Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | April 2004 | |
4.8. Das Unbehagen in der Kultur
- ein verbindendes Element in der Welt von heute ? Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Martina
Kaller-Dietrich (Wien)
[BIO]
Mit ihrem Verzicht auf Wertungen und Festschreibungen sowie ihrem eindeutigen Bekenntnis für den Plural der Kulturen sind die cultural studies angetreten, das anthropologische Paradigma in den Humanwissenschaften durchzusetzen. Das öffnete in den letzten Jahrzehnten neue Wege bei der Suche nach kulturspezifischen Differenzen und Kultur übergreifenden Gemeinsamkeiten bei gleichzeitiger Kritik der Macht, das heißt der Herrschaftsverhältnisse.(1)
Dem linguistic turn, dem prominenten methodischen Paradigmenwechsel in den modernen Kulturwissenschaften, ist unter anderem die äußerst produktive, aktuelle Postkolonialismus-Debatte zu verdanken.(2) Es fällt allerdings auf, dass es nicht etwa die AnthropologInnen waren (deren Forschungsgegenstand ausdrücklich "Kultur" ist), die diesen Wechsel vorangetrieben hatten.(3) Vielmehr wird die Diskussion von einer Literaturwissenschaft getragen, die den Elite-Disziplinen Philosophie und Literaturtheorie verpflichtet ist, obwohl das Deuten und das Verstehen nur einen Aspekt des sozialen Gebrauchs von Kultur darstellen. Zwar wurde die Rhetorik der Sozialwissenschaften verändert ("umgeschrieben"), doch Inhalt und Jargon der cultural studies orientieren sich keineswegs zum Beispiel an den Alltagssprachen jener Popularkulturen, mit denen sie sich beschäftigen. Eine sehr eindeutige "Botschaft des Hyperprofessionalismus"(4) ist zu vernehmen. Darin verstärkt sich die hierarchische Unterscheidung zwischen den VetreterInnen dieses neuen Forschungszweigs und den anthropologischen Anderen. Mit einer Sprache der Verallgemeinerung, der professionellen "Hauptwörterei"(5), wurde das Partikulare und vielleicht gerade das Vielfältige der Kulturen verstellt.(6) In den Worten Lila Abu-Lughods sehen wir nicht mehr, wie die Menschen "durchs Leben gehen und sich dabei mit Entscheidungen herumschlagen, Fehler machen, versuchen, gut auszusehen, Tragödien und persönliche Verluste ertragen, Freude an anderen haben und Augenblicke des Glücks finden."(7) Interessiert aber nicht gerade die Frage, wie Menschen in ihrer Welt zurecht-kommen?
Erstaunlich, dass das Handeln, das Tun der Menschen, ihre - vielleicht kulturell - erlernten Hoffnungen, Sichtweisen, Ängste und Schmerzen ausgeblendet bleiben, also Bilder von Kultur/en entstehen, in denen vielmehr die Frage, wie die Menschen Bedeutung und Ordnung in ihrer Welt finden, behandelt wird. Jene von Arjun Appadurai kritisierte Komplizenschaft des anthropologischen Kulturbegriffs mit der andauernden "Einkerkerung" nicht-westlicher Völker in Zeit und Raum(8), könnte damit wieder belebt werden. Denn jeder Kulturbegriff, der besagt, was ist, anstatt zu sehen, zu verstehen und zu beschreiben, was vor sich geht und in Bewegung ist, löst Unbehagen aus, weil er droht, in Essentialismen zu versteinern. Eine Vorstellung von Kultur, die das Tun auf Funktionen reduziert, ist deshalb strikte abzulehnen. Sie würde das Unerträgliche legitimieren.
Die folgenden Ausführungen reflektieren das von Sigmund Freud diagnostizierte Unbehagen in der Kultur in zweifacher Hinsicht. In einem ersten Schritt soll geklärt werden, wie Kultur im Substantiv als Element des politischen Diskurs Unbehagen schafft. Das Angebot, das Tätigsein von Menschen zu verbalisieren und damit wieder an den schöpferischen Anteil von Kultur anzuknüpfen, spricht der zweite Teil dieses Essays aus.
