Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

4.4. Transnationale und nationale Bestrebungen in der Ukraine
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Larissa Cybenko (Lviv)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Ukrainischsprachige polnische Revolutionsliteratur aus Galizien (1830-1848)

Michael Moser (Institut für Slawistik der Universität Wien)

 

1. Ideologische Voraussetzungen

Insbesondere was die äußere Sprachgeschichte anbelangt, haben außer den bekannten Klassikern der Ukrainistik Mychajlo Voznjak (z. B. 1911) und Ivan Franko (z. B. 1910) vor allem heute kaum gelesene Philologen wie Kyrylo Studyns'kyj (1905, 1909), Osyp Makovej (1903, 1903a), Mychajlo Tersakovec' (1907, 1908) und Ostap Terlec'kyj (1894-1895) bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein weitgehend zutreffendes Bild gezeichnet, auch für die Periode zwischen 1772 und 1848/1849(1). Mittlerweile hat die Ukrainistik das erworbene Wissen über die Quellen dieser Zeit jedoch ebenso aus ihrem Blickfeld verloren wie die Quellen selbst.

Den nicht unwesentlichen Beitrag, den die galizischen Polen und Polonophilen insbesondere in der Zeit zwischen etwa 1830 und 1848 für die Sprachgeschichte des Ukrainischen leisteten, haben auch die galizischen Philologen des ausgehenden und beginnenden 20. Jahrhunderts von sich gewiesen, denn die Koexistenz mit den Polen gestaltete sich zu ihrer Zeit nach wie vor konfliktreich, und der gemeinsame ideologische Nenner dieser Ruthenica polnischer und polonophiler Herkunft lautete, dass Ruthenen und Polen in gleichem Maße Opfer der fremden Besatzungsmacht seien und für ein gemeinsames Ziel kämpfen sollten, nämlich für die Wiederherstellung des polnischen Staates.

Es ist Kasper Cieglewicz, der führende Vertreter dieser Literatur, der die ideologischen Grundlagen der polonophilen und dabei ukrainischsprachigen Autoren am deutlichsten zum Ausdruck brachte. In einer auf Polnisch und auf Deutsch veröffentlichten Abhandlung (Cieglewicz 1848; Cieglewicz 1848a), führte er aus, dass das Ruthenische einst eine wichtige Rolle in der polnischen Sprachgeschichte gespielt, ja in der Zeit zwischen der Herrschaft von Wladyslaw Jagiello und Zygmunt August sogar als Sprache des polnischen Königshofs fungiert habe. Dann aber sei allenthalben das Polnische zum gemeinsamen Verständigungsmittel und zur gemeinsamen Bildungssprache der "Masowier", der Ruthenen und der Litauer geworden, die allesamt als Polen zu betrachten seien. Was nun die moderne polnische Sprache anbelange, so sei diese "ein Kind des Masowischen und des Ruthenischen": Weil die gebildetsten Ruthenen in der Vergangenheit sogar am meisten für die Ausarbeitung und den Ausbau des Polnischen beigetragen hätten, stehe das Ruthenische im Grunde dem Polnischen sogar näher als das "Masowische" - das hieß wohl das Polnische des Mutterlandes in seinen genuinen dialektalen Ausprägungen. Das Polnische sei als eine natürlich gewachsene Bildungssprache der Ruthenen zu betrachten, das Ruthenische aber im Verhältnis zum Polnischen als eine Provinzsprache ("powiatowszczyzna"), also als ein polnischer Dialekt.

Cieglewicz habe selbst erlebt, wie schwierig es sei, kompliziertere Gedanken in dieser Sprache auszudrücken, während sie für Volkslieder durchaus geeignet scheine. Mit seiner eigenen Prosaschrift "Skazówka" ("Instrukcya"), habe er einige ruthenische Ausdrücke unter das Volk bringen wollen, die ein Verständnis für das Programm der polnischen Revolutionäre hätten herbeiführen sollen. Für den Ausbau einer funktionstüchtigen ruthenischen Schriftsprache aber habe er selbst keinen Beitrag leisten wollen. Das angebliche Ruthenische, wie es die galizischen Ukrainer verschrifteten, sei in erheblichem Maße von Elementen des Großrussischen, des "Moskovitischen", durchsetzt. Die ruthenische Bewegung sei daher, so wird impliziert, in Wirklichkeit russophil orientiert - wobei solche Urteile allerdings im Jahre 1848 weder in politischer noch in sprachlicher Hinsicht gerechtfertigt waren, ganz im Unterschied zu den nachfolgenden Jahren ab etwa 1850, als die galizische Russophilenbewegung erst eigentlich entstand und rasch steten Zulauf erfuhr (Wendland 2001, Moser 2002) .

Diese Gedanken, zumindest aber solche, die jenen Cieglewiczs in hohem Maße ähnelten, bildeten auch für andere Polen und Polonophile, darunter auch jene, die auf Ukrainisch schrieben, die ideologischen Grundpfeiler: Die Ukrainer wurden von ihnen als ein Teil des polnischen Volkes betrachtet, deren Sprache aber als ein unterentwickelter polnischer Dialekt. Da die ruthenischen Eliten das Polnische bereits seit Jahrhunderten als ihre Bildungssprache benützt hätten, sei nun naturgemäß dessen weitere Verbreitung anzustreben. Bisherige Versuche zum Ausbau des Ruthenischen hätten überdies gezeigt, dass die ruthenischen Erneuerer, die sich von den Polen abgrenzten, mit Russland sympathisierten, so dass die ruthenische Nationalbewegung als eine politisch gefährliche Kraft bekämpft werden müsse, auch im Sinne der Habsburger.

