Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | April 2004 | |
4.4. Transnationale und nationale
Bestrebungen in der Ukraine Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Stefan Simonek (Wien)
Die zentrale Rolle, die das Wiener Kulturleben der Jahrhundertwende für Entstehung und Verlauf der Moderne in den slawischen Literaturen Zentraleuropas gespielt hat, wurde in den vergangenen Jahren verstärkt zum Thema germanistischer, slawistischer sowie komparatistischer Forschung, die teilweise im Zeichen rezenter Ansätze der Kulturwissenschaften stand(1). Dabei zeigte sich, daß die Kultur der Wiener Moderne als dichtes System figurierte, an dem slawische Autoren polnischer, tschechischer, ukrainischer oder slowenischer Abkunft sowohl als Rezipienten als auch als Produzenten Anteil hatten. Die Inte gration in dieses 'dichte System'(2), das sich in der Metropole Wien etwa im kulturellen Angebot an Konzerten und Opernaufführungen, Museen, einer weitläufigen Zeitschriftenlandschaft sowie an der Bedeutung der Universität Wien manifestierte, erfolgte von slawischer Seite her dabei allerdings keineswegs friktionslos. Die rhizomatischen und simultanen Strukturen des von Ambivalenzen und Momentaufnahmen geprägten Großstadtlebens wirkten auf die zumeist aus einem ländlich oder kleinstädtisch geprägten Milieu stammenden slawischen Autoren als Verlockung und Bedrohung gleichzeitig: Bot die Pluralität urbanen Lebens einerseits die Möglichkeit, sich von reglementierenden kulturellen Bindungen der engeren Heimat zu befreien und im Zeichen der Moderne literarische Modelle zu entwerfen, die weitestgehend ohne die erwarteten sozialen und nationalen Implikationen auskamen, so wirkte das Leben in der Großstadt andererseits doch auch als Bedrohung der eigenen nationalen Identität und der linear (etwa über ein Studium in Wien und die anschließende Rückkehr in die Heimat) konzipierten Karriereverläufe der slawischen Autoren. So lebten und arbeiteten nicht wenige von ihnen, wie etwa der Ukrainer Marko Ceremsyna, die ursprünglich nur einige Semester bleiben wollten, schließlich dann viele Jahre, ja teilweise Jahrzehnte in Wien(3).
In diese spezifische großstädtische Konstellation können nun auch zwei wichtige Autoren der polnischen und der ukrainischen Literatur der Jahrhundertwende integriert werden: Sowohl Zenon Przesmycki, der unter dem Pseudonym Miriam veröffentlichte, ein zentraler Essayist, Übersetzer und Theoretiker der polnischen Moderne, als auch der aus Galizien stammende Ukrainer Ivan Franko waren über ihre Bildungsverläufe und ihre literarische Tätigkeit eng mit Wien verbunden. Dabei zeigen sich überraschende Parallelen zwischen diesen beiden Autoren, die es erlauben, das dichte System Wiens gleichsam als modifizierende Strukturvorgabe zu verstehen, die Kunst- und Lebens text von Franko und Przesmycki in einigen Punkten zu Paradigmata urbaner Lebensentwürfe homogenisierte.
