Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

4.8. Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Fritz Peter Kirsch (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ?

Zu den Referaten und Diskussionen im Rahmen der Sektion 4.8. des INST-Kongresses "Das Verbindende der Kulturen" (November 2003)

Fritz Peter Kirsch (Wien)
[BIO]

 

Den Anstoß für die Entwicklung des Konzeptes, das zur Zusammenarbeit einer Gruppe von ForscherInnen verschiedener Disziplinen führte, lieferte das Thema eines großen Kongresses, dessen Aktualität und intellektuelle Anziehungskraft im Herbst des Jahres 2003 weit über tausend geistig Schaffende aus allen Kontinenten in Wien zusammenführte. Der Titel Das Verbindende der Kulturen schien die Verwirklichung des Traumes von der Überschreitung alter Trennlinien zwischen den Menschen anzukündigen und durch das gemeinsame Bemühen der KongressteilnehmerInnen geradezu vorwegzunehmen. Die Präsentation des Projekts auf der Kongress-Homepage hob hervor, welch eine verhängnisvolle Rolle Kulturen spielen, wenn sie auf dem Wege essentialistischer Affirmation Gräben zwischen menschlichen Gesellschaften aufreißen oder vertiefen. Hingegen wurde ihr Wirken positiv gewertet, wenn sie die "global cooperation" fördern. Im Sinne dieses Zusammenwachsens und Zusammenwirkens sollte der Kongress Zeichen setzen und Perspektiven eröffnen.

Ein solches Konzept weckte gewisse Bedenken, die sich zunächst als Sektionsvorschlag konkretisierten. Dabei ging es keineswegs darum, den Identitätskonstruktionen, die sich in den letzten beiden Jahrhunderten vielfach auf destruktive Weise in der internationalen Politik wie auch im kulturellen Leben der Menschheit manifestierten und noch in der Theorie vom Clash of civilisations nachwirken, das Wort zu reden. Im Gegenteil, das Ringen um Dialog und Verständigung, wie es heute z. B. ein Bassam Tibi im Widerspruch gegen einen Samuel Huntington betreibt, erschien angesichts all der Konflikte in einer sich verdüsternden Welt von heute mehr denn je angetan, Zukunftschancen zu eröffnen. Aber gerade angesichts dieses Ringens meldete sich der Gedanke an die Notwendigkeit einer Dosis konstruktiver Skepsis angesichts des transkulturellen Elans, wie er für das Kongressprojekt charakteristisch war. Angebracht erschien ein interdisziplinär gestütztes Nachdenken über die Ambivalenz des Verbindungen fördernden Prozesses und seine (vielleicht vermeidbaren) Schattenseiten. Motivierend wirkte der Wunsch, aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Sicht einen Beitrag zur Wahrung der Chancen, welche der Tendenz zum planetarischen Zusammenwachsens zweifellos innewohnen, durch Präsentation und Diskussion von Forschungsergebnissen zu leisten.

Sigmund Freuds Schrift über Das Unbehagen in der Kultur (1930) lieferte - mutatis mutandis - das Motto. Bedeutsam erschien namentlich der Gedanke der Triebkontrolle, der Kultur nicht nur als Gesamtheit schöpferischer Aktivitäten erscheinen lässt, sondern auch als Normensystem, das auch als Zwang empfunden werden kann. Denkanstöße kamen ferner von Denkern der Gegenwart wie Zygmunt Bauman, der das Prinzip des "anything goes" für einen neuartigen Weltschmerz verantwortlich machte, aber auch von Pierre Bourdieu und seiner Gruppe Raisons d'agir, die den Angriff der "amerikanischen" Technokratie auf die europäischen Sozialstaaten und damit das "Unbehagen in der neoliberalen Kultur" abwehren wollten. Schließlich konfrontierten Forschungsergebnisse aus den Bereichen der Soziolinguistik und der interkulturellen Literaturwissenschaft mit dem Faktum, dass die Entwicklung zur Einheit in sehr vielen Fällen gemäß der Pseudologik von Machtrelationen verläuft. Unsere Epoche ist nicht nur durch das Bemühen um ein besseres Kommunizieren und gegenseitiges Verstehen gekennzeichnet, sondern auch durch das Verschwinden von Sprachen ohne Dominanzpotential aus dem Gebrauch als "lebendige" Kommunikationsmittel und durch konfliktfördernde Auswirkungen kultureller Entfremdung. In den aktuellen Prozessen der kulturellen Konvergenz und Vereinheitlichung - sowohl im europäischen als auch im weltweiten Kontext - wirken Ethnozentrismen vielfach unterschwellig mit und bewirken, dass das Recht des Stärkeren, indem es sich den Anschein einer selbstverständlichen, gleichsam naturgesetzlichen Entwicklung gibt, die jeweils Schwächeren marginalisiert und inferiorisiert.