Doch auch innerhalb der ideologischen Ausrichtungen der Polen und Polonophilen gab es naturgemäß nuancierte Unterschiede. Ein anderer führender Verfasser von polnischen Revolutionsgedichten in ukrainischer Sprache, der gebürtige Ukrainer Mychajlo Popel', erkannte dagegen zumindest in seinem sehr verbreiteten, vor 1838 entstandenen Gedicht "Rusyn na praznyku" (Franko 1895) die ethnische Eigenständigkeit der "Ruthenen" durchaus an, unter den "Ruthenen", dem "ruskij narid", verstand er freilich nicht nur die Ukrainer, sondern auch - wie dies in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch durchaus vorkommen konnte - die Weißrussen (nicht aber die Großrussen). Die Ruthenen seien Nachfahren des legendären Ahnvaters Rus, die Polen aber Nachfahren seines Bruders Lech (hier "Lach"). Ruthenen und Polen seien also von Anbeginn brüderlich verwandt und hätten in der Folge auch immer brüderlichen Umgang miteinander gepflegt. Doch wie noch in der jüngeren Vergangenheit war auch dieses Modell der slavischen Brüderlichkeit eines, das auf die Unterdrückung des einen Volks durch das andere abzielte. Auch Mychajlo Popel' zog nämlich ein eigenständiges Kultur- und Sprachleben der Ukrainer in Wirklichkeit keineswegs in Betracht, sondern trat später im Galizischen Landtag sogar offen gegen ihre Gleichberechtigung auf.

 

2. Die sprachgeschichtliche Bedeutung der polnischen Revolutionsliteratur in ukrainischer Sprache

Es ist weitgehend unbekannt und eine der zahlreichen Ironien der Geschichte des Ukrainischen, dass es gerade die Texte der Polen und Polonophilen mit ihrer alles andere als national-ukrainischen ideologischen Ausrichtung sind, unter denen sich die frühesten ukrainischsprachigen theoretischen politischen Abhandlungen überhaupt sowie auch einige der frühesten ukrainisch-volkssprachlichen poetischen und - um so mehr - narrativen Texte in Galizien finden. Vor allem Mychajlo Tersakovec' (1908: 26-35) war es, der in seiner verdienstreichen, doch weitgehend vergessenen Darstellung der galizisch-ukrainischen Erneuerungsbewegung in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts am nachdrücklichsten auf die Bedeutung der polnischen Revolutionsliteratur für die galizischen Ukrainer hinwies und deren Sprache wenn auch nicht eigentlich untersuchte, so doch einem um Objektivität bemühten und weitgehend zutreffenden Gesamturteil unterzog: Die polnischen Revolutionäre hätten erstmals zahlreiche ukrainisch-volkssprachliche Texte unter das Volk gebracht. Deren Sprache sei zwar nicht rein ruthenisch gewesen, sondern habe zahlreiche Polonismen auf allen Ebenen aufgewiesen, was freilich für die Gedichte in geringerem Maße als für die Prosatexte gelte. Doch die sprachlichen Mängel dieser Schriften hätten die galizischen Ukrainer zur Schaffung von "etwas Besserem" motiviert, und deshalb komme diesen Texten "außerordentliche Bedeutung" für die Erneuerungsbewegung der galizischen Ukrainer zu (Tersakovec' 1908: 27, 30).

Zwar kann nicht belegt werden, dass die polnische Revolutionspoesie die galizischen Ukrainer wirklich dazu bewegt hätte, selbst entsprechende Texte zu verfassen - geschweige denn bessere -, doch in allem anderen kann Tersakovec' vorbehaltlos zugestimmt werden. Es gibt allerdings auch noch andere, zumindest ebenso wesentliche Gründe dafür, diesen Dokumenten eine herausragende Bedeutung für die Sprachgeschichte des Ukrainischen beizumessen. Unter ihnen finden sich nämlich die ersten Texte überhaupt, die politische und gesellschaftliche Themen auf abstraktem Niveau in einer Sprache abhandeln, die eindeutig auf der Grundlage der (west)ukrainischen Dialekte steht. Neben volksliedartig gestalteten Texten mit inhaltlich meist recht einfach gehaltenen Aufrufen zur Rebellion gegen die Habsburgerherrschaft finden sich nämlich in diesem Korpus auch einige theoretische Abhandlungen mit Ansätzen zur Erörterung durchaus differenzierter abstrakter, vorwiegend gesellschaftstheoretischer Inhalte. Die von den galizischen Philologen besonders nachdrücklich verurteilten Polonismen, die vor allem in letzteren Texten unleugbar auftreten, nehmen dabei in Wirklichkeit keinen deutlich breiteren Raum ein als in zahlreichen anderen galizisch-ukrainischen Quellen der Zeit. Ihr Auftreten ist überdies nur zu verständlich, wenn man bedenkt, dass den genuinen ukrainischen Dialekte der entsprechende abstrakte Wortschatz fremd war, weil er traditionell entweder aus dem Kirchenslavischen oder aber aus dem Polnischen entlehnt wurde, das Kirchenslavische aber von den polnischen und polonophilen Autoren weitgehend abgelehnt, weil auch häufig mit dem "Moskovitischen", also dem Russischen, verwechselt wurde. Und auch Tersakovec' erwähnt nicht, dass sich mutatis mutandis die in Russland lebenden Ukrainer zur gleichen Zeit damit behalfen, entsprechende Themen auf Russisch abzuhandeln oder aber, sobald sie in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts allmählich dazu übergingen, sie auf Ukrainisch zu erörtern, weiterhin auf durchaus zahlreiche lexikalische Russismen zurück greifen mussten.