Dies betrifft einmal die akademischen Karrieren der beiden Autoren, die beide an der Universität Wien promovierten. Franko wurde in seiner engeren galizischen Heimat mehrmals aus politischen Gründen inhaftiert, so daß ihm eine Weiterführung seines Studiums an den Universitäten Lemberg und Czernowitz verwehrt wurde. Den Umstand, daß Franko trotz dieser Schwierigkeiten im Herbst 1892 nach Wien an die Universität kam und hier ein knappes Jahr darauf seinen Doktor machte, mag man entweder als Beleg für die Inkonsequenz der Nationalitätenpolitik der Donaumonarchie oder schlicht als kakanische Schlamperei interpretieren. In jedem Falle erwies sich der damals nicht mehr ganz junge, bereits durch mehrere Veröffentlichungen hervorgetretene ukrainische Autor als begabter Wissenschaftler, der aufgrund seiner akademischen Leistungen ein Stipendium erhielt und von seinen universitären Lehrern, wie etwa dem renommierten Slawisten Vatroslav Jagiæ, außerordentlich geschätzt wurde. Am 1. Juli 1893 promovierte Franko mit Auszeichnung und kehrte anschließend daran nach Galizien zurück, ohne freilich den Kontakt zu Jagiæ abreißen zu lassen. Przesmycki wiederum kam nach einem Aufenthalt in Paris im Jahre 1890 nach Wien, wo er im zeitlichen Naheverhältnis zu Franko bis Ende 1893 blieb und an der Universität Wien einen Doktortitel der Rechtswissenschaften erwarb. Frankos Studienzeit inklusive der dazugehörigen Materialien, wie etwa der beiden Gutachten zu seiner Dissertation, wurde 1960 in Aufsatzform von Günther Wytrzens in mustergültiger Weise erschlossen (vgl. Wytrzens 1960), während dies im Falle von Przesmycki nicht zuletzt aufgrund widersprüchlicher Angaben in den Quellen eine gewiß lohnende Aufgabe für die Zukunft bleibt.
Wien war für den polnischen und den ukrainischen Autor aber nicht nur als Bildungsstätte, sondern auch für die eigene literarische Produktion von entscheidender Bedeutung, sind doch wesentliche Teile ihres Werkes über Entstehung oder Veröffentlichung mit Wien verbunden - die 'Wiener Spur' ist also bei Franko wie auch bei Przesmycki integraler Teil des jeweiligen Werkes, und dies nicht zuletzt deshalb, da sich deren in Wien entstandene bzw. veröffentlichte Texte in einen unmittelbaren Konnex zu zeitgleich präsenten ästhetischen Parametern der Wiener Moderne, also zu Texten von Hermann Bahr, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg oder Hugo von Hofmannsthal stellen lassen. Mit Blickrichtung Franko wäre hier in bezug auf die Lyrik wohl vorrangig das umfangreiche, 76 Zeilen umfassende Gedicht Pryvyd [Die Erscheinung] zu nennen, das für Frankos zutiefst widersprüch liche Haltung der Moderne gegenüber in zweierlei Hinsicht von Interesse ist. Einmal ist der Text Bestandteil von Frankos 1896 erschienener Sammlung Ziv''jale lystja [Welkes Laub], die in ihrer be reits im Titel anklingenden Bündelung von Motiven des gesamteuropäischen Ästhetismus vorbildhaft besonders für die Durchsetzung der Moderne in der ukrainisch-galizischen Literatur gewesen ist - nachrückende Lyriker dieser Strömung, wie etwa Petro Karmans'kyj, orientierten sich in ihrer eige nen Lyrik bis in Details hinein an Frankos Sammlung, so daß sich dieser wider eigenen Willen in der Rolle eines Spiritus rector der Moderne (also einer von ihm selbst abgelehnten künstlerischen Richtung) wiederfand.
Daneben verweisen Ort und Zeit der Abfassung des Gedichts, auf die Franko in der dem Text beigefügten Anmerkung "Wien, am 6. November 1892" explizit verwiesen hat, eindeutig auf den urbanen Rahmen, innerhalb dessen das Gedicht zu sehen ist. Der Text, der sich auch als Parallelversion zu Charles Baudelaires für die gesamte Moderne paradigmatischem Sonett À une passante lesen läßt(4), inszeniert inmitten einer spätherbstlichen Großstadtszenerie die zufällige Wiederbegegnung des lyrischen Subjekts mit einer ehemaligen Geliebten, die nun als Prostituierte inmitten der Menge auf Kundenfang geht, mit einem Freier im Treiben verschwindet und das lyrische Subjekt mit seinen jählings aufgetauchten Erinnerungen zurückläßt.