1. Von der unbehaglichen Kultur im Substantiv
Der Begriff Kultur in seiner substantivierten Verwendung ist vom Projekt der Nation nicht zu trennen. Kultur gehört wie Nation zum modernen machtpolitischen Projekt. Wie Nation ist Kultur eine Vorstellung. Die Grenzen und damit die Territorien, in denen Nation und Kultur vorgestellt werden, lassen sich beliebig nach innen und außen verlegen (EU, Balkan, Irak). Jeder Nationalstaat, also eine territorial festgeschriebene Nation, versteht sich als Hort kultureller Werte, auch wenn das nur darauf hinausläuft, territoriale Ansprüche zu behaupten, die mit Kultur identifiziert werden. Nationen lagen im Streit über die Frage, wer der wahre Hüter bestimmter kultureller Werte sei. Frankreich und England führten Kriege gegeneinander und erhoben beide den Anspruch, die europäische Kultur zu verkörpern. Und diesen Anspruch erhob, auf seine Art, auch das nationalsozialistische Deutschland, das doch in der übrigen Welt weithin als Symbol der Unkultur galt. Immerhin fanden namhafte Denker des 20. Jahrhunderts - z.B. Martin Heidegger - diese Vorstellung nicht abwegig. Grund genug, sich der Begriffsgeschichte von "Kultur" zuzuwenden:
Als das Substantiv Kultur im 17. Jahrhundert aus dem lateinischen Stamm colere (colui, cultus, culturus) ins Deutsche entlehnt wurde, bezeichnete es zwei unterschiedliche Dinge:
Meinte colere "bebauen, bewohnen, pflegen", das nur in Gemeinschaft bewerkstelligt und an einem bestimmten Ort gedacht werden kann, weil es ein Tätigsein beschrieb und nicht ein Produkt, brauchte die Pflege der geistigen Güter keinen konkreten Ort, um sich zu entfalten. Kultur ließ sich überall ansiedeln und konnte überall hingehen. Kultur konnte in jedem Territorium, in jeder Nation also, stattfinden.
Dem modernen Begriff Kultur haftet seit Herder, der Kultur als die "Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, eines Volkes" identifizierte, eine kolonisatorische Dimension an, zumal mit der Betonung von "geistigen" und "künstlerischen Lebensäußerungen" auch die Wertigkeit von Kultur festgeschrieben wurde. Es scheint im Wesen von Konzepten zu liegen, dass sie sich mit allen möglichen und unmöglichen Inhalten "ausfüllen" lassen, zumal Konzepte - übrigens genauso wie Rezepte - in Aussicht stellen, dass ihre genaue Befolgung auch exakt zu den erwünschten Ergebnissen führen. Kultur wird so als etwas Gemachtes vorgestellt, nicht als Machen oder Tun.
Kultur, die gemacht ist, steht aber dem Machen - oder wie ich lieber sagen möchte -, dem Tätigsein im Weg. Mit der Bewertung von Kultur als Produkt einer Gemeinschaft, kann das eigenbezügliche Tätigsein in Gemeinschaft und an einem Ort nicht konkurrieren. Eigenbezügliches Tätigsein schafft keine Tatsachen. Es ist nicht innovativ. Es ist unergiebig. Eigenbezüglichkeit verwehrt sich der Endgültigkeit. Eigenbezügliches Tätigsein ist schließlich unbeständig und dem Zugriff zentraler Steuerung entzogen. Eigenbezügliches Kultivieren verhält sich uneinsichtig gegenüber dem Konzept von Kultur. Deshalb wird es mit Rückständigkeit in einen Topf geworfen. Dürfen wir aber eine Aussage, wie jene des Flamenco-Sängers Agujetas tatsächlich für rückständig halten, wenn er auf dem Primat der Eigenbezüglichkeit insistierend feststellt:
"El que sabe leer y escribir no puede cantar flamenco ... porque pierde el saber pronunciar."(9) (Wer lesen und schreiben kann, kann nicht Flamenco singen, weil er die Fähigkeit sich auszudrücken verloren hat.)