Der Grund dafür ist offensichtlich: Der Ausbau des modernen ukrainischen Kultur- und Zivilisationswortschatzes, darunter auch der ukrainischen Terminologien, wurde erst ab dem Jahre 1849 in Angriff genommen, und zwar zunächst fast ausschließlich und später - zwischen den russischen Sprachverboten des Ukrainischen aus den Jahren 1863 (Valuev-Zirkular) und 1876 (Emser Ukaz) sowie der Russischen Februarrevolution von 1905 - ganz ausschließlich bei den österreichischen Ukrainern. Die nachhaltigsten Anstrengungen um den Ausbau der ukrainischen Terminologien aber wurden erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Zuge der frühsowjetischen Ukrainisierungspolitik erbracht, der freilich bald darauf durch den stalinistischen Terror ein gewaltsames Ende bereitet wurde (Shevelov 1966, 1989).

 

3. Polnische Revolutionsliteratur in ukrainischer Sprache

In den dreißiger Jahren hatte die ukrainische Nationalbewegung in Galizien noch keine nennenswerte Breitenwirkung erzielt, und so versuchten die Polen noch hoffnungsvoll, die galizischen Ukrainer für ihre eigenen politischen Anliegen zu gewinnen. Unter deren einziger Bildungsschicht, den griechisch-katholischen Geistlichen, vor allem unter den Lemberger Priesterseminaristen, zeitigten diese Bemühungen im Übrigen durchaus Erfolge (Studyns'kyj 1907).

Der wichtigste und bekannteste Verfasser polnischer Revolutionsliteratur in ukrainischer Sprache war Kasper Cieglewicz (1807-1886; zu ihm vgl. Wislocki - Horoszkiewicz 1935). Der gebürtige wolhynische Ukrainer Hnat Kul'cyns'kyj soll Cieglewicz um das Jahr 1834 dazu angeregt haben, politische Texte auf Ruthenisch zu verfassen (Franko 1894: 393), und so begann Cieglewicz um 1834, polnische Revolutionstexte auf Ukrainisch zu schreiben. Vor allem Ivan Franko (1894: 393) hat Cieglewiczs Kenntnisse des Ruthenischen aufgrund dessen Schriften in Zweifel gezogen, doch man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass er infolge seiner ideologischen Abneigung gegen Cieglewicz auch dessen Sprache diskreditieren wollte. In Wirklichkeit war Cieglewicz nämlich nicht nur ein erfolgreicher Dichter - seine Werke waren in sehr zahlreichen Abschriften verbreitet, und einige galizische Ukrainer konnten sie noch Jahrzehnte später auswendig rezitieren (Terlec'kyj 1895: 141) -, sondern er beherrschte und verschriftete das Ukrainische durchaus recht gut. Wie auch immer man aber Cieglewiczs Sprache im Detail beurteilen möchte, es bleibt zu bedenken, dass sie ihren Adressaten mit Sicherheit besser verständlich war als fast alle Texte, die die galizischen Ukrainer zur gleichen Zeit selbst für ihre Landsleute aufschrieben. Cieglewicz formulierte seine Botschaften nämlich in einer überraschend stark an die Sprache der Volkslieder angelehnten Form, während sich die Vertreter der griechisch-katholischen Kirche (innerhalb derer sich faktisch die gesamte schreibkundige Elite der galizischen Ukrainer sammelte), sobald ihre Texte von alltäglichen Themen abgingen, in hohem Maße am Kirchenslavischen (sowie am Polnischen) orientierten. Ausnahmen sind selten: Außer dem Umfeld der berühmten "Ruthenischen Triade" in Lemberg sind hier insbesondere die wenig bekannten Schriftsteller Josyf Levyc'kyj und Josyf Lozyns'kyj aus der Diözese Przemysl zu nennen, die ihre Sprache schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ähnlich konsequent an den Dialekten ausrichteten. Doch theoretische Abhandlungen verfassten auch diese Autoren vor 1848/1849 in der Regel auf Polnisch, mitunter auch auf Deutsch. Als aber Josyf Levyc'kyj doch eine Arbeit auf "Ruthenisch" verfasste (Levyc'kyj 1843), sahen sich die russischen Bearbeiter der in Warschau herausgegebenen zweisprachigen russisch-polnischen Zeitschrift "Dennica - Jutrzenka" dazu veranlasst, ihren Lesern den Text im Original und nicht etwa in russischer Übersetzung zuzumuten, und zwar deswegen, weil sich seine Sprache, wie sie in einer einleitenden Bemerkung -diesem Fall keineswegs ganz unberechtigt - feststellten, nur unwesentlich vom Russischen unterscheide bzw. unterschied.