Dieses Gedicht steht beispielhaft für die jeweils nur partiell realisierten Züge der Ästhetik der Moderne, die in Frankos Werk durchgehend zu beobachten sind. Auf der einen Seite repräsentiert der Text wohl eines der frühesten Zeugnisse für Darstellungen der Großstadt in der stark rural-populistisch geprägten ukrainischen Literatur jener Zeit und vollzieht allein schon dadurch einen Schritt in Richtung Moderne. Auf der anderen Seite freilich wird dieser Schritt nur halbherzig gesetzt - Franko ertastet gewissermaßen Neuland, bleibt aber mit einem Bein vorsichtshalber immer noch auf sicherem und althergebrachtem Terrain stehen. Die Eingangsstrophen des Gedichts vollziehen über die Schilderung des nächtlichen Schneetreibens, der künstlichen Beleuchtung, des Vorbeijagens der Fiaker und der vorübereilenden Passanten der verschiedensten sozialen Schichten eine genuin großstädtische Szenerie. In der Art und Weise freilich, wie das lyrische Subjekt als Folge der unerwarteten Begeg nung seine überschwenglichen Erinnerungen evoziert und das Schicksal der Geliebten bewertet, zeigt sich die Distanz, die Franko der Ästhetik der Moderne gegenüber nach wie vor einnimmt. Franko negiert nämlich die zwei gerade bei Baudelaire zu beobachtenden zentralen Parameter dieser Ästhetik, nämlich Plötzlichkeit und moralische Indifferenz. Die Plötzlichkeit der unerwarteten Begegnung inmitten der nächtlichen Großstadt wird im Verlauf des Textes durch die extensiv in Szene gesetzten Erinnerungen des lyrischen Subjekts schrittweise wieder zurückge nommen, und einer moralischen Indifferenz durch eindeutig wertende Formulierungen wie z. B. "Markt der Schande" (Franko 1976:136) eine klare Absage erteilt.
Es wäre nun nicht weiter schwierig, alleine über die Themen Großstadt bzw. Prostitution einen Konnex zu Texten der Wiener Moderne herzustellen, die sich ja gerade in den Jahren um 1892 herum zu formieren begann. Die Skizzen von Peter Altenberg, die Gedichte von Hugo von Hofmannsthal oder die Erzählungen und Dramen Arthur Schnitzlers vom Reigen bis hin zur Traumnovelle böten hier reichhaltiges Belegmaterial; um aber zu zeigen, welch kurze Distanz zwischen Frankos Kunsttext und dem Lebenstext Schnitzlers liegt, sei auf dessen Tagebücher verwiesen. In diesem erstrangigen Dokument zum Leben im Wien der Jahrhundertwende findet sich auch Schnitzlers Beziehung zur Kunststickerin Jeanette Heeger dokumentiert, von der Schnitzler nach ihrer Trennung im Spätsommer 1893 gerüchtehalber erfährt, daß sie in die Demimonde abgesunken, also eine bessere Prostituierte geworden sein soll. Die von Schnitzler anläßlich eines Abendspazierganges festgehaltene Wiederbegegnung mit der ehemaligen Geliebten liest sich wie ein Parallelentwurf zu Frankos Gedicht unter genau umgekehrten Vorzeichen, was die Positionen von Mann und Frau betrifft: "Geh an ihr, die vor mir ist, vorbei. Sie rief mir nach: Arthur! - Du! - Du! - Ich ging weiter, ohne mich umzuwenden" (zit. nach Weinzierl 1994:149).
