Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Mai 2004
 

5.1. Die Haltung zu dem "Seinen" und zu dem "Fremden" als verbindender und trennender Faktor der Kulturen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Kopystyanska Nonna (Lviv, Ukraine)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Das gegenseitige Durchdringen der Kulturen: ein konstruktives Prinzip in Blaga Dimitrowas Roman "Urania"

Dora Koleva (Veliko Tarnovo, Bulgarien)

 

Blaga Dimitrowa gehört der Generation bulgarischer Künstler an, deren bewusster Persönlichkeitswerdegang und deren geistige Selbstbestimmung in der zweiten Hälfte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts begonnen hat. Über die fruchtbringenden Faktoren ihres künstlerischen Schaffens reflektierend, hebt die Schriftstellerin die Rolle dieser "Zeit des normalen Kulturkreislaufs, des Kulturaustausches mit dem Westen"(1) besonders hervor. Andererseits sind sie und ihre intellektuell veranlagten, im Geiste des europäischen Humanismus erzogenen und von Harmonie und geistiger Realisierung träumenden Zeitgenossen erschreckt über die Realitäten des Krieges. Ihr Welt-Erleben ist von nun an mit dem Bewusstsein über die mannigfaltigen und verschiedenartig geprägten Ereignisse des Jahrhunderts verbunden, mit dem Bewusstsein über die konträren Gesichter der Welt: die Welt der Kultur, der wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber auch die Welt der sozialen Erschütterungen, der Katastrophen und der Absurdität.

Die ausschlaggebende Bedeutung der Kriegserlebnisse kommt im Prozess des Reifens ihres Geistes für die Ganzheit des Lebens zum Vorschein. Durch die "Übersetzung" der sozialpolitischen Probleme in die Sphäre der Kultur protestiert sie gegen die Verbote und gegen die Einschränkungen, die der Persönlichkeit in der totalitären Gesellschaft aufgezwungen werden. Da sie sich die Philosophie des russischen Kosmismus zueigen gemacht hat, ist sie nicht nur um den Menschen im eigenen Lande besorgt, sondern um die ganze Menschheit, denn, wenn alles eine Einheit bilden sollte, hat der verhängnisvolle Stillstand auch für das Dasein der Welt seine Konsequenzen: "Ohne die Entwicklung der Noosphäre kann die Natur nicht erhalten und nicht reproduziert werden, der Planet kann nicht bestehen bleiben. Zur Realisierung dieser höchsten Mission der Menschheit erscheint der ununterbrochene, intensive Austausch von Ideen, von Wissen, von wissenschaftlichen Erkenntnissen unter allen denkenden Menschen ohne Grenzbarrieren und chinesische Mauern eine unabdingbare Bedingung."(2)

Die Idee der Resonanz und der All-Einheit, der einzig mögliche Rettungsweg, den die Schriftstellerin dem Menschen des 21. Jahrhunderts offen lässt, prägt ihr ganzes Schaffen. Wenn diese Idee aber im Roman "Urania" (1993) zu ihrem prägnantesten Ausdruck kommt, dann geschieht das, weil sie hier nicht nur ein Inhaltskern ist, sondern auch ein konstruktives Prinzip. Es geht dabei um ein Werk, in dem die Autorin den enzyklopädischen Charakter ihrer Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten der Kunst und der Wissenschaft aktiviert. Die Tendenz der Verbindung von sozialer Analyse mit der ganzen Palette der geistigen Interessen, welche Tendenz sich in den früheren Werken der Schriftstellerin bemerkbar macht (z. B. im Drama "Dr.Faustina" (Doktor Faustina) 1982, in den Romanen "Lawine" (Lavina) 1971, "Gesicht" (Lice) 1981), gipfelt hier in einem synkretischen Genre, welches Probleme in sich vereint, die in den Grenzbereichen der modernen Philosophie, Linguistik und Physik liegen, d.h. in den Grenzbereichen der Wissenschaften, die die Struktur der Welt und das antike Wissen um die Welt und um den Menschen betreffen. In der Tat stellt der Roman mit dem Nebeneinander von Realität und Phantastik, von Plato und Einstein, mit den Zitaten von Roland Barthes und Krischnamutri, mit der "Magie und Wissenschaft" (Levy Strauss), mit der einmaligen Synthese von wissenschaftlicher Denkweise und Volkssprache, mit der Verflechtung altertümlicher Texte und Jugendsprache ein Modell künstlerischer Realität dar, die das Kulturerbe der Menschheit rühmt.