Die Einladung zum gemeinsamen Nachdenken über den oben skizzierten Problemkreis wurde von einigen UniversitätslehrerInnen aus Österreich und Deutschland angenommen. So kam eine Sektion zustande, deren Mitglieder - als Vertreter der Disziplinen Philosophie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Vergleichende Literaturwissenschaft und Romanistik - die Frage nach der Existenz eines Unbehagens im Zusammenhang mit transkulturellen Prozessen in der Welt von heute nicht nur bejahten sondern auch eine ganze Reihe von Gründen für dieses "malaise" anführten.

Der Beitrag von Franz Martin Wimmer liefert einen kulturgeschichtlichen Überblick im Zeichen der Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die seit jeher (der zeitliche Bogen, den der Autor spannt, reicht bis zum Beginn der Neuzeit zurück) dem Anderen "stillschweigend" den Stempel der Minderwertigkeit und Unterlegenheit aufdrückt. Bei der Suche nach Abhilfen und Auswegen für die Gegenwart erweist sich das Erbe des Kulturexklusivismus ("wir sind die Überlegenen") als ebenso unbrauchbar wie ein Egalitarismus, der Kulturen als in sich geschlossene Entitäten sieht. Auch das Komplementaritätsprinzip ("was können wir von den anderen lernen?") löst die Probleme nicht. Das Prinzip des Polylogs kann fruchtbar sein, wenn die Kulturtraditionen, deren Vertreter denselben führen sollen, soweit aktiviert oder reaktiviert werden, dass ihre der Verständigung und dem Frieden förderlichen Komponenten zum Einsatz gelangen können. Die Existenz von "menschenrechtsähnlichen" Elementen in nichtwestlichen Kulturen stellt in diesem Zusammenhang einen ermutigenden Faktor dar.

Auch Hans Schelkshorn setzt bei Renaissance und Humanismus an. Anders als Wimmer konzentriert er seine Darstellung jedoch auf den kulturhistorischen Sonderfall Europa. Als markanter Bezugspunkt dient das Werk von Pico della Mirandola, der den Menschen als den mit unersättlicher Kreativität begabten Schöpfer seines eigenen Wesens feiert und dieses Menschenbild mit der Vision eines entgrenzten Universums verbindet. An dieses frühneuzeitliche Konzept schließt, so der Autor, die Postmoderne an, indem sie sich über Sigmund Freuds modernistisch geprägte Begründung des Unbehagens in der Kultur durch die gesellschaftlich verordnete Disziplinierung des Sexual- und Aggressionstriebes hinwegsetzt und mit Zygmunt Bauman das Streben nach schrankenloser Freiheit und lustvoller Erfüllung zum Motor der kulturellen Entwicklung ernennt. Indem sie alle wirtschaftlich-technischen Fähigkeiten des Menschen entfesselt, verwirklicht die freie Marktwirtschaft in der Postmoderne das Renaissanceideal und pervertiert es zugleich - im Rahmen eines Makroexperiments, das die ganze Menschheit einbezieht und dessen Ausgang völlig ungewiss ist.