1893, also ein Jahr nach der Entstehung von Frankos Gedicht, veröffentlichte Zenon Przesmycki unter seinem Pseudonym Miriam in Wien den Gedichtband Z czary mlodosci [Aus dem Kelch der Jugend], ein - wie es im Untertitel heißt - lyrisches Tagebuch der Seele, das Gedichte aus den Jahren 1881 bis 1891 enthält. Bereits der Titel verweist über die Momente des Rauschhaften und Entgrenzten auf die Ästhetik der Moderne, die das von Przesmycki bemühte Bild gerne verwendete - es mag hier genügen, die sechs Jahre später veröffentlichte, in Wien entstandene Sammlung Casa opojnosti [Der Kelch der Trunkenheit] des Slowenen Oton Zupancic zu erwähnen. In Przesmyckis Sammlung findet sich ein Sonett, das über seinen deutschen Titel Stimmung aus dem Bereich des Polnischen hinaus auf einen Terminus verweist, der gerade auch für die Wiener Moderne in jenen Jahren als Signum des Neuen von zentraler Bedeutung gewesen ist (Przesmycki 1893:192). Przesmyckis Gedicht läßt sich nun über die darin präsenten Motive der düsteren städtischen Abende, der künstlichen Beleuchtung und dem alle Sicherheiten und Werthaltungen aufhebenden Gefühl einer existentiellen Einsamkeit durchaus zu Frankos "Erscheinung" in Relation stellen. Daneben führt der Titel Stimmung aber etwa auch zu den Essays von Hermann Bahr, dem bei der Konstitution der Wiener Moderne gerade in den neunziger Jahren des 19. Jhs. eine ganz ähnliche Funktion als Programmatiker und Vermittler (etwa aus dem französischen Raum) zukommt wie Przesmycki in bezug auf die polnische Moderne. Beide Autoren haben sich wohl eher auf diesen Gebieten als auf dem literarischen Sektor im engeren Sinne verdient gemacht. Bahr hat dabei genau jenen Terminus, mit dessen Hilfe Przesmycki seinem lyrischen Text eine internationale Dimension verlieh und damit Anschluß an die zeitgenössischen künstlerischen Strömungen suchte, als zentrale Differenzqualität der von ihm propagierten, aus Frankreich importierten neuen Richtung der Décadence ausgemacht. In seinem 1891 erschienenen Essay Die Décadence ist in bezug auf die Adepten der im Titel erwähnten Schule zu lesen: "Nicht Gefühle, nur Stimmungen suchen sie auf. Sie verschmähen nicht bloß die äußere Welt, sondern am inneren Menschen selbst verschmähen sie allen Rest, der nicht Stimmung ist" (zit. nach Wunberg 1981:226). Und auch hier wieder eine Verbindung zu Ivan Franko: Dieser veröffentlichte noch im selben Jahr 1891 einen auf polnisch verfaßten Aufsatz mit dem Titel Z dziedziny nauki i literatury [Aus dem Gebiet von Wissenschaft und Literatur], in dem ganz analog zum Sonett Przesmyckis der Terminus "Stimmung" in seiner deutschen Form im Zeichen der Internationalität aus dem Polnischen herausgestellt wird. Franko setzt sich hier sehr früh in kritischer Weise mit der Schule der Dekadenz auseinander, wobei Bahrs Aufsatz als Informationsquelle dient, die von Franko in paraphrasierter, sehr polemisch gehaltener Weise in den eigenen Text eingearbeitet wird(5). So übernimmt Franko etwa die zuvor zitierte Passage Bahrs in polnischer Übersetzung in seinen eigenen Text, fügt aber an entsprechender Stelle dem polnischen Ausdruck noch das in Klammern gesetzte deutsche Äquivalent "Stimmung" hinzu (Franko 1980:163)(6). Beide, Franko wie auch Przesmycki, binden ihren jeweiligen Text also trotz ganz unterschiedlicher Ausgangspositionen über Titel bzw. erläuternde Er klärung an einen nicht zuletzt von Hermann Bahr mitgenerierten Diskurs einer prononciert übernationalen Moder nität an.