Mit dem hohen intellektuellen Grad des Werkes korrespondieren die Besonderheiten des Sujets. Die wichtigsten steuernden Handlungslinien vermögen sich aber nicht in den Rahmen der alltags-empirischen Vorstellungen von einem Ereignis hineinzuzwängen; geheimnisumwoben nehmen sie den Status eines Providenzaktes an, Produkt von Kräften, die jetzt und hier wirken, die aber auch aus Urzeiten kommen oder außerirdischen Charakter haben, die Produkt des Persönlichen und des Kosmischen sind. Noch am Anfang des Romans bildet sich eines der führenden Relationspaare im Schaffen der Schriftstellerin heraus: das Relationspaar Gehör und Stimme. An der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Bewusst und Unbewusst, im Extremzustand des Geistes vernimmt Urania, die Heldin, deren zentrale Position im Roman durch den Titel unterstrichen wird, den Ruf der STIMME. Sie ist eine unerwartete und unerklärliche Erscheinung, sie steht außerhalb der Logik von Ursache und Folge, sie steht außerhalb des zugänglichen Sinns, ist aber selbst eine Quelle des Sinns, Abstoß-Stelle und Basis für die Weiterentfaltung der künstlerischen Struktur. Wie Sokrates in Platos Dialog "Phädon" den schicksalsbestimmenden, geflüsterten Worten des Traums gehorcht, nimmt auch Urania das Gebot der STIMME als Auftrag und Pflicht wahr. Sie erlebt die Berührung mit dem Geheimnis wie eine Verwandlung, die ihren Ausdruck in der Zugehörigkeit zu anderen Weltdimensionen findet. Die Einbeziehung des Schlangen-Mythos lässt Erwartungen hinsichtlich der Bindung der Heldin an uraltes mythologisches Bewusstsein aufkommen: "Meine alte Schlangenhaut ist überfahren worden! Es gibt kein Zurück mehr!" Der Tag, an dem sie sich dessen bewusst wird, dass sie "eine andere" geworden ist, ist "ihr Tag", der Anfang der Grenzüberschreitung der mechanisch gemessenen Zeit und ihrer Synchronisierung mit dem kosmischen Rhythmus. In diese Richtung geht auch die Symbolik der vergessenen Uhr - ein sich mehrfach wiederholendes Detail im Laufe der Handlung.

Uranias Erlebnis ist das große Ereignis, welches die Brücke zu den anderen Charakteren schlägt: das sind der Professor und sein Schüler Velizar. Das im Schlaf nur Angedeutete, das intuitiv Wahrgenommene soll dechiffriert, durchdacht werden, damit es sich in ein zielgerichtetes Verhalten verwandeln kann. Der Traum weist auf die notwendige Mitwirkung des Professors hin. So zeigt sich bereits im prophetischen Traum die Leitidee des Romans: die Synthese verschiedener Formen zum Zwecke geistiger Aneignung des Seins. Die geheimnisvolle intuitive Erkenntnis sucht nach einer Erklärung durch die Gedanken des Professors, aber auch der alles zu begreifen trachtende Verstand nimmt neue Maßstäbe und Tiefen bei der Berührung mit dem Geheimnis an. Eigentlich erscheint der Professor im Kampf um die Relation Intuition - Verstand nicht als Antipode zu Urania. Die Stimme führt sie zu ihm, damit die Resonanz realisiert wird. Auf die Worte Velizars "Er hat es mir ausdrücklich verboten, Fremde zu ihm zu bringen", antwortet sie überzeugt: "Ich bin keine Fremde! ... Wir werden schon eine gemeinsame Sprache finden."

Die Suche nach einer "gemeinsamen Sprache" stellt ein Schlüsselmotiv im Roman dar. Das Aufkommen dieses Motivs lässt ahnen, dass der Akzent der Erzählung nicht auf die Bewegung der Tatsachen, sondern auf das Zusammenwirken und auf die Entwicklung der Stimmen fallen wird. Eine andere Bestätigung der Erwartung, dass im Werk wenig im herkömmlichen Sinne geschehen wird, dass vielmehr Gespäche und Diskussionen geführt werden, erfolgt durch die "Platos Garten"-Metapher, bezogen auf das Haus des Professors. Sie zwingt zu einer Dechiffrierung und Wahrnehmung der Gestalt des Professors vor dem Hintergrund der Philosophie und der Schule Platos, seiner Akademie, die nur für Eingeweihte bestimmt ist. Dem Alltag entfremdet, nicht in die übliche Bewertungsskala hineinpassend, kommt Urania in den Garten, eine Welt des Bewusstseins und des Sinns, mit dem Selbstbewusstsein der Dazugehörigkeit.

