehl gegen Nikola Suhaj heraus. Nikola heiratete Erzika Ivanovna Dracová und bald danach stand er wieder unter Beschuss der Behörden. Die Frau Erzika ist auch eine historische Person, sie wurde im Jahre 1901 geboren und ist erst 1988 gestorben. Ihre Rolle war sowohl im Buch als auch im wirklichen Leben schwer zu verstehen. Sie verriet ihren Mann gemeinsam mit den Anderen, heiratete einen der Verräter, Ilko Derbak, und hatte mit ihm zwei Kinder, die Tochter Jelena und den Sohn Dimitrij. Der Sohn Dimitrij kam später auch in einer Bande wie der von Nikola Suhaj ums Leben. Die Begegnung mit dem Räuber Nikola war also nicht ihre letzte. Erzika Derbaková distanzierte sich von Nikola Suhaj sofort nach seinem Tod. Sie versicherte der Polizei, möglicherweise aus Angst vor Verfolgung, dass Anna die Tochter des verstorbenen tschechischen Polizisten Oldrich Hrabal (im Buch heißt er Svozil) war, der sie verehrt hatte. Hrabal hoffte darauf, über sie an den Räuber Suhaj heran zu kommen. Er wurde im Mai 1921 auf einem Misthaufen tot aufgefunden. Die tschechischen Zeitungen berichteten von einer offenen und lustigen alten Frau Erzika, an deren unermesslichen Schönheit und Augenfarbe sie aber zweifelten. Laut den Zeugenaussagen war sie keine Schönheit und hatte auch keine schwarzen Augen wie sie die romantischen Beschreibungen von Ivan Olbracht darstellen. Aus der Familie Suhaj hörte man aber andere Stimmen - Erzika war in den Gesprächen über Nikola zurückhaltend und distanziert. In den 70er Jahren waren ihr diese Gespräche richtig unangenehm, wie mir die Nachfahren von Mykola und weitere Augenzeugen aus Mährisch Ostrau, heutige Tschechische Republik, berichteten.(17) In den Akten der Polizei wurden die Maßnahmen zur Fahndung nach Nikola Suhaj sehr genau beschrieben. Aus den Aussagen des noch lebenden tschechischen Polizeibeamten Kovár wurde berichtet, dass die Beamten 14-, 16- und 18-stündige Dienste zu zweit im Terrain geleistet haben, während welchen sie häufig über 40 Kilometer gegangen sind. Eines steht fest: die Praktiken, die hier während der Jahre 1919 bis 1938 von der tschechischen Polizei praktiziert wurden, waren nicht immer einwandfrei. Ivan Olbracht veränderte in seinem Werk die Namen der Mörder von Nikola Suhaj. Es gibt keinen Danilo Jasinko, Ihnat Sopko und Adam Chrepta. Die echten Mörder hießen Bukalo, Markus und Derbak. Die Geschichte mit der Hexe, die am Anfang von Nikola und seinem Freund, "dem Deutschen ohne Namen", erschlagen wird, hat sich der Schriftsteller auch ausgedacht. Im Buch hat sie eine Bedeutung - sie deutet auf einen moralischen Bruch hin, für welchen Nikola Suhaj sterben muss.
Das Städtchen Kolocava am Fluss Terebla gibt es bis heute. Es leben hier mehr als 3.000 Einwohner. Das verwachsene Grab von Nikola Suhaj entdeckten erst Anfang der 90er Jahre tschechische Touristen wieder und schmückten es. In dieser Zeit stieg das allgemeine Interesse an Kolocava, es entstand hier das Ivan-Olbracht-Museum unter der Leitung der Lehrerin Natasa Tumarec im ersten Stock der dortigen Grundschule. Ab dem Jahre 1997 findet jährlich das Festival Kolocava statt. Kolocava ist wie eine große Familie, es sind hier alle Familien mittlerweile untereinander verwandt; bis heute sind die Bewohner aber gespaltet, ein Teil von ihnen behauptet, dass Nikola Suhaj ein Räuber und Mörder war, der andere Teil spricht dagegen von einem großen Helden.(18) Im Schlusswort des Buches schreibt Ivan Olbracht: "Und alle hier sind allzumal im Kern der Seele Räuber"(19). Der Autor meint hier die Bewohner der Kolocava, wenn man aber die Familie von Nikola Suhaj, gemeint sind Geschwister und Nachfahren, betrachtet, gewinnt man das Gefühl, dass sie alle (Pyrotechniker, Polizisten, Förster) die "wilde Seele" des Räubers Nikola Suhaj haben.