Kasper Cieglewicz schrieb eine ganze Reihe von Gedichten und Liedern, über die vor allem Tersakovec' (1908: 27-29) ausführlich berichtet. Seine Gedichte sind eindeutig in der (west)ukrainischen Volkssprache verfasst (zu Details vgl. Moser 2004b). Das am weitesten verbreitete Werk von Kaspar Cieglewicz ist jedoch kein Gedicht(2), sondern ein politischer Prosatext, die von Cieglewicz im eingangs zitierten Text Skazówka, die sonst als "Instrukcyja dla wczyteliw ruskoho naroda" bekannt ist und über die selbst prononcierte Gegner der polnischen Revolution wie der Piarist Moriz Freiherr von Sala noch 1867 anerkennend schrieben, dass sie "in ihrer Art meisterhaft abgefaßt" (Sala 1867, 71) sei. Vgl. den Anfang dieser Schrift:

Pryjateli! Buwem w myru, baczywem Jeho, iakby Welkoluda slaboju nytkoju sputanoho, a kotory chtiw buty wilnym. Chtiw buty nakarmionym, a neczuw w sobi syly do zirwania slaboi nytki, kotra ho wiaziala [sic!]. Baczywem toho Welkoluda uczunianoho, alez na jeho oczi zakiniano czornu powloku, szczoby ne baczyw de ity maje i szczo robyty. Na ostatok iak mymo zaslony hlanuw i uzdriw promiz switla, tak dowho pered oczyma jeho zasloniany, piszow na wandriwku [...] (Franko 1895a: 27).

Franko (1894: 398-399) bemerkte zu diesem Text Cieglewiczs, dass gerade er nicht nur in einem "überspannten, gleichsam bibelartigen Stil", sondern auch in einer "gebrochenen ruthenisch-polnischen Sprache" geschrieben sei. Prononcierte Polonismen finden sich hier zwar in der Tat, wenn auch nur spärlich und sogar meist seltener als innerhalb des zitierten Stücks (hier nakarmionym, standardukrainisch nakormlenyj und die polnische Metatheseform powloku). Ein sehr wesentlicher Unterschied zum überwiegenden Großteil der galizisch-ukrainischen Texte aus der Zeit vor 1849 wird jedoch auch in dieser Prosaschrift deutlich: Das Kirchenslavische ist in ihm fast nicht vertreten, abgesehen von kirchlichen Formeln wie Boh sotworytel oder dem Formans der aktiven Präsenspartizipien sc wie hier a. a. O. in bawluszczy sia (Terlec'kyj 1895: 146- 147), das freilich auch in der ukrainischen Folklore durchaus verbreitet ist. In allererster Linie aber ist die Sprache dieses Texts eindeutig an der ukrainischen Volkssprache orientiert, sowohl was den Wortschatz als auch was die Grammatik betrifft (vgl. dazu im Detail Moser 2004b). Cieglewicz formulierte und notierte seine Schriften also nicht nach dem Vorbild älterer ukrainischer oder ukrainisch-kirchenslavischer Texte, sondern ganz in Anlehnung an seine Wahrnehmung jener Sprache, die er von den galizisch-ukrainischen Bauern zu hören bekam. Für die prononciert volkssprachliche Gestaltung seiner Texte wirkte es sich dabei sicherlich förderlich aus, dass ihm wohl nie jemand beibrachte, wie man auf Ruthenisch zu schreiben habe. Die griechisch-katholischen Geistlichen mussten sich im Gegensatz zu ihm erst mühsam von sorgfältig erlernten Konservatismen trennen.

Ein weiterer Autor aus dem Umfeld Cieglewiczs, der mit ukrainischsprachigen Texten für die Anliegen der polnischen Revolutionäre warb, ist Mychajlo Popel' (1817-1903), ein gebürtiger Ukrainer, der in den frühen dreißiger Jahren Oberhaupt einer konspirativen polnischen Gruppe in Sambir war und dafür eine Haftstrafe auf dem Brünner Spielberg verbüßte. Noch im Jahre 1867 im Galizischen Landtag trat Popel' offen gegen die Gleichberechtigung der Polen und Ruthenen in Galizien auf, wobei er weiterhin, und zwar in einem persiflierenden Ukrainisch, argumentierte, dass die Ruthenen kein eigenständiges Volk seien (Kieniewicz 1983/2003). Popel's populärstes Gedicht "Rusyn na praznyku", das vor 1838 entstanden sein muss, kennt man aus der Kopie eines Autographen, die Ivan Franko (1895: 194-291) veröffentlichte, vgl. dessen erste vier Verse:

Rusyn na praznyku

Z bratmy szczyro sia hostyty,
Tak Boh kazau z dawnych lit,
Z bratmy szczyro sia lubyty:
Na tim nebo, na tim swit. [...] (Franko 1895: 195).

Es besteht kein Zweifel, dass auch Mychajlo Popel's Texte eng an die Sprache der ukrainischen Volkslieder angelehnt sind und infolge dessen fest auf der Grundlage der westukrainischen Dialekte stehen (zu Details vgl. Moser 2004b).