Über Hermann Bahr eröffnet sich auch eine weitere interliterarische Konstellation zwischen Ivan Franko und Zenon Przesmycki. Bahr war von 1894 bis 1899 Mitherausgeber der Wiener Wochenschrift "Die Zeit", deren literarische Ausrichtung er in seinem Bestreben, der Zeitschrift eine übernationale, europäische Dimension zu verleihen, ganz wesentlich mitgeprägt hat. Berücksichtigt man nun den Umstand, daß Franko sich in seinen Aufsätzen stets negativ zu Bahr als Kritiker und Programmatiker geäußert hat, so mag es verwundern, daß gerade er es war, der über Jahre hinweg regelmäßig deutschsprachige Originalbeiträge für Bahrs "Zeit" lieferte und in ihr - salopp gesprochen - als "Unser Mann in Galizien" fungierte, der ein deutschsprachiges Publikum kontinuierlich über kulturelle, politische und ökonomische Fragen aus dieser Region der Donaumonarchie informierte(7). Es war wohl die über alle weltanschaulichen und ästhetischen Differenzen hinausreichende internationale Ausrichtung beider Beteiligter, die für die Mitarbeit Frankos an Bahrs Zeitschrift verantwortlich war, sowie natürlich auch der beiderseitige Vorteil: Hatte Bahr mit Franko einen kompetenten und angesehenen Berichterstatter über Fragen in bezug auf Galizien zur Hand, so konnte dieser wiederum über die "Zeit" eine größeres, internationales Publikum für das Interesse an seiner galizischen Heimat gewinnen. Daß diese Zusammenarbeit auch abseits der Berichter stattung über Galizien durch ein (eben gerade über die Metropole Wien laufendes) Höchstmaß an Internationa lität gekennzeichnet war, belegt unter anderem das Jahr 1902, als der ukrainische Autor Franko in deutscher Sprache im Juli zunächst einen Nekrolog auf den russischen Schriftsteller Gleb Uspenskij und im Oktober dann eine Würdigung der polnischen Dichterin Maria Konopnicka in der "Zeit" veröffentlichte.
In direktem Zusammenhang mit Frankos Mitarbeit an der "Zeit" steht auch ein Brief Hermann Bahrs an Ivan Franko. Bezeichnenderweise war der Anlaß dieses Briefes ein Beitrag Frankos, der über den ukrainischen Bereich hinaus in den polnischen reichte: In seinem am 8. Mai 1897 in der Nr. 136 veröffentlichten Beitrag Ein Dichter des Verrats warf Franko die Frage auf, wieso gerade ein Autor wie Adam Mickiewicz, der in seinen Werken den Verrat thematisierte, zum polnischen Nationaldichter werden konnte(8). Auf diesen Artikel, der in der polnischen Öffent lichkeit einen bis hin zu Morddrohungen in Richtung Franko reichenden Sturm der Empörung auslöste, replizierte Bahr im erwähnten Brief an Franko vom 10. Juli 1897; Bahr betont darin jene für die Moderne kennzeichnende Distanz zwischen Ethik und Ästhetik, die für Franko ungeachtet der von ihm befürworteten Bestrebungen nach Internationalisierung letztlich nicht zu akzeptieren war: "Aus einem ästhetischen Werk irgendwelche Konsequen zen auf die Gesinnung eines Autors zu ziehen, halte ich für den größten Unsinn. [...] Sie werden doch wissen, daß einer ästhetisch etwas zeigen kann, was einen moralisch abstößt. Der 'Verrat' ist ein Problem von großem ästhetischen Reiz, dem man wohl sein Leben widmen kann, ohne deswegen selber Verräter zu sein" (zit. nach Franko 1963:470).