Von den 17 Geschwistern von Nikola Suhaj leben heute vielleicht noch einer oder zwei. Ein Teil der Familie ist nach Rumänien und ins heutige Tschechien ausgewandert. In Siroká Niva lebte bis vor kurzem der Bruder von Mykola Suhaj Andrej und in Mährisch Ostrau zwei Neffen - der erste heißt Andrej Suhaj, der zweite Vasil Suhaj, ein berühmter Pyrotechniker. Die Tochter von Nikola Suhaj Anna Stajerová, die im Dezember des Jahres 1921, also vier Monate nach dem Tod ihres leiblichen Vaters, geboren worden ist, lebt bis heute in Kolocava. Es ist mir nicht gelungen, im Gespräch mit den Nachkommen von Nikola Suhaj zu erfahren, ob die Tschechen und Slowaken die gleiche negative Stellung bei den Karpato-Ukrainer haben wie die Russen. Dafür ist mir verraten worden, dass im jedem Haushalt in Kolocava die Bilder von Nikola Suhaj und Josif Vissarionovic Stalin aus unerklärlichen Gründen und sehr stolz nebeneinander stehen und dass dort bis heute heftigst getrunken wird.(20)
Die Geschichte von Nikola Suhaj ist in Tschechien sehr populär, sie wurde zwei Mal verfilmt. Zum ersten Mal im Jahre 1946 unter Mitwirkung der achtjährigen Tochter von Ivan Olbracht. Diese Verfilmung blieb ohne Erfolg. Die zweite Verfilmung "Ballade für einen Banditen" entstand 1978 nach dem gleichnamigen Musical von Milan Uhde, das im Jahre 1975 für das Brünner Theater "Divadlo na provázku" geschrieben wurde.
Am jedem Lagerfeuer in Böhmen sind bis heute die berühmten Balladen aus dem Musical hören. Und das macht es für mich aus - das nenne ich "Das Verbindende der Kulturen" in der heutigen Zeit des Zusammenwachsen von einem gemeinsamen Europa!
© Agáta Dinzl-Rybárová (Karl Universität Prag)
ANMERKUNGEN
(1) Golczewski, Frank [Hrsg.] : Geschichte der Ukraine, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1993. S. 23-50 .
(2) Bei dieser Entscheidung spielt der Amerikanische Nationalrat der ungarischen Ruthenen in Seranton eine große Rolle, weil die amerikanischen Ruthenen mit 67% für den Anschluss an die Tschechoslowakei stimmten. Die Karpato-Ukraine war stark zersplittert.
(3) Vergleiche die Strafversetzung der K.u.K-Beamten nach Galizien.
(4) Die Zahlen in Klammern gehen auf die von der österreichischen Regierung 1846 durchgeführte Volkszählung zurück.
(5) Podkarpatská Rus cili Podkarpatská Ukrajina in Nový Polygon, ceský zahranicní casopis, 1/2003, kveten 2003, vydává Agentura Pazdera, Zürich, Svýcarsko, str. 31.
(6) Rudolf Havel in Ivan Olbracht "Nikola Suhaj Loupezník", Svoboda, Praha, 1972, Nachwort.
(7) Vlastimil Borek: "Podkarpatská Ukrajina" in Tvorba, 27. listopadu 1929.
(8) Siehe den Taufschein von Camilla Schönfeld, veröffentlicht in "Pamìti Korespondence Dokumenty", z rod. korespondence Ivana Olbrachta, svazek 38, Praha 1966, S. 64b ("Erinnerungen, Korrespondenz Dokumente", aus der Familienkorrespondenz Ivan Olbrachts, Band 38, Prag 1966, S. 64b).
(9) "Pamìti Korespondence Dokumenty", z rod. korespondence Ivana Olbrachta, svazek 38, Praha 1966 ("Erinnerungen, Korrespondenz Dokumente", aus der Familienkorrespondenz Ivan Olbrachts, Band 38, Prag 1966).
(10) Das Werk übertraf zu seiner Zeit auch Goethes Erfolge - Anmerkung der Autorin.
(11) Ivan Olbracht: "Nikola Schuhaj der Räuber, R. Pieper & Co., München, 1934, S. 24-25.
(12) http://www.zakarpattja.westportal.net/nim/5.html.:Besonders bekannt war die Tätigkeit der Opryshky-Banden in Dörfern Ljuta, Sahorb, Poljana, Dubrynytschi, Rostoka und Wolosjanka. Als Räuberhäuptlinge sind L. Warha, I. Sywoschop, O. Rusnak, P. Oros, S. Forhatsch, Schotwosch und Pyntja bekannt
(13) Hrabovets'kyi, V.: Oleksa Dovbush. (1700-1745), Lviv, 1994.
(14) Ivan Olbracht: "Nikola Schuhaj der Räuber, R. Pipper & Co., München, 1934, S. 116-125.
(15) Ivan Olbracht: "Nikola Schuhaj der Räuber, R. Pipper & Co., München, 1934, S. 284.
(16) Rudolf Havel: "Nikola Suhaj Loupezník", Svoboda, Praha, 1972, Nachwort, weiter in "Pamìti Korespondence Dokumenty", z rod. korespondence Ivana Olbrachta, svazek 38, Praha 1966 ("Erinnerungen, Korrespondenz Dokumente", aus der Familienkorrespondenz Ivan Olbrachts, Band 38, Prag 1966).
(17) Diese Informationen entnahm ich aus verschiedenen Quellen wie einem Interwiew mit den Nachfahren der Familie des Nikola Suhaj in Mährisch Ostrau (Tschechische Republik) am 28.10.2003 u.a.
(18) V Sobotní príloze Halló novin ze 13. zárí 2003 (In der Samstagsbeilage der "Halló noviny" aus 13. September 2003).
(19) Ivan Olbracht "Nikola Suhaj Loupezník", Svoboda, Praha, 1972, Schlußwort.
(20) Diese Informationen entnahm ich aus verschiedenen Quellen wie Interwiew mit den Nachfahren aus der Familie des Nikola Suhaj in Mährisch Ostrau (Tschechische Republik) am 28.10.2003 u.a.
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