Den wohl höchsten Abstraktionsgrad der mir bekannten ukrainischsprachigen Texte der polnischen Revolutionäre zeigt jenes politische Manifest mit der Überschrift "Narode ruskij", das schon im Jahre 1837 beim Absolventen der Lemberger Theologie und damaligen Kooperator in Zastavnja in der Bukovyna Kyrylo Slonevs'kyj gefunden und konfisziert wurde. Wer diesen Aufruf zum Aufstand eigentlich verfasste, ist m. W. nach wie vor ungeklärt, auch Herbil's'kyj (1964: 226) kennt den Autor noch nicht. Außerdem wissen wir faktisch nichts über die Verbreitung des Texts und seine Wirkungsgeschichte, doch ist es wahrscheinlich, dass ihn kaum jemand außer einem engen Kreis polnischer Konspiratoren je zu Gesicht bekommen hat (Studyns'kyj 1907: 81). Wichtiger als die Autorschaft und die Rezeptionsgeschichte ist für uns ohnedies die Frage, in welcher Sprache dieser erste bekannte nicht literarische politische Aufruf verfasst ist, der fern von allen kirchlichen Ideologien die politischen und sozialen Verhältnisse der galizischen Ukrainer erörtert und sich deswegen ständig in problembehafteten, weil unzureichend differenzierten lexikalischen Feldern des Ukrainischen dieser Zeit bewegen muss. Der Inhalt des Schreibens sei hier nur in aller Kürze wiedergegeben: Ruthenen und Polen seien seit dem Zerfall der Kiewer Rus' wie ein Zwillingspaar in ihrem Schicksal vereint, über fünfhundert Jahre hätten sie gemeinsam die Knechtschaft der Könige und Magnaten ertragen. Freiheit und Gleichheit in einer demokratischen Gesellschaft könnten sie nur im vereinten Kampf gegen ihre gemeinsamen Unterdrücker erlangen. Eine Verbindung mit Russland aber wäre für die Ruthenen denkbar schädlich, denn gerade das russische Volk sehe noch lange keine Wege aus der Knechtschaft vor sich. Vgl. nun zwei kurze Ausschnitte:

Narode ruskij! Wilnismo tohdy, koly robymo szczo choczym i razom ne krywdymo nykoho, uzywajuczy wolnosty swoiey. U narodi u towarystwi czy chto skrywdyw czyly ni, ne moze sudyty sam skrywdzenyi, a ne krywdytel, bo kozdeyby z nych za sobow bilsze potiehnuw, sudia musyt buty tretij, a to czy takij, kotrohoby ony oba obraly, abo narid sam, kolyby - oba ne zhodylysia na sudia swoich. [...] Polski narid dostyhlejszy do slobody nyz rossyiski, polski butnyiszyi [sic!], maje praktyku uze w krwawoy tuzy do wilnosty, a poperednymy neszczystmy nawczennyi, borsze i pewniysze dibie swoho. [...] Rusyny! bratowe moji! dusza moja do was z mene howoryla, prykonayty sia o prawdi, kotrum kazaw, szczobysmo ne buly ostatni z narodiw, kotri wilnist chotiat! (Studyns'kyj 1907: 129-133).

Auch diese gesellschaftstheoretische Abhandlung mit vergleichsweise hohem Abstraktionsgrad wird also in einer Sprache geschrieben, die ihr Fundament fast ausschließlich in der Grammatik und Lexik der ukrainischen Volkssprache in Galizien findet (vgl. im Detail Moser 2004b). Ohne dass sich der Verfasser in erkennbarer Weise auf den Formen- und Wortschatz der ukrainischen Volkslieder stützen konnte, gelang es ihm, seinen Text ohne einen bemerkenswerten Rückgriff auf lexikalische Mittel des Kirchenslavischen und gleichzeitig ohne eine allzu tiefgreifende Polonisierung seiner Sprache zu gestalten(3). Das Kirchenslavische hat auch in dieser Schrift beinahe keinen Platz, es taucht auf den im Original elf handbeschriebenen Seiten nur äußerst sporadisch auf, vgl. etwa einmal nadezda, einen lexikalischen Kirchenslavismus mit dem kirchenslavischen Reflex zd < *dj, oder na wrahiw mit seiner Metathese an der Stelle des echt ukrainischen Volllauts. Genuine Polonismen finden sich dagegen naturgemäß als eine seit der mittleren Periode integrierte Schicht im Wortschatz des Ukrainischen, über die hier nicht weiter gesprochen werden soll, vgl. nur uzywaty, (s)krywdyty etc., außerdem odezwaty und moskiewski (!; mehrmals) sowie schließlich krwawoy (Lokativ Singular Femininum) als phonologisch markierte Polonismen. Obwohl also dieser Text deutlich anspruchsvoller als alle bisher besprochenen ist, wurde auch er in der ukrainischen Volkssprache und keineswegs in einer gebrochenen polnisch-ukrainischen Mischsprache verfasst.

