Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | November 2003 | |
4.8. Das Unbehagen in der Kultur
- ein verbindendes Element in der Welt von heute ? Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Fritz
Peter Kirsch (Wien)
[BIO]
Die Sektion hat die Frage nach der Existenz eines Unbehagens
im Zusammenhang mit transkulturellen Prozessen in der Welt von
heute nicht nur bejaht, sondern auch eine ganze Reihe von Gründen
für dieses "malaise" beleuchtet.
Die historischen Voraussetzungen verortete eines der Referate
in der europäischen Renaissance, die mit Pico della Mirandola
den Menschen als den mit unersättlicher Kreativität
begabten Schöpfer seines eigenen Wesens feiert und dieses
Menschenbild mit der Vision eines entgrenzten Universums verbindet.
An dieses frühneuzeitliche Konzept schließt die Postmoderne
an, indem sie sich über Sigmund Freuds modernistisch geprägte
Begründung des Unbehagens in der Kultur (durch die gesellschaftlich
verordnete Disziplinierung des Sexual- und Aggressionstriebes)
hinwegsetzt und mit Zygmunt Bauman das Streben nach schrankenloser
Freiheit und lustvoller Erfüllung zum Motor der kulturellen
Entwicklung ernennt. Indem sie alle wirtschaftlich-technischen
Fähigkeiten des Menschen entfesselt, verwirklicht die freie
Marktwirtschaft das Renaissanceideal und pervertiert es zugleich
- im Rahmen eines Makroexperiments, das die ganze Menschheit einbezieht
und dessen Ausgang völlig ungewiß ist.
Dieses neue Unbehagen wurde in mehreren Bereichen untersucht. Das Bemühen der Sozial- und Kulturwissenschaften, die postindustrielle Gesellschaft zu beschreiben, stößt auf Probleme, die übersichtliche Erklärungsraster kaum noch möglich erscheinen lassen. Ein Mehr an Wissen verstärkt die Unberechenbarkeit der Entwicklungen, statt sie zu verringern; die Wissensgesellschaft erfährt sich in zunehmendem Maße als Risikogesellschaft. Die Öffentlichkeit reagiert auf die Verunsicherung im Bereich der Wissenschaft durch die Tendenz zur Reduktion komplexer Zusammenhänge. Genannt wurden monokontextuale Beschreibung, Akteurssemantik (bezogen auch auf kollektive Akteure, z. B. "Zivilisationen" bei Huntington), Quantifizierung der Wirklichkeit (z. B. Ranking von Universitäten) und Skandalisierung ("Terror der Ökonomie" u. dgl.). In solchen Zusammenhängen verliert Gesellschaftskritik an Schwungkraft, sowohl wenn sie sich auf etablierte Werte stützt als auch in ihrem Streben nach utopischen Idealen. Durch ihre relativistischen Grundtendenzen hat die kulturalistische Wende der Kritik gleichsam den Wind aus den Segeln genommen.
Einen interessanten Fall stellt die psychische Globalisierung dar, die sich am planetarischen Erfolg von Unterhaltungsliteratur (wobei wohl auch an Fernsehserien zu denken ist) beobachten läßt. Die Gefahr einer Verwestlichung von Kulturen außerhalb des euro-amerikanischen Produktionsbereiches der Trivialliteratur erscheint geringer als eine rein kommerziell motivierte Reduktion des literarischen Themenspektrums auf elementare Seelenkonflikte, die immer und überall Identifikation ermöglichen ("Verwesentlichung"). Der Trend könnte zu einer sentimentalen Menschheitstümelei gehen, die das Fremde nur insofern toleriert als es sich in die triviale Thematik des im internationalen und interkontinentalen Raum propagierten Einheitsbreis der Unterhaltungsliteratur einfügen läßt. Damit werden Konflikte nicht abgebaut, sondern gefördert.
Unbehagen meldet sich sogar angesichts des scheinbar so heilsamen Paradigmas des Transkulturalismus, der viele vom 19. Jahrhundert überkommene Essentialismen als Illusionen oder Täuschungen entlarvt hat. In den aktuellen Prozessen der kulturellen Konvergenz und Vereinheitlichung - sowohl im europäischen als auch im weltweiten Kontext - wirken Ethnozentrismen vielfach unterschwellig mit und bewirken, daß das Recht des Stärkeren, indem es sich den Anschein einer selbstverständlichen, gleichsam naturgesetzlichen Entwicklung gibt, die jeweils Schwächeren marginalisiert und inferiorisiert. Von diesem Problem zeugt das Verschwinden einer großen Zahl von Sprachen verbunden mit kulturellen Entfremdungsprozessen. Dominanz erzeugt aber Resistenz: auch in diesem Fall scheinen neue Konflikte unvermeidlich zu sein.
Bei der Suche nach Abhilfen und Auswegen erweist sich das Erbe des Kulturexklusivismus ("wir sind die Überlegenen") als ebenso unbrauchbar wie ein Egalitarismus, der Kulturen als in sich geschlossene Entitäten sieht. Auch das Komplementaritätsprinzip ("was können wir von den anderen lernen ?") löst die Probleme nicht. Das Prinzip des Polylogs kann fruchtbar sein, wenn die Kulturtraditionen, deren Vertreter denselben führen sollen, soweit aktiviert oder reaktiviert werden, daß ihre der Verständigung und dem Frieden förderlichen Komponenten zum Einsatz gelangen können. Als Beispiel wurden die "menschenrechtsähnlichen" Elemente in nichtwestlichen Kulturen genannt.
Kultur verfällt, wenn sie als Besitzstand und Instrument zur Durchsetzung politischer Strategien gebraucht und mißbraucht wird, aber auch wenn sie sich in einem Globalismus, der Ungleichheiten universalisiert, tendenziell auflöst. Es erscheint als vordringliche Aufgabe des Bildungswesens, vor allem der Universitäten, durch intensive Arbeit an Kultur-Geschichten im Zeichen der Interkulturalität eine neue (d. h. im Gegensatz zu den alten "Lumières" nicht ethnozentrische) Aufklärung einzuleiten.
© Fritz Peter Kirsch (Wien)
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