Die Einbeziehung der Heldin in den Kreis der "Eingeweihten" bringt die Idee der Schriftstellerin von der harmonischen Einheit zwischen Wissenschaft und Literatur, zwischen Logik und geheimnisvoller Erleuchtung zum Ausdruck. Diese Idee prädestiniert die Koexistenz zwischen der wissenschaftlichen und der bildhaften Denkweise, zwischen den beiden "Sprachen", der wissenschaftlichen und der künstlerischen, im vollendeten einheitlichen Stil des Werks. In einer ähnlichen Position ist auch ein Hinweis auf Schelling und auf die Romantiker enthalten, die davon träumen, die Philosophie zur Kunst zu machen, zu einem freien Schaffen, welches seine Wahrheiten nicht nur auf Beweisen aufbaut, sondern auch auf der Intuition, auf den inneren Überzeugungen, auf den Gefühlen. Mit ihrer feinen Empfindsamkeit ist Urania das lebendige Beispiel dafür, dass im Leben ein Geheimnis existiert; in die Atmosphäre des Platonischen Gartens bringt sie einen ansteckenden, die anderen unterordnendnen Rhythmus hinein, sie setzt es durch, dass die Vorstellungen und die Worte der Vernunft selbst in eine andere Lebensbewegung geraten.

Die Analogie zu Plato ist eine andere Erscheinungsform der Idee von der All-Einigkeit und der Resonanz. Das gegenwärtige wissenschaftliche Denken verläuft parallel zu der antiken Denkweise, zum Geiste vergangener Epochen. Der Rückblick auf die Repräsentanten vergangener Kulturen bezweckt nicht ihre Reproduktion, sondern ihre Wiederbelebung in einer neuen Qualität. Nach der Konzeption der Schriftstellerin kann die Neuheit der modernen Kunst und des modernen Wissens durch das Erleben der Kunst und des Wissens aller Jahrhunderte und aller Nationen erreicht werden.

Das Vorbild Platos, der sein Leben der Wahrheit verschrieben hat, hat seinen Wert auch für die heutigen Wissenschaftler. Diese Interpretation kommt in der Frage nach der Polemik und besonders stark bei der Struktur der Dialoge in Platos Garten zum Vorschein. Sie stimmen mit der Auffassung des antiken Philosophen von der wirksamen Kraft des gesprochenen Wortes überein, welches Mittel der Selbstexpression und der Kommunikation, aber auch Mittel des Argumentierens und der Beweisführung sein kann. Das in Platos Garten Gesprochene scheint nicht ein Gespräch zu sein, sondern ein ununterbrochener Fluss der Gedanken, aus dem ein mächtiger intellektueller Strom wird, in dem in Eintracht oder in Zusammenprall verschiedene Urteile zusammenstoßen. Das Streben nach der Wahrheit schließt die Unbeweglichkeit der selbstzufriedenen Einmaligkeit aus; es setzt den Zweifel, die Quelle und den Stimulus geistiger Tätigkeit, voraus; es verlangt Toleranz dem individuellen Denken gegenüber. Die Schriftstellerin aktualisiert Platos Idee vom Streit als Weg zur Wahrheit und unterwirft das Problem des Streites einer Analyse unter den Aspekten: wird das Recht des anderen, anders zu denken, abgestritten; hören die Streitenden einander zu; nimmt durch die Intensivierung des Streits und der Unstimmigkeiten der Zusammenhalt zwischen den streitenden Parteien zu. Auf der Suche nach der Wahrheit, die anscheinend "umfangreicher, vielgestaltiger, mehrdimensionaler ist, als sie in unserem eingeschränktem Bewusstsein geschildert wird", braucht man die geistigen Impulse des Lehrers, aber auch des Schülers. Als der Professor sich und Velizar mit Plato und Aristoteles vergleicht, mit dem Lehrer und "seinem besten Schüler, der ihn von Grund auf verneint hat", bezieht er sich auf Aristoteles' Auffassung, dass "keiner imstande ist, die Wahrheit zu erreichen, er erlebt aber auch keine totale Niederlage, sondern jeder sagt etwas ... man fügt zwar selbst nichts zu der Wahrheit hinzu oder man fügt nur ganz wenig hinzu, häuft sich aber all dies an, dann entsteht eine bemerkenswerte Größe"(3).