Diese neue Verunsicherung als Quelle eines weit verbreiteten Unbehagens manifestiert sich im Beitrag des Soziologen Jens Aderhold nicht zuletzt im Bereich der universitären Forschung. Das Bemühen der Sozial- und Kulturwissenschaften, die postindustrielle Gesellschaft zu beschreiben, stößt auf Probleme, die übersichtliche Erklärungsraster kaum noch möglich erscheinen lassen. Ein Mehr an Wissen verstärkt die Unberechenbarkeit der Entwicklungen, statt sie zu verringern; die Wissensgesellschaft erfährt sich in zunehmendem Maße als Risikogesellschaft. Die Öffentlichkeit reagiert auf die Verunsicherung im Bereich der Wissenschaft durch die Tendenz zur Reduktion komplexer Zusammenhänge. Genannt wurden monokontexturale Beschreibung, Akteurssemantik (bezogen auch auf kollektive Akteure, z. B. "Zivilisationen" bei Huntington), Quantifizierung der Wirklichkeit (z. B. Ranking von Universitäten) und Skandalisierung ("Terror der Ökonomie" u. dgl.). In solchen Zusammenhängen verliert Gesellschaftskritik an Schwungkraft, sowohl wenn sie sich auf etablierte Werte stützt als auch in ihrem Streben nach utopischen Idealen. Durch ihre relativistischen Grundtendenzen hat die kulturalistische Wende der Kritik gleichsam den Wind aus den Segeln genommen.

Einen interessanten Fall stellt aus der Sicht des Literaturwissenschafters Jost Schneider die psychische Globalisierung dar, die sich am planetarischen Erfolg von Unterhaltungsliteratur (wobei wohl auch an Fernsehserien zu denken ist) beobachten lässt. Die Gefahr einer Verwestlichung von Kulturen außerhalb des euro-amerikanischen Produktionsbereiches der Trivialliteratur erscheint geringer als jene, die als "Verwesentlichung" bezeichnet wurde. Damit ist die rein kommerziell motivierte Reduktion des literarischen Themenspektrums auf elementare Seelenkonflikte, die immer und überall Identifikation ermöglicht, gemeint. Der Trend könnte zu einer sentimentalen Menschheitstümelei gehen, die das Fremde nur insofern toleriert als es am Universalen des trivialen Einheitsbreis partizipiert. Damit werden Konflikte nicht abgebaut, sondern gefördert.

Martina Kaller-Dietrich ortet Unbehagen, das mit einem statischen Kulturbegriff zusammenhängt. Wenn der Gefahr identitärer Fixierung begegnet werden soll, so suggeriert der Beitrag, muss zu den Quellen der Kreativität, aus der Kultur entspringt, zurückgegangen werden. Diese Quellen werden im Bereich des eigenbezüglichen Denkens und Tuns geortet: "(...) der Anspruch, dass Kultur zu allen Zeiten wieder neu verhandelt werden muss, gewinnt dort Konturen, wo Menschen in ihrer Eigenmächtigkeit wahrgenommen werden und wo sie in und mit der Gesellschaft tun und handeln". Sicherlich ist es sinnvoll, daran zu erinnern, dass Kultur nicht von der Lebenspraxis gelöst werden darf und dass sie verfällt, wenn sie als Besitzstand und Instrument zur Durchsetzung politischer Strategien gebraucht und mißbraucht wird, aber auch wenn sie sich in einem Globalismus, der Ungleichheiten universalisiert, tendenziell auflöst. Damit erscheint es als vordringliche Aufgabe des Bildungswesens, vor allem der Universitäten, durch intensive Arbeit an der Erhellung der praxisnahen Aspekte von Kultur-Geschichten sowie an der kritischen Analyse von Erstarrungstendenzen eine neue (d. h. im Gegensatz zu den alten "Lumières" nicht ethnozentrische) Aufklärung einzuleiten.

© Fritz Peter Kirsch (Wien)

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Fritz Peter Kirsch (Wien): Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ? In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_08/kirsch15.htm

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