Dem Begriff Kultur, der mit Uwe Pörksen als "Plastikwort" identifiziert werden kann, fehlt der Bezug zum Eigentlichen, Eigenbezüglichkeit also. Plastikwörter "schmecken nach nichts", meint Pörksen. Eine weitere Eigenschaft jener Plastikwörter, zu denen auch das Wort Kultur zählt, fällt erst auf den zweiten Blick auf: Ihre Anpassungs- und enorme Wandlungsfähigkeit verleiht ihnen ihre amorphe Plastizität. Kultur lässt sich in sehr verschiedenen Kontexten verwenden, ohne störend zu wirken. Der Begriff Kultur konnotiert, aber denotiert letztlich nicht. In seinem Inneren klafft eine Leerstelle, weil niemand bündig sagen kann, was den Kern von Kultur ausmacht. Trotzdem erhebt der Begriff Kultur einen diffusen und inhaltsarmen Universalitätsanspruch. Historisch lässt sich feststellen, dass der Siegeszug substantivierter Kultur die Einhegung angeblich kulturell homogener Gesellschaften in (nationale) Territorien begleitet. Dies fällt besonders ins Auge, wenn exotische Kultur als Konstruktion identifiziert wird. Edward Said hat in "Kultur und Imperialismus"(10)die tiefe Verwurzelung von Kultur und Gewalt sowie geistiger und politischer Kolonialisierung im 19. und 20. Jahrhundert aufgedeckt. Said spricht vom "Ende der Illusion der Fremdenfreundlichkeit des Abendlands"; er enttarnt die Sprache der Herrschaft in der westlichen Literatur ebenso wie in den Humanwissenschaften, in der Realpolitik der Nationalstaaten ebenso wie in den gesellschaftlichen Leitbildern; er beschreibt die "Gestik der zivilisatorischen Domestizierung" seit den Kolonialkriegen bis in die Gegenwart. Er zeigt, dass dort wo westliche Kultur herrscht, Heterogenität verblasst.
Der Dichter Herbert Achternbusch hat zum Hegemoniestreben von Kultur Treffenderes bemerkt als so mancher Forscher:
"Welt ist ein imperialer Begriff. Auch wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher ist hier Bayern gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Auch Bayern ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt regiert ... Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet ... Das imperiale Gesetz der Welt ist Verständnis. Jeder Punkt dieser Welt muß von jedem anderen Punkt verstanden werden. Das hat zur Folge, daß jeder Punkt auf der Welt jedem anderen Punkt gleichen muß. So wird Verständnis mit Gleichheit verwechselt und Gleichheit mit Gerechtigkeit.
Aber wieso ist es ungerecht, wenn ich mich einem anderen nicht verständlich machen kann? Will sich der Unterdrückte oder der Beherrschte verständlich machen? Natürlich der Unterdrückende und der Herrschende. Herrschaft muß begreifbar sein."(11)
Es scheint als hätte Eigenbezüglichkeit und Eigenmacht im Rahmen eines weltweit vereinheitlichten Verständnisses von Kultur ihren Platz verloren. Dort, wo Differenz als Kultur toleriert wird, erscheint sie als Stereotypus nationaler oder rassischer Spezifika. Die Gleichheit der modernen Kulturen untereinander ist allerdings viel höher einzuschätzen als ihre Differenz.