Blaga Dimitrowa interpretiert Platos philosophische Tradition als eine der Stimmen in "der tausendjährigen Fuge des Menschheitsoratoriums". Ein Illustrationsbeispiel für das Bedürfnis unserer Gegenwart nach einem regen Dialog mit dem antiken Denker sieht sie in die Vorliebe der Theoretiker im Bereich der Physik, egal wo sie sich in der Welt befinden, ihre Vorlesungen mit Platos Dialog "Über die Republik" zu eröffnen. Der in den Roman eingeführte Höhlen-Mythos wird als eine Weltanschauungsmetapher gedeutet, die mit der gegenwärtigen Feldtheorie assoziiert wird.

In der Gestalt des Professors verkörpert Blaga Dimitrowa ihr Ideal vom Wissenschaftler: als eine starke und ausgeprägte Individualität mit weitem Horizont, aufgeschlossen für Denksysteme, die verschiedenen Epochen und verschiedenen Geistessphären entstammen. Er stellt eine Synthese von Eigenschaften Platos dar, so wie sie die Autorin hinter dem antiken, rein spekulativen Aufbau erkannt hat, er zeigt aber auch Eigenschaften, die ihn mit Einstein verwandt machen. Die Leitidee seiner Haltung zeigt Bezüge gerade zu jenem Textabschnitt aus dem Buch des genialen Physikers "Mein Bekenntnis", den die Autorin als Motto zitiert: "Das schönste und tiefgreifendste Erlebnis, welches ein Mensch auf dieser Welt haben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es steckt im Grunde aller tiefsten Tendenzen der Kunst, der Wissenschaft und der Religionen."

Die Idee vom Akademismus, der mit der intuitiven Erkenntnis gekoppelt ist, korrespondiert auch mit der Philosophie Karl Poppers. Laut diesem Philosophen durchlaufen die Theorien, bevor sie wissenschaftlichen Charakter annehmen, eine vorwissenschaftliche metaphysische Entwicklungsphase. Welche Position der zeitgenössische österreichische Philosoph in der Gedankenwelt Blaga Dimitrowas einnimmt, wird durch seine Präsenz im Text des Romans "Gesicht" illustriert, und das gerade im Zusammenhang mit seiner Auffassung von der Relativität und der Dialektik der Theorien, die immer hypothetisch, relativ sind, die den Charakter von Vermutungen haben und die existieren, um widerlegt zu werden.

In den Beziehungen zwischen dem Professor und Urania schildert Blaga Dimitrova ihre Vorstellung von einem harmonischen Bund zwischen den beiden Leitprinzipien: dem Prinzip des hochentwickelten Intellekts und dem Prinzip des feinen intuitiven Gefühls. In den intimen und geheimnisvollen Erlebnissen der begabten Persönlichkeit, in ihren einmaligen Fähigkeiten erkennt der Professor eine allgemeinmenschliche Bedeutung. Ihre Zugehörigkeit zur kosmischen Substanz bedeutet nicht Loslösen von der Erde, sondern ein verstärktes Bewusstsein für Verantwortung und Mission. Durch den Wissenschaftler ermutigt, spannt sie all ihre Kräfte an, um die Botschaft der STIMME aufzufangen, die nur durch sie die anderen Menschen erreichen kann.

Uranias Gestalt verkörpert Blaga Dimitrowas Interesse für das gesamte Bewusstsein der Menschheit, für die früheren Stadien und Formen dieses Bewusstseins, für den uralten Synkretismus des Mythos, der den Verstand und die Gefühle nicht zergliedert, sondern die Befähigung zur einheitlichen Wahrnehmung fördert. Die Schriftstellerin bewertet "die Unwissenheit in der Mythologie als Verrat am menschlichen Geschlecht", als Verrat an der aus der Vergangenheit herüberkommenden Botschaft, die dechiffriert werden muss, weil sie eine Wahrheit mit sich bringt, die für die Zukunft unentbehrlich ist. Indem sie die antike Redekunst in den Status einer ewigen und gegenwärtigen Kunst überführt, meint die Schriftstellerin auch den ihr eigenen Prophetismus, über den J. Lotman schreibt: "Wenn die schriftliche Kultur auf die Vergangenheit orientiert ist, dann ist die mündliche auf die Zukunft orientiert. Deshalb spielen in ihr das Wahrsagen, die Deutungen, die Prophezeiungen eine enorme Rolle."(4)

Dem Mythos gegenüber, als poetische Realität des antiken Bewusstseins verstanden, empfindet Blaga Dimitrowa auch eine rein ästhetische Zuneigung. Sie fühlt sich mit dem mythologischen Denken innerlich verbunden, welches Denken eine Angleichung der Pole, das Neben- