Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Mai 2004 | |
5.1. Die Haltung zu dem "Seinen"
und zu dem "Fremden" als verbindender und trennender
Faktor der Kulturen Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
T.A. Andreewa / V.V. Bondarenko (Nationale Universität Donezk)
Das Problem der temporalen Reflexion zieht von alters her die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern auf sich. "Die subjektive Zeitwahrnehmung" wird von Vertretern verschiedener Wissenschaften jeweils unter anderem Aspekt gesehen. Ein bedeutender Beitrag zur Aufarbeitung dieses Problems wurde von Philosophen geleistet. Soanalysiert z.B. Edmund Husserl in seinem Werk "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" die grundlegenden philosophischen Thesen über die Wechelbeziehungen zwischen der Zeit und dem menschlichen Bewusstsein. Unter anderem äußert er die Idee, dass die Analyse des Problems der Zeitreflexion zum tieferen und vollständigen Verständnis der Bewusstseinstrukturen des Menschen beitrage.
Das Herangehen an dieses Problem durch einen anderen deutschen Denker - Thomas Mann - zeichnet sich durch dessen künstlerisch-bildliche Art und Weise der Darstellung aus. "Die subjektive Zeitwahrnehmung" wird in dem Falle gleichzeitig von einem begabten Schriftsteller beschrieben sowie von einem tiefsinnigen Philosophen erforscht.
Die Untersuchung von subjektiven Formen der Zeitwahrnehmung nimmt einen bedeutenden Platz in seinem Roman "Der Zauberberg" ein. Hier lässt sich das soziale Zeit-Raumfeld auf zwei Ebenen beobachten: "der Welt des Flachlands" mit ihren temporalen Mustern und "der Welt der Berge", des Gebirges unweit Davos, wo sich das Kurheim Berghoff befindet und wo ein besonderer Zeitlauf herrscht - "die Zeit von Berghoff". Der Denker demonstriert einen Zusammenhang zwischen den objektiven Zeiteigenschaften, zu denen Gleichmäßigkeit, Homogenität, Aufeinanderfolge gehören, und der Welt der menschlichen Psyche, den Verzerrungen des Bewusstseins in Extremsituationen.
Die zentrale handelnde Person des Romans - Hans Castorp - pflegt in der Zeit ein Wesen zu sehen, dem stabile Eigenschaften der Gleichmäßigkeit, Unendlichkeit, Eindimensionalität u.a. eigen sind [6, 71-78]. Doch im Berghoff stößt er auf das Phänomen, dass die Zeit ihr gewöhnliches Tempo verändert. Infolge der Umstände kann der Mensch die Anwesenheit von Zeit nicht mehr spüren. Das ist das Erste, was Castorp so sehr erschüttert und den Zweifel an der Homogenität der Zeit in ihm weckt. Beim Nachdenken über das Wesen der Zeit versucht der Autor die traditionellen Begriffe zu revidieren. Er spricht von der Zeit "unten" und der Zeit "oben".
Die Gedanken Castorps betreffs der Unhomogenität "der Berghoff-Zeit" sind im grossen und ganzen intuitiv richtig. Die von ihm registrierten temporalen ÄÄnderungen sind vom Wechsel der natürlichen Umgebung und dem dynamischen Stereotyp des Lebens der Hauptperson verursacht. Den Bewohnern des Kurheims ist es so, als ob der Zeitlauf sich verschlossen habe, d.h. dem alten zyklischen Zeitmodell ähnlich geworden ist. Der strenge Tagesablauf des Kurheims, Regelmäßigkeit und Ordnung in allem löschen die Grenzen zwischen Zeitabschnitten aus. Jeder Tag, der hier verbracht wird, gleicht wie ein Ei dem anderen. Auf solche Weise erwirbt die Zeit einen symmetrischen, räumlichen Charakter. Eintönigkeit des Lebens im Berghoff erzeugt Langeweile. Und diese ist bekanntlich die erste Verbündete und "Enthüllerin" der Zeit in dem Sinne, dass sie den Menschen zum Verspüren der Mächtigkeit der Zeit, ihres gemessenen, bedächtigen Laufs nötigt. Der andere Zug, der für "die Berghoff-Zeit" typisch ist, ist ihre "Zähflüssigkeit" (Dehnbarkeit): "Für jetzt genügt es, daß jedermann sich erinnert, wie rasch eine Reihe ... von Tagen vergeht, die man als Kranker im Bette verbringt: es ist immer derselbe Tag, der sich wiederholt; aber da er immer derselbe ist, so ist es im Grunde wenig korrekt, von Wiederholung zu sprechen ... Man bringt dir die Mittagssuppe, wie man sie dir gestern brachte und sie dir Morgen bringen wird; ... dir schwindelt, indes du die Suppe kommen siehst, die Zeitformen verschwimmen dir, rinnen ineinander, und was sich als wahre Form des Seins dir enthüllt, ist eine ausdehnungslose Gegenwart" [11, 263] .
Der Autor stellt absichtlich die Zeit im Kurheim zyklisch dar. Dieser Umstand führt uns direkt zur konzeptuellen, symbolischen Schicht des Romans. Berghoff ist als einer Art Falle vorgedacht, aus der man nur äußerst schwer herausfinden kann. Die Fälle der vollständigen Genesung der Patienten sind so selten, dass der Autor sie kaum erwähnt. Und jedes Mal, wenn von der Abreise eines Kranken gesprochen wird, bedeutet das nur, dass die Person nicht mehr am Leben ist. Der Mensch, der einmal hierher gerät, ist zu einem allzulange dauernden, wenn nichr ewigen Aufenthalt verurteilt.
Berghoff tritt als ein Prüfstein für den Geist auf. Der Mensch, bei dem der Geist aufgeweckt und zur Entwicklung bereit ist, kann ihn nicht mehr zum Schlafen zwingen. Dieser Mensch isr auch verurteilt, aber diesmal zum geistigen Wachsen, verurteilt, weil nach Thomas Mann schon der aufweckende Geist eine Krankheit sei.
Das Zeitmodell solcher Art ist vom Autor mit Absicht gewählt. Der Kreis gehört zu einer der reichsten symbolischen Gestalten. Einerseits verkörpert er die Verschlossenheit, Wiederholbarkeit, die in einem negativen Kontext wahrgenommen werden können - als Ausweglosigkeit, unendlicher Kreislauf des irdischen Lebens. So bleiben die Patienten Berghoffs in Sansara stecken. Mit dem Siegel einer unheilbaren Krankheit verlassen sie das Kurheim, müssen jedoch wieder hierher zurückkommen. Dabei sind nur wenige prädestiniert, in die Welt der "reinen Formen" Platos zu gelangen (vgl. die Dialektik von Form und Materie bei Aristoteles und die Lehre Platos von der Seelenreinkarnation) [1, 173-177; 3, 149-152]. Aber dieselbe Verschlossenheit kann auch einen positiven Sinn mit sich tragen, dessen Wesen die Einheitlichkeit, Vollendetheit, Unteilbarkeit sind, Eigenschaften, die die alten Griechen dem Begriff "Kosmos" als Verkörperung des göttlichen Absoluten zuteilten. Andererseits ist der Kreis ein Symbol der Ewigkeit und Unendlichkeit, wo es keine Grenzen und Einschränkungen gibt, wo nichts mehr den Geist in seinem freien Flug verbhindern kann (die altindische Lehre über Reinkarnation, die für das Mittelalter typische Idee des Kreises, in dem sich die Weltschöpfung mit dem Jüngsten Tag schließt) [7, 72-73]. Die Ähnlichkeit "des Berghoffs Chronos" mit dem "orientalischen" Zeitlauf zeigt den Einfluss des exogenen Faktors auf die Zeitgestaltung. Diese Verwandlung erweist sich als möglich ausschließlich dank der künstlich geschaffenen, für die abendländische Zivilisation untypischen Bedingungen, die das orientalische Lebenstereotyp mit seiner Gemessenheit imitiert, wenn die Zeit als wasserreicher Fluss fließt.
Es ist wohl bekannt, dass die subjektive Zeit zu der Art der Zeit gehört, die durch menschliches Bewusstsein verändert ist. Die Erkenntnistätigkeit des Menschen ist wesentlich von der Position des Subjekts der Erkenntnis bestimmt. Der Grad der Objektivität des Wissens und der gnoseologischen Gestalt ist dem Niveau der Aktivitaet des Individualbewusstseins proportional, denn "unter der überwiegenden subjektiven Kenntnissen fasst er auch einen von ihm selbst unabhängigen objektiven Inhalt" [4, 195-224]. In Abhängigkeit von dem Niveau es intellektuellen Vermögens kann der Mensch die Welt nicht nur mittels der Gefühle und Empfindungen, sondern auch der logisch bedingten Handlungen, oder, was in der Praxis viel öfter auftritt, mit Hilfe der Kombination von den beiden genannten Mitteln wahrnehmen. Auf der niedrigen - sinnlichen - Stufe der Erkenntnis ist die Subjektivität von der Eigenart des Nervensystems bedingt, während auf der logischen Stufe, unter der Bedingung, dass der Mensch die Subjektivität nicht bewusst zu überwinden und auf ein objektives Niveau des Wissens heraufzukommen versucht, ist die Subjektivität durch existierende logische und sprachliche Formen, die in der Gesellschaft verbreiteten Verurteile verschiedener Art erklärbar. Wenn man von subjektiven Formen der Zeitreflexion spricht, muss man betonen, dass der Grad ihrer Subjektivität, genau zu sagen, ihrer Entfernung von der objektiven Wirklichkeit wesentlich variieren kann. Die Kategorie der Zeit als solche darf auf keinen Fall als etwas "von alleine existierendes" betrachtet werden. Als Form des Seins der Materie ist die Zeit ontologisch an diese "gebunden" und bildet mit ihr eine dialektische Einheit [8, 541].
Daraus resultiert logisch die Notwendigkeit der Aussonderung aus der einheitlichen Kategorie der Zeit als "idealer, abstrakter Begriff" ihrer verschiedenen Aspekten. So kann man von der historisch-sozialen Zeit, der Zeit des individuellen Daseins, biologischer Zeit und schließlich von der subjektiven Zeit des menschlichen Bewusstseins sprechen. Da der Mensch das Lebewesen ist, das mit Bewusstsein ausgestattet ist, kann er sich der objektiven Wahrnehmung der Welt sowohl maximal annähern, als auch sich nicht weniger von dieser entfernen, demzufolge er in die Sphäre der sinnlich-logischen Operationen untertaucht. Dabei ist jedes subjektive Modell der temporalen Widerspiegelung auch dadurch interessant, dass es äußerst individuell und unwiederholbar ist. Die Forschung von subjektiven Modellen solcher Art bietet einen neuen Weg zur Erkenntnis des menschlichen Wesens an, denn die subjektiven Empfindungen der Zeit und ihre Reflexionen kennzeichnen sehr exakt den psychischen Zustand und das intellektuelle Vermögen des Individuums.
Verschiedene Gründe, die diese oder jene zeitlichen Verzerrungen verursachen, sind auf zwei grosse Gruppen aufzuteilen. Dabei ist das Hauptkriterium dieser Aufteilung der Faktor des inneren oder äußeren Einwirkung des Grundes auf das Bewusstsein des Individuums. So sollte man zu der Zahl der exogenen Faktoren die Besonderheiten des Klimas, gleichartige Landschaften, extreme Situationen, die die Bedingungen des psychischen Drucks schaffen, und andere objektive Gründe zählen. Als endogene Gründe treten hier die Besonderheiten der psychischen Disposition, reflektive Erlebnisse, der Faktor des Alters usw. hervor. Die inneren Gründe sind dabei zweirangig, abgeleitet von den äußeren Ursachen in dem Sinne, dass sie sich unter dem Einfluss von exogegen Faktoren (manche eine lange Zeitdauer) herausbilden, formiert werden. Deswegen können sie als vom letztgenannten Faktor erzeugt betrachtet werden.
Als Beispiel, das den Mechanismus des Einflusses des exogenen Faktors genauer illustriert, könnte man die Situationen der Einwirkung einer gleichartigen Landschaft auf temporal-lokative Empfindungen des Subjekts nennen. So will sich Hans Castorp für drei Wochen nach Davos begeben, um seinen Vetter Joachim Zimsen zu besuchen. Noch ehe er die "geheimnisvolle" Welt des Kurheims erreicht und bevor er die bezaubernde Luft Berghoffs einatmet, als er nur unterwegs zu dem von allen Bewohnern "des Flachlands" vergessenen Ort ist, beginnt Castorp schon merkwürdige Metamorphosen in seinem Bewusstsein spüren. Bis zur Reise fühlt sich der junge Mann aktiv und energisch. Er bereitet sich darauf vor, Praktikant auf einer Schiffbauwerft zu werden. Plötzlich empfindet er sich so, als wenn er in eine ihm früher unbekannte, ungewöhnliche Ruhe untertauche, die an Nirvana grenzt. Castorp verwandelt sich zusehends vom Geschäftsmann zum Wanderer und Träumer. Der Prozess der eintönigen Bewegung wirkt erstaunlichauf den Menschen ein. Anfänglich errregt ihn die Neuheit der Empfindungen, die als Folge der Störung der relativen Ruhe unumgänglich entsteht, in welcher sich der Mensch zuhause befindet. Wenn sich die Empfindungen der Neuheit und Veränderungen abschwächen, kommt das nächste Stadium - der Mensch beruhigt sich wieder, aber diesmal gewinnt die Ruhe neue Qualitäten, die sie von der früheren gewohnten Ruhe unterscheiden. Das ist eine kontemplative Ruhe, eine Art der Selbstvertiefung, so, als ob das Subjekt die Verbindung mit der realen Welt abbreche und in andere Sphären übergehe - weg vom Alltag mit seinen Sorgen, Interessen und Verpflichtungen. Dieser Zustand lässt sich sehr genau mit dem Wort "Trance" definieren und der Weg wirkt wie ein meditatives Präludium. Im Zustand einer "ungewöhnlichen Wirklichkeit" (Begriff von K. Kastaneda) erscheinen die natürlichsten und alltäglichsten Dinge in einer besonderen Perspektive. Das ist auch in Bezug auf die Reflexion der Zeit und des Raums anwendbar. Eintönige Landschaften im Fenster, relativ stabile Geschwindigkeit ihres Laufs und die gleichmäßige Bewegung selbst schwächen eine adäquate Wahrnehmung des jenseits des Fensters liegenden Raums ab (vgl. auch die räumlich-leibliche Orientierung bei Heidegger: "vor-der-Landschaft-stehen" und sein Gegenteil "in-dem-Naturraum-sein"). Die Konturen von Gegenständen verschmelzen allmählich zu einer Skala von Farbflecken. Die Welt hinter dem Fenster verliert ihre Räumlichkeit und wird zuerst zu einer Dekoration, dann verdichtet sie sich immer mehr und fängt schließlich an, als Zeit empfunden zu werden: das Flimmern von Gegenständen hinter dem Fenster erinnert an den Lauf der Zeit - Sekunden, Minuten, Stunden, die einander ebenso ähnlich sind, wie die Landschaften drüben. Hans Castorp gerät unter die Macht solcher Trance: "Der Raum, der sich drehend und fließend zwischen ihn und seine Pflanzstaette wälzt, bewährt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit vorbehalten glaubt; von Stunde zu Stunde stellt er innere Veränderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ähnlich sind, aber sie in gewisser Weise übertreten" [11, 8].
Der Begriff der Bewegung kann sowohl bezüglich des Raums (z.B. metaphysische Umstellung von Objekten) als auch in Bezug auf die Zeit betrachtet werden, wo sich die Bewegung in verschiedenartigen Veränderungen spiegelt, die den Prozess des Werdens, der Entwicklung begleiten. Auf diese Weise kennzeichnen sich sowohl die Zeit als auch der Raum durch die Bewegung, die verschiedenartiger Qualität ist. Im Falle einer eintönigen "räumlichen" Bewegung (in unserem Beispiel ist das die Reise Castorps nach Davos) geschieht im Bewusstsein des Subjekts das Auflegen eines zeitlichen Bewegungsmodells auf das "räumliche". Beide Modelle werden in der Situation einer gleichmäßigen, relativ kontinuierlichen Bewegung einander sehr ähnlich und von der menschlichen Wahrnehmung sind sie überhaupt schwer zu unterscheiden. Während einer ungleichmäßigen, diskreten Bewegung lassen sich solche Verwandlungen der Zeit nicht beobachten. Es ist höchst wahrscheinlich, dass gerade eine gleichmäßige und dauernde Bewegung, die das Bewusstsein durch ihre Monotonie ermüdet, beim Subjekt den Zustand einer Trances hervorruft, in welchem der Mensch die Dinge und Erscheinungen in einer ungewöhnlichen Perspektive wahrnimmt.
Jedoch nicht nur die Bewegung ändert unsere Zeit-Raum-Reflexion. Dazu können auch in bedeutendem Maße die Besonderheiten der Landschaft dienen. In einem Kapitel des Romans beschreibt Thomas Mann einen Spaziergangs der Seeküste entlang, versehen mit philosophischen Kommentaren. Er spricht von der Erscheinung der "Vermischung und Verwischung" der zeitlich-räumlichen Distanzen, die infolge des Einflusses von eintönigen Lautvibrationen und homogenen Landschaften entstehen: "Du gehst und gehst ... du wirst von solchem Gange niemals zu rechter Zeit nach Hause zurückkehren, denn du bist der Zeit und sie ist dir abhanden gekommen" [11, 772]. "Wir gehen, gehen, - wie lange schon? Wie weit? Das steht dahin. Nichts ändert sich bei unserem Schritt. Dort ist wie hier, vorhin wie jetzt und dann; in ungemessener Monotonie des Raums ertrinkt die Zeit. Bewegung von Punkt zu Punkt ist keine Bewegung mehr, wenn Einerleiheit regiert, und wo die Bewegung nicht mehr die Bewegung ist, ist keine Zeit" [11, 773].
Mann nennt als Beispiel philosophische Thesen von Denkern des Mittelalters, die das Wesen der Zeit aufzudecken versuchen. Die Zeit sei eine Illusion - glauben sie, da "ihr Ablauf in Ursächlichkeit und Folge nur das Ergebnis einer Vorrichtung unserer Sinne ist und das wahre Sein der Dinge ein stehendes Jetzt"[11, 773].
Ähnliche Metamorphosen geschehen mit dem Raum der Meerlandschaft. Die Empfindung der Ferne und Nähe vermischen sich so, dass an die Stelle der Dreidimensionalität der räumlichen Perspektive ihre flache Wahrnehmung kommt: "Nein sieh, dort in der schaumig graugrünen Weite, die sich in ungeheueren Verkürzungen zum Horizont verliert, dort steht ein Segel. Dort? Was ist das für ein Dort? Wie weit? Wie nah? Das weißt du nicht" [11, 772].
Was das "stehende Jetzt" angeht, das vom Autor erwähnt wird, so äußert Heidegger ausführlichen Thesen. Er betrachtet die Zeit vom anthropologischen Standpunkt. In diesem Zusammenhang erklärt er, dass die Gegenwart im Sinne der Anwesenheit dieses oder jenes Anwesenden sich wesentlich von der Gegenwart im Sinne "des Jetzt" unterscheidet. Laut seiner Konzeption bedeutet die Anwesenheit "ein ständiges den Menschen streifendes Dabeisein". Der Mensch erweist sich immer als jemand, der von der Anwesenheit dieses oder jenes Anwesenden ergriffen ist. Jedoch eben so oft wird er von der Abwesenheit (dem Fehlen von etwas) getroffen. Heidegger spricht von "Schon-nicht-Gegenwärtigem", das in seiner Abwesenheit auch unmittelbar dabei ist, nämlich auf die Art und Weise, wie uns das Erfüllte berührt; doch streift die Abwesenheit den Menschen auch noch in dem Sinne des "Noch-nicht-Gegenwärtigen", durch die Anwesenheit des auf uns Kommenden.
Daraus zieht Heidegger einen doppelten Schluss: erstens, nicht jede Anwesenheit sei unbedingt Gegenwart; zweitens, Anwesenheit verfüge über eine Ausdehnung. Die Grenzen zwischen den drei zeitlichen Modi - der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - verschmelzen faktisch. Es kann sein, dass sich eben hier die Enträtselung des geheimnisvollen Zustandes der "Zeitlosigkeit" verbirgt, der Castorp während seines Spaziergangs der Meeresküste entlang ergriff. Denn sein "Schon-nicht-Gegenwärtiges" schichtet sich infolge der Landschaftshomogenität erstaunlich exakt auf das eigentlich Gegenwärtige ("Jetzt") sowie auch auf "das Nicht-Gegenwärtige" auf, was die Illusion eines ständigen Daseins in der Gegenwart ohne Projektion in Vergangenheit oder Zukunft erzeugt. Die Zeitempfindung, die von Castorp an der Meeresküste erlebt wird, ist ein eigenartiges Äquivalent der Ewigkeit. Als er aus "der Bergwelt", wo er sich "in der Zeitlosigkeit" befunden hat, in "die Ebene" zurückkehrt, schließt er sich wieder der grausamen menschlichen Geschichte an und wird zu einem von ihren Teilnehmern.
So hat Thomas Mann die subjektiven Modelle der Zeitwahrnehmung psychologisch meisterhaft und philosophisch tief analysiert. Von ihm sind auch die exogenen und endogenen Determinanten der temporalen Reflexion veranschaulicht und philosophisch erfasst.
Typische Züge "der Berghoff-Zeit" sind Gemessenheit und Zähflüssigkeit, die von der Eintönigkeit und dem verlangsamten Lebenstempo des Kurheims bedingt sind. Das temporale Modell von Berghoff ist auf solche Weise dem orientalischen Zeitmodell nah, dem zugrunde ein ruhiger und gemessener Lebensstereotyp liegt. Aber da zeichnet sich auch ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden zeitlichen Strukturen ab. Die orientalische Zeit mit aller ihrer Langsamkeit ist von hohem Wert. Vom Standpunkt eines Europäers ist dagegen "die Berghoff-Zeit" vorgangsarm. Es wäre trotzdem fehlerhaft zu behaupten, dass die wertmäßige Komponente im zweiten Fall völlig fehlt. Für Hans Castorp ist Berghoff eine Erprobung, ein Symbol des geistigen Werdens. Im Wort "Berghoff" selbst ist ein tiefer philosophischer Sinn verborgen. Castorp, nachdem er eine geistige Initiation erfahren hat, beginnt einen langen Weg "zu den Gipfeln des Geistes".
Das, was "die Berghoff-Zeit in erster Linie der orientalischen Zeit ähnlich macht und damit die allgemeinmenschlichen Invarianten in den beiden temporalen Modellen bedingt, sind die natürlich-klimatischen, räumlichen Besonderheiten der Landschaft in der Nähe von Davos, sowie das spezifische Lebensstereotyp im Kurheim. Doch, wie gesagt, handelt es sich hier nur um die sogenannte Imitation der orientalischen Zeitstruktur, nicht um totale Gleichheit. Die ähnlichen Züge in den beiden temporalen Modellen stellen das Allgemeine in verschiedenen Mentalitäten, die Möglichkeit der Existenz von verschiedenartigen Marginalen kultureller Formen dar, was vom dialektischen Zusammenhang des Einzigen (Einmaligen) und Allgemeinen im Prozess der Funktionierens der Menschheit zeugt.
© T.A. Andreewa / V.V. Bondarenko (Nationale Universität Donezk)
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For quotation purposes:
T.A. Andreewa / V.V. Bondarenko (Nationale Universität Donezk):
Allgemeinmenschliche Invarianten der subjektiven Zeitwahrnehmung.
In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_01/bondarenko15.htm