Auch zu Zenon Przesmycki läßt sich eine Spur legen, die ebenfalls über die "Zeit" Hermann Bahrs führt(9). Bahr war seit Beginn seiner Mitarbeit an der Zeitschrift danach bestrebt, für die verschiedenen im Blatt präsentierten Literaturen kompetente Gewährsleute zur Verfügung zu haben, die dank ihrer Kenntnisse und Verbindungen für eine ansprechende Berichterstattung sorgen sollten; dies betraf Auswahl, inhaltliche und sprachliche Gestaltung der Berichte ebenso wie etwaige Kontakte zu weiteren Repräsentanten der entsprechenden Kultur. Das Vorhan densein von Gewährsleuten schlug sich seinerseits ganz unmittelbar in Umfang und Qualität nieder, mit denen die entsprechende Kultur dann schließlich in der "Zeit" vertreten war, wo etwa Galizien und Böhmen dank Ivan Franko und dem jahrzehntelang in Wien lebenden tschechischen Schriftsteller Josef Svatopluk Machar besonders hervorstachen, während dies für die südslawischen Literaturen aufgrund des Fehlens ähnlich intensiver Kontakte nicht der Fall gewesen ist.
Bahrs Suche nach einem Repräsentanten der polnischen Kultur führte ihn zu Stanislaw Przybyszewski, dem Bahr am 24. Mai 1894 einen auf einem Redaktionsformular der "Zeit" ab gefaßten Brief schickte(10). Darin informiert Bahr seinen polnischen Kollegen vom bevorstehenden Erscheinen des ersten Bandes der "Zeit", die einen Überblick der modernen Kunst für gute Europäer bieten sollte. Bahr ersucht Przybyszewski in seinem Schreiben nun nicht nur um eigene Beiträge, sondern auch darum, ihm jemand namhaft zu machen, der drei- bis viermal pro Jahr größere Studien zur neuesten polnischen Literatur abfassen könnte(11). Przybyszewski kommt seinerseits dann ein knappes Jahr später am 11. November 1895 in einem Brief an Bahr auf dessen Anliegen zu sprechen und empfiehlt Przesmycki mit folgenden geradezu hymnischen Worten:
In Ihrem ersten Brief aus dem vergangenen Jahr haben Sie mich gefragt, ob sich denn in Polen nicht ein moderner Schriftsteller finden ließe. Habemus papam! Er ist Dichter und Philosoph, Zenon Przesmycki, wohnhaft in Paris, rue Campagne Première 8a. Ich kenne niemanden, der Ihnen so vollendete, so vollkommen europäische Überblicksdarstellungen zur jungen polnischen Literatur liefern könnte. [...]
Sollten Sie ihn für Ihre Zeitschrift gewinnen können, dann kann ich Ihnen nur gratulieren (zit. nach Taborski 1983:127).(12)
Auch wenn Przesmycki meines Wissens nach schließlich nicht zur Mitarbeit an der "Zeit" gewonnen werden konnte, so eröffnet sich über dieses Periodikum dennoch eine weitere Möglichkeit, Franko und Przesmycki jenseits eines binären Vergleichs zwischen polnischer und ukrainischer Literatur zueinander in Relation zu bringen. Eine direkte Gegenüberstellung würde lediglich belegen, daß Franko trotz einiger freundlicher Worte in seinen Aufsätzen im wesentlichen skeptisch gegenüber Przesmycki als Vertreter der polnischen Moderne eingestellt war. Erst der Versuch, das Verbindende der Kulturen über ein externes Drittes, ein tertium comparationis zu fassen, das hier über Wien um 1900 führt, belegt die Gemeinsamkeiten von Biographien, die trotz aller Unterschiede das Bestreben gemeinsam hatten, die jeweils eigene Literatur in einen größer gefaßten europäischen Kontext einzubetten. Die gleichsam exterritoriale Wiener Perspektive verweist hier also auf den Schnittpunkt von Lebenslinien, die ohne diesen Blickwinkel im wesentlichen unverbunden nebeneinanderstehen würden.
© Stefan Simonek (Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Vgl. etwa Müller-Funk / Plener / Ruthner 2002.
(2) Vgl. Csáky 1996.
(3) Vgl. dazu Simonek 1997.
(4) Vgl. dazu Simonek 1997a:128ff.
(5) Vgl. dazu Simonek 1997a:76-81.
(6) Der Aufsatz Frankos dort in ukrainischer Übersetzung.
(7) Zu Frankos deutschsprachigen Texten vgl. Franko 1963.
(8) Bezeichnenderweise ist gerade dieser deutschsprachige Beitrag Frankos, der eine ganz besonders starke Re aktion in der Öffentlichkeit hervorrief, wohl aus politischen Gründen in Franko 1963 nicht enthalten, so daß in diesem Falle auf die Originalquelle der "Zeit" zurückgegriffen werden muß.
(9) Im epistolarischen Nachlaß von Hermann Bahr, der im Wiener Theatermuseum aufbewahrt wird, finden sich we der Briefe Ivan Frankos noch solche Przesmyckis. Freundliche Mitteilung von Kurt Ifkovits (Wien).
(10) Zur den Kontakten zwischen Bahr und Przybyszewski in Zusammenhang mit der "Zeit" vgl. Woldan 1999.
(11) Vgl. diesen Brief (in polnischer Übersetzung) in Taborski 1983:125f.
(12) Der ursprünglich auf deutsch verfaßte Brief dort in polnischer Übersetzung. Rückübersetzung ins Deutsche von S. S.
ABKÜRZUNGEN
Csáky 1996: M. Csáky, Pluralität. Bemerkungen zum "dichten System" der zentraleuropäischen Region, Neohelicon XXIII/1, 9-30
Franko 1963: I. Franko, Beiträge zur Geschichte und Kultur der Ukraine. Ausgewählte deutsche Schriften des revolutionären Demokraten 1882-1915. Hg. v. E. Winter u. P. Kirchner, Berlin-Ost
Franko 1976: I. Franko, Zibrannja tvoriv u 50-y tomach. T. 2: Poezija. Kyjiv
Franko 1980: I. Franko, Zibrannja tvoriv u 50-y tomach. T. 28: Literaturno-krytycni praci (1890-1892), Kyjiv
Müller-Funk / Plener / Ruthner 2002: W. Müller-Funk, P. Plener, C. Ruthner (Hgg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen - Basel
Przesmycki 1893: Miriam [d. i. Z. Przesmycki], Z czary mlodosci. Liryczny pamiêtnik duszy. (1881-1891), Wieden
Simonek 1997: S. Simonek, Marko Ceremsyna als Student der Universität Wien und als Erzähler in der Tradition Arthur Schnitzlers, Österreichische Osthefte 39, 487-508
Simonek 1997a: S. Simonek, Ivan Franko und die "Moloda Muza". Motive in der westukrainischen Lyrik der Moderne, Köln - Weimar - Wien
Taborski 1983: R. Taborski, Wsród wiedenskich poloników, Kraków (2. wyd.)
Weinzierl 1994: U. Weinzierl, Arthur Schnitzler. Lieben - Träumen - Sterben, Frankfurt a. M. (2. Aufl.)
Woldan 1999: A. Woldan, Stanislaw Przybyszewski, Hermann Bahr und "Die Zeit", in: G. Ritz, G. Matuszek (Hgg.), Literarische Rezeption und literarischer Prozess. Zu den polnisch-deutschen literarischen Wechselbeziehungen vom Modernismus bis in die Zwischenkriegszeit, Kraków, 45-62
Wunberg 1981: G. Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hg. v. G. W. unter Mitarbeit v. J. J. Braakenburg, Stuttgart
Wytrzens 1960: G. Wytrzens, Ivan Franko als Student und Doktor der Wiener Universität, Wiener Slavistisches Jahrbuch 8, 228-241
4.4. Transnationale und nationale Bestrebungen in der Ukraine
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For quotation purposes:
Michael Moser (Institut für Slawistik der Universität
Wien): Ukrainischsprachige polnische Revolutionsliteratur aus
Galizien (1830-1848). In: TRANS. Internet-Zeitschrift für
Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_04/simonek15.htm