Nationale Projekte, wie etwa jenes der mexikanischen Nation, das sich nach erfolgter Staatsbildung im 19. Jahrhundert eine nationale Kultur festschrieb, fußen prinzipiell in nur einem hinlänglich bekannten Wertmaßstab für Kultur. Aus der Hybridisierung von europäischen und indianischen Kulturanteilen sei angeblich eine dritte Kultur, die Kultur des mexikanischen Volks, hervorgegangen. So lautet allenthalben die Quintessenz des Nationalprojekts Mexiko. Da die nationalen Maßstäbe sich aber am modernen Projekt von Staat und Nation orientieren, irritiert der Umstand etwas "europäischer" zu sein als das Synthesevolk nicht nur nicht, sondern wird leitmotivisch gewünscht. Hingegen scheidet der Anspruch, den Anteil "nicht europäischer" Kultur zu besetzen an der simplen Negation, dass Indianern - ebenso wie den Zigeunern, den Juden und anderen "Untermenschen" der modernen Staaten - zwar Differenz zugesprochen wird, aber nicht eine eigene Kultur, jedenfalls keine, die der nationalen Kultur das Wasser reichen könnte. Im Gegenteil, Kultur kann es gar nicht geben, weil mit der Nationalität auch die Modernität des Projekts Mexiko untergraben würde. So bleibt dem mexikanischen Kulturtheoretiker Esteban Krotz nur die Feststellung:
"Häufiger als 'mand' sind Indios meist 'was', nämlich ein Problem. Das rührt zunächst von ihrem offensichtlichen Anderssein her: sie sehen anders aus, kleiden sich anders, essen und trinken anders und tun - etwa im Bereich der Medizin und der Religion, aber auch in vielen des ganz gewöhnlichen Alltags - anderes. Und sie reden anders. Diese Andersheit ist nicht nur oberflächlich: die moderne Welt scheint ihre Sache nicht zu sein. Sie haben eine andere Kultur als die herrschende, die der Herrschenden. Für letztere ist indianische Kultur eigentlich keine rechte Kultur, sie ist bestenfalls Folklore, Rest einer untergehenden Welt, anachronische Randerscheinung der modernen, der zukunftsträchtigen Welt.
Aber damit nicht genug. Indios sind nicht nur nicht modern, sondern sie sind antimodern. Sie sind nicht lediglich Zurückgebliebene des allgemeinen Menschheitsfortschritts, sie sind gegen den Fortschritt. Ja, unfähig zum modernen Leben, dumm und faul sind sie - zumindest so erscheinen sie ganz besonders dann, wenn sie in offensichtlich zum Fortschritt berufenen Gebieten angetroffen werden, etwa in Wäldern, die zwecks Viehwirtschaft oder intensivem Ackerbau gerodet, in Tälern, die in Stauseen verwandelt, in Reservaten, die durch Straßen und Häfen erschlossen werden könnten. Ihre Existenz ist ein Hindernis: sie gehören einer Entwicklungsstufe an, die doch längst überwunden sein sollte; ihr Überleben behindert allgemeinen Fortschritt. (...) und als solches behindern, ja bedrohen sie die weisse, die moderne Kultur."(12)
Lassen Sie mich zur Wortgeschichte zurückkehren. Das Substantiv Kultur geht auf das Verb colere, "bebauen, bewohnen, pflegen" zurück. Damit wird ein Tätigsein beschrieben, nicht ein Produkt. Wenn wir nach "bebauen, bewohnen, pflegen" fragen, wie würde die Antwort der Indios lauten? Welche Antworten würden wir geben, wenn es nicht um das Produkt, sondern um das Tun ginge? - Vielleicht würde "österreichische Kultur" nicht mehr an ihren Produkten messbar sein, an der rezepttreuen Wiedergabe von "Salzburger Nockerln" oder der werktreuen Wiederholung einer Symphonie von Mozart oder dem formvollendeten Handkuß des Herrn Hofrat? Vielleicht wäre Kultur nicht länger ein Ausdruck, sondern einfältiges Kochen, eigenmächtiges Musizieren, beliebiges Küssen. Das wäre zwar im besten Sinne des Wortes dilettantisch, aber es könnte am Tun erkannt werden ohne Rücksicht auf das Gemachte.
Gibt es eine Möglichkeit Kultur zu leben, die nicht national verstanden wird?
Ist Kultur denkbar, die trotz Nation in der Moderne existiert?
2. Eigenbezügliches Denken und Tun kultivieren
Seit gut zwanzig Jahren verstehen sich Kultur- und Gesellschaftswissenschaften auf die Kunst der Dekonstruktion der modernen Mythen. Die Mythen der Moderne standen als Gemachtes dem wissenschaftlichen Tun im Weg. "Gegen den Strom der Vereinheitlichung von Kultur im Substantiv" weiter zu denken, hieße für mich nicht nur die ständige Veränderlichkeit und Verformung des Gemachten zu dokumentieren. Vielmehr gilt es, über die dazugehörigen Orientierungen nachzudenken. Ist es nicht an der Zeit, eigenbezügliches Denken und Tun vom Nimbus der Rückständigkeit und der Fortschrittsparalyse zu befreien?
Ich schlage mich seit Jahren mit der Frage herum, was den Unterschied ausmacht zwischen Essen, das eigenbezüglich hergestellt wird, und den Produkten der Nahrungsmittelindustrie, vor deren Tatsächlichkeit das kulturell heterogene Tätigsein bei diesem lebensnotwendigen Vorgang zur industriellen Routineangelegenheit verkommt. Was hat Essenmachen mit Kultivieren zu tun? Alltägliches Essenmachen schafft keine Tatsachen, es ist nie endgültig erledigt, es löst sich nie von den Händen, die es machen. Essen lässt sich nicht als Produkt von Kultur erkennen. Schafft vielleicht gerade das eigenbezügliche Essen kulturelle Unterschiede, auf die es ankommt?
Der Begriff des In-Kultur-Nehmens, der in der Agrikultur und der Botanik verwendet wird, regt mich an, das Gedachte zu vertiefen, zu verwurzeln. Das In-Kultur-Nehmen bezeichnet in einem engeren Sinne das Vermehren von Saatgut und Pflanzen.(13) Seit tausenden Jahren kultivieren die Bäuerinnen und Bauern die Pflanzen des täglichen Gebrauchs. Neues entstand: Die Komposition der Pflanzen, ihre Eigenschaften, ihr Aussehen, ihre Finalität und viele andere Charakteristika mehr wurden von konkreten Menschen, indem sie Pflanzen "in Kultur nahmen" ständig neu geschaffen. Der Vorgang selbst ist erlernt und kann sich - der Definitionen für Kultur von Glifford Geertz(14) folgend - ebenfalls stets ändern. In-Kultur-Nehmen hält die Erinnerung in der Welt, dass Kultur dort entsteht, wo Menschen etwas tun.(15) Nichts dabei geschieht "natürlich" oder "zwangsläufig". Die je eigenen Orte, Umstände und Gegebenheiten lenken die Aufmerksamkeit und bestimmen das Kultivieren. Denn zu kultivieren meint, etwas zu tun und damit die ständige Veränderung der je eigenen Umstände.(16)
Den Begriff des In-Kultur-Nehmens in eine interdisziplinäre Auseinandersetzung über Theorie und Praxis der Kulturwissenschaften einzuführen, erscheint auf den ersten Blick zweifellos extravagant. Doch wenn Kultur nicht als statische Konstruktion wahrgenommen wird (die sich in identischen Räumen identisch entwickelt), trifft der Ausdruck des In-Kultur-Nehmens das Veränderliche der menschlichen Existenz und Koexistenz. Auch der Anspruch, dass Kultur zu allen Zeiten wieder neu verhandelt werden muss, gewinnt dort Konturen, wo Menschen in ihrer Eigenmächtigkeit wahrgenommen werden und wo sie in und mit der Gesellschaft tun und handeln.(17) Um das zu verdeutlichen, lässt sich auf die unverzichtbaren Ergebnisse der jahrzehntelang betrieben Bemühungen um Dekonstruktion in den Sozial- und Geisteswissenschaften zurückgreifen. Allerdings stehen die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen vor der Herausforderung, Kultur wieder mit dem Tun in Verbindung zu bringen. Die Verben wieder zu regenerieren und Kulturen in der wissenschaftlichen, künstlerischen, politischen und gesellschaftlichen Wahrnehmung zu "aktivieren" bietet eine Möglichkeit, das menschliche Tun in Kultur vom Nimbus der Rückständigkeit und von der Last der Fortschrittsparalyse zu befreien. Das wäre tatsächlich ein Schwimmen gegen den Strom der Vereinheitlichung von Kultur im Substantiv. Die Menschen könnten als Subjekte von Handlungen und mit ihren Wünschen wieder ins Rampenlicht rücken.
© Martina Kaller-Dietrich (Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Lutter, Christine/ Reisenleitner, Markus 1999: Cultural Studies. Eine Einführung. 2. Aufl. Wien.
(2) U.a. siehe Hall, Stuart 1996: When was 'e post-colonial' thinking at the limit? In: Ian Chambers, Lidia Curti (Eds): The post-colonial Question. Common Skies. Divided Horizons. London: 65-77.
(3) Gingrich, Andre 1999: Wege zur transkulturellen Analyse. Ein Essay über die Paradigmenwechsel euroamerikanischer Sozial- und Kulturanthropologie im 20. Jahrhundert. In: Helmut Grössing (Ed): Themen der Wissenschaftsgeschichte (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 23). Wien/ München: 83-107
(4) Abu-Lughod, Lila 1996: Gegen Kultur Schreiben. In: Ilse Lenz, Andrea Germer, Brigitte Hasenjürgen (Eds):Wechselnde Blicke. Frauenforschung in internationaler Perspektive. Opladen: 32.
(5) Duden, Barbara 1998: In Tuchfühlung bleiben. Anmerkungen zur poiesis in Soziologie und Historie. In: Werkstatt und Geschichte 19: 75-87.
(6) Vgl. u.a. Esteva, Gustavo 1995: Fiesta - jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik. Frankfurt a.M./ Wien
(7) Abu-Lughod 1996: 38.
(8) Appadurai, Arjun 1988: Putting hierarchy in its place. In: Cultural Anthropology 3: 36-49.
(9) "Agujetas, cantor de flamenco" (1996) Dokumentarfilm von Dominique Abel.
(10) Said, Edward 1994: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a. M.
(11) Achternbusch, Herbert 1982: Der Olympiasieger; Frankfurt a.M., 11.
(12) Krotz, Esteban 1993: Folklore, Assimilierung, Zivilisationskritik. Zu Lage und Aussichten der lateinamerikanischen Indiobevölkerung; in: Martina Kaller/ Stefanie Reinberg (Eds): 500 Jahre nach der Erfindung Amerikas; Zeitschrift für Lateinamerika. Sondernummer 44/45: 19-33, hier 19/20.
(13) Heistinger, Andrea 2001: Die Saat der Bäuerinnen. Saatkunst und Kulturpflanzen in Südtirol. Innsbruck.
(14) Geertz, Clifford 1991: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 2. Aufl. Frankfurt am Main: 44.
(15) Vgl. Illich, Ivan 1983: Genus - Zu einer historischen Kritik der Gleichheit. Reinbek bei Hamburg; Illich, Ivan 1991: Die Substantivierung des Lebens im 19. und 20. Jahrhundert - eine Herausforderung für das 21. Jahrhundert. In: Klaus Jark (Ed): Was macht den Menschen krank? 18 kritische Analysen. München: 225-234. Gronemeyer, Marianne 1988: Die Macht der Bedürfnisse. Reflexionen über ein Phantom. Reinbek bei Hamburg; Gronemeyer, Marianne 1996: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. 2. Aufl. Darmstadt. Kaller-Dietrich, Martina 2002: Macht über Mägen. Essen machen statt Knappheit verwalten. Haushalten in einem südmexikanischen Dorf. Wien
(16) Mittlerweile geschieht das Kultivieren immer öfters im Labor, in idealtypisch identischen Räumen. Die Orte und die Menschen, die an diesen Orten kultivieren, weil sie mit und in Gesellschaft leben, werden dabei vergessen. Unter Laborbedingungen, die in den Kulturwissenschaften aber niemals anzutreffen sind, hätte der Ausdruck In-Kultur-Nehmen allerdings keinen Sinn.
(17) Gracía Düttmann, Alexander 1997: Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung. Frankfurt a. M.
4.8. Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ?
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