In keinem der gängigen bio- und bibliographischen Werke, in keiner der Enzyklopädien, Sprach- und Literaturgeschichten, weder in den ukrainischen noch in den polnischen, findet man nähere Angaben über Baltazar Szczucki, einen weiteren ukrainischsprachigen Autor aus dem Kreis der galizischen polnischen Revolutionäre. Einer seiner bemerkenswerten Beiträge ist eine der ersten Erzählungen, die in Galizien in ukrainischer Sprache gedruckt wurden, die "Opowistka dida Lirnyka o wojackiey sluzbi", die ganz in der Tradition der ukrainischsprachigen Texte polnischer Revolutionäre volkssprachlich gestaltet ist und weder besonders auffällige Polonismen noch Kirchenslavismen zeigt (vgl. dazu Moser 2004b). Außerdem ist er der Verfasser eines ziemlich eigenartigen polnischsprachigen Gedichts mit dem ukrainisch-kirchenslavischen Titel "Chrystos woskres" (Szczucki 1848a), das am Ende jeder Strophe den fremdsprachigen Titel als Refrain aufweist. Der Schluss lautet dann in einem ganz fehlerhaften Ukrainisch-Kirchenslavisch, so, als ob es eine transitive Verbform voskresty recte: voskresyty, hier: woskresyt) gäbe:

[Daj nam, ach! daj nam Polski zmartwychwstanie.]
Chrystos Polszczu woskrese [!]!

Ebenfalls von Szczucki stammt schließlich eine gesellschaftstheoretische Schrift mit dem Titel "Widkie sia wziala slachta, pany, panszczyzna i piddani" aus der Zeit im 1848, die im Original vier Druckseiten einnimmt und gleichfalls ganz volkssprachlich gestaltet ist (vgl. dazu im Detail Moser 2004b).

Ein weiterer bemerkenswerter Text, der offensichtlich ebenfalls aus der Zeit um 1848 stammt, wurde von einem Autor verfasst, der sich mit "Harazym Pohonia, abszytnyk i obyw[atel]. z Halyckij zemli" - wahrscheinlich handelt es sich hier um ein Pseudonym - unterschrieben hat. Er trägt den Titel "Holos z Podole do Myru Ruskoho" und ist ein Aufruf zur politischen Vereinigung mit den Polen, vor allem aber eine Warnung vor Sympathien mit Russland, das seinem Wesen nach despotisch sei. Mit der einzigen Ausnahme des Kirchenslavismus Hosudarstwo ist auch in diesem Text jedes Lexem authentisch ukrainisch, mögen auch manche Elemente einst aus dem Polnischen entlehnt worden sein. Besondere Beachtung verdient in inhaltlicher Hinsicht das Postscriptum der Schrift, und zwar diesmal vor allem in inhaltlicher Hinsicht. Man solle darauf achten, heißt es nämlich hier, dass die Kinder richtig Polnisch lernten, denn po-ruskij könnten ohnedies nur die Russen richtig sprechen. Diese bemerkenswerte Aussage ist in ihrer Paradoxie kaum zu überbieten, um so mehr, als der Text, den sie abschließt, selbst in allerdeutlichster Weise zeigt, wie wenig po-ruskij (das ist (West-)Ukrainisch) mit po-russki (Russisch) zu tun hatte und hat(4).

Im Revolutionsjahr 1848 sammelten sich die polonophilen ukrainischen Galizier in der Organisation "Sobor Rus'kyj", die als Gegengewicht zur nationalruthenischen "Holovna Rus'ka Rada", der ersten politischen Vereinigung der galizischen Ukrainer, auftreten wollte. Zwei bemerkenswerte Drucke aus dem Umfeld des "Sobor Rus'kyj" sind die zweisprachige ruthenisch-polnische Adresse der Ruthenen an den Kaiser mit dem Titel "Adres Rusinów", die eine Seite einnimmt, sowie die "Widozwa Soboru Ruskoho do welebnych dusz Propowidnykiw", die zweieinhalb Seiten lang ist. Die "Adres Rusinów" wendet sich an den Kaiser, um mitzuteilen, dass eine kurz zuvor an ihn gerichtete Petition der galizischen Ukrainer, in der diese ihre Gleichberechtigung gegenüber den Polen einforderten, nicht ernst genommen werden solle, weil Ruthenen und Polen in Wirklichkeit die gleichen Interessen hätten und brüderlich vereint seien. In sprachlicher Hinsicht ist sie ganz an der Volkssprache orientiert (Details vgl. Moser 2004r). Sprachlich auffälliger ist dagegen die "Widozwa Soboru Ruskoho":

Widozwa Soboru Ruskoho do welebnych dusz Prowidnykiw.

Wozlubyszy iskrenniaho twojeho, jako sam sebe.

Czestni dusz Prowodnyki. Jesly horlywist Wasza w duchu Chrysta zawsichda bula swobid ludzkosty pidstawoju, to w teperisznyi chwyly politycznoho wstrisenyja jest ona odynoju porukoju spasenyja narodowoho. - Wid Was protoje wirnyi praciwnyky w Chrysti oczikujemo toho dobra, i toho duszy wesila, kotoroho nam swit daty ne moze. Bo udilom swita sut krewkosty, a Waszym sztandarom mylist wsich. Dla toho mylosteju bud'te sylni -mylosteju swit stoit, bo widwiczna mylist dala sia prybyty na Chresti za bratej swoich. Szczo zatym swit powasnyw w zlostywosty swoj, to Wy namystniki Chrysta utwerdit mylosteju w nerozdilnoju spijniu [sic!].

Na zyznych nywach naszoi prymyloi witczyzny wzrislo derewo narodowosty w dwa presylni konari, - bo jednym konariom jest narid Ruskij, a druhym narid Polskij. [...] dii wikiw i wspilna Rusyniw z Polakami slawa, i welyki krywdy czasiw, i hirki terpinja, krowy szlachetnoi zertwowanyje, a szczo najbilsze wspilnaja nedola - w idnis't politycznu ich spoily, a woleju Boha w jedno zrislysia tilo. - Szczo prote Hospod' w swoi peredwicznoj mudrosty zluczyw, to czolowik w swoi neudolnosty maje rozluczaty? - Ne daj Boze. [...]

Bo
W sered syl zhukanych hwaltu,
Twir zaden ne woÿme ksztaltu. [...]
aby sia spounyla wola joho swiata "jak na nebesach tak i na zemly!!!" (Widozwa 1848).

Wesentliche Merkmale dieses Texts stimmen mit denen anderer bisher angeführten Schriften überein, er ist also im Wesentlichen gleichfalls als echt ukrainisch einzustufen. Dennoch unterscheidet sich diese Schrift von allen anderen bisher untersuchten maßgeblich. In sie fließt nämlich auch das kirchenslavische Erbe in einem viel größeren und über den lexikalischen Bereich hinausgehenden Ausmaß ein, vgl. das kirchenslavische Motto Wozlubyszy iskrenniaho twojeho, jako sam sebe und die nicht ganz kirchenslavische Schlussformel jak (kirchenslavisch jako) na nebesach tak i na zemly sowie im Haupttext insbesondere die Inkonsequenzen in der Schreibung des Suffix *-üje, wo die volkssprachlichen Formen wesila, terpinja, usylowania neben den ukrainisch-kirchenslavischen Formen sertwowanyje, wstrisenyja, spasenyja, die an das Russisch-Kirchenslavische angepassten Formen staranijem, utwerdsenije, namirenije, sobranije und spasenija sowie schließlich die Form osiahninija mit dem Reflex des neuen Jat', aber auch mit dem russisch-kirchenslavischen i-Reflex aus schwachem ü vor j einander gegenüber stehen und gleichzeitig die zahlreichen Bildungen auf -nije/-tije, die weder in der Volkssprache noch im Polnischen eine Stütze finden, auch in lexikalischer Hinsicht auffällig sind, vgl. insbesondere spasenije und namirenije. Ein eindeutiger lexikalischer Kirchenslavismus ist neben einigen anderen (vgl. im Detail Moser 2004r) schließlich das Wort Hospod', dessen Gebrauch im ukrainischen Schrifttum dieser Zeit auf den Bereich der liturgischen Bücher eingeschränkt war und an dessen Stelle sonst das seit langem integrierte, genuin polnische Pan verwendet wurde.

Solche Abweichungen von den Vorgaben der Volkssprache sind für die Texte der galizischen Ukrainer aus dieser Zeit durchaus charakteristisch, doch aus den Schriften der Polonophilen ist man sie nicht gewöhnt(5). Wie lässt sich dieser Wandel in der sprachlichen Konzeption der galizischen Polonophilen erklären?

Eine plausible Antwort darauf lässt sich wohl nur dann finden, wenn man sich einer anderen Gruppe von Texten zuwendet, die die Ukrainistik im Grunde ebenso in Vergessenheit geraten lassen hat wie die Texte der galizischen Polonophilen, nämlich die ersten politischen Texte der galizischen Ukrainer selbst: Die Sprache der ersten ruthenischen Übersetzungen von kaiserlichen Manifesten, politischen Petitionen und auf sie reagierenden Regierungsdekreten, wie sie im Umfeld des Ruthenischen Hauptrates entstanden, war nämlich insbesondere in ihren Anfängen des Jahres 1848 noch in beträchtlichem Maße vom kirchenslavischen Erbe geprägt, was sich nicht zuletzt daraus erklärt, dass sich die ukrainischen Politiker fast ausschließlich aus dem Umfeld der griechisch-katholischen Priester heraus rekrutierten. Überdies hatte sich nunmehr mit der "Holovna Rus'ka Rada" eine politische Kraft etabliert, die auch die Polen ernst nehmen und mit der sie in Verhandlung oder Konkurrenz treten mussten. Die "Widozwa" des "Sobor Ruskij" - eine andere "Widozwa" vom 8. Juni 1848 hatte sich an die "Bratia Rusyny" gewandt und war unter anderen von Kasper Cieglewicz und Mychajlo Popel' unterschrieben worden (s. dazu Levyc'kyj 1888: 32) - richtete sich also nicht mehr an namenlose ukrainische Bauern, denen die Polen kein politisches Bewusstsein zutrauten, sondern sie reagierte darauf, dass die galizischen Ukrainer in der Zwischenzeit begonnen hatten, aus dem Schatten der polnischen Eliten heraus zu treten und eine eigenständige weltliche Politik zu betreiben, die noch dazu von Erfolg gekrönt war und rasch zur Anerkennung des Ruthenischen als eine der Landessprachen der Monarchie führte (Moser 2002a). Ihre Adressaten waren also nunmehr gut ausgebildete, politisch mündige Geistliche, denen die Polonophilen wiederum in deren eigener Sprache begegnen wollten, so dass sie ältere Sprachkonzeptionen teilweise modifizierten (so auch in der "Widozwa" vom 8. Juni 1848, vgl. den Textausschnitt bei Levyc'kyj 1888: 32) und damit ihre sprachgeschichtliche Protagonistenrolle aufgaben. Die Initiative im Sprachausbau, auch in jenem, der auf eine Ausweitung der Anwendungsbereiche des Ukrainischen bemüht war, übernahmen nunmehr endlich jene, denen sie eigentlich naturgemäß zukam, nämlich die galizischen Ukrainer selbst. Doch ihre ersten Erfolge in diesen Bemühungen wurden bald von der in den fünfziger Jahren erstarkenden Russophilenbewegung außer Kraft gesetzt, und erst die Volkstümlerbewegung der späten sechziger Jahre setzte in einer zukunftsweisenden Art jenen Weg fort, den die Polonophilen in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhundert in Angriff genommen hatten.

Wesentlich ist dabei nicht zuletzt, dass die sprachpolitischen Zielsetzungen der Volkstümler andere, viel weiter reichende, nachhaltigere und in sich schlüssigere waren als jene, die die Polonophilen verfolgt hatten. Erst sie nämlich wollten das Ukrainische auf einer unzweideutig volkssprachlichen Grundlage zu einer polyfunktionalen Schriftsprache im eigentlichen Sinn des Wortes ausgestalten und leisteten dafür auch grundlegende Beiträge. Erst sie - unter ihnen befanden sich erstrangige Intellektuelle, deren Leistungen bis heute unerreicht sind, formulierten im Übrigen auch ihre gesellschaftstheoretischen Ideen und politischen Ziele in eben dieser Sprache und waren sich dabei im Unterschied zu den Polonophilen des Stellenwerts und der inneren Würde sowohl ihrer Nationalität als auch ihrer Sprache vollauf bewusst.

 

4. Resümee

Vergleichen wir nun abschließend die Sprachkonzepte der beiden galizisch-ukrainischen nationalen Irrläufer des 19. Jahrhunderts, nämlich der Polonophilen und der Russophilen, so lässt sich Folgendes feststellen. Wenn die Russophilen - ab etwa 1850 - vorgaben, Ruthenisch zu schreiben, dann verfassten sie ihre Texte auf Russoruthenisch, das heißt in einer mit Ruthenismen durchzogenen Varietät des Russischen (Moser 2002). Die Polen und Polonophilen dagegen versuchten keineswegs, ihr Ukrainisch dem Polnischen anzunähern, obwohl sie überzeugt waren, dass allein das Polnische als Schriftsprache der Ukrainer fungieren sollte. Sie bemühten sich vielmehr redlich, die galizischen Ukrainer tatsächlich in deren eigener Sprache anzusprechen, denn sie meinten, sie damit eher für ihre politischen Anliegen gewinnen zu können. So verfuhren sie auch deshalb, weil sie den Status des Polnischen durch ihr Sprachgebaren in keiner Weise bedroht sahen, sondern sicher waren, dass jene "Bauernsprache", zu deren Gebrauch sie sich aus rein pragmatischen Gründen herab ließen, niemals wirklich zu einer voll funktionstüchtigen Schriftsprache ausgebaut werden könnte.

Nur wenig später sollten sie und ihre Nachkommen eines Besseren belehrt werden.

© Michael Moser (Institut für Slawistik der Universität Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Dieser Aufsatz stellt eine sehr stark gekürzte Version von Moser 2004b dar.

(2) Sie werden von Tersakovec' (1908: 27-29) aufgezählt.

(3) Herbil's'kyj (1964: 227) erwähnt eine weitere Schrift mit dem Titel "Adzow k bratiam" (CDIAL URSR, fond 152, op. 2, spr. 3229, t. , 1837 r., ark. 102-115), die ich noch nicht einsehen konnte. Der Text dürfte aber auch in sprachlicher Hinsicht von größtem Interesse sein da er - dem Titel nah zu schließen - ganz untypische und unerwartete Anleihen beim Russischen nimmt.

(4) Dem vorliegenden Text sehr ähnlich dürfte "Holos swita do brati Rusnakiw! Bratia Rusnaky!" aus dem Jahre 1848 sein, den ich jedoch nicht einsehen konnte (zu diesem Text vgl. Levyc'kyj 1888: 33).

(5) Im selben Jahr und in einer ähnlichen Sprache wie die "Widozwa" wurde auch der Aufruf "Bratia Rusyny" herausgegeben, der mit dem 29. Juli 1848 unterschrieben ist. Er ähnelt den vorgestellten Dokumenten sowohl inhaltlich als auch formal in sehr hohem Maße.

 

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4.4. Transnationale und nationale Bestrebungen in der Ukraine

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For quotation purposes:
Michael Moser (Institut für Slawistik der Universität Wien): Ukrainischsprachige polnische Revolutionsliteratur aus Galizien (1830-1848). In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_04/moser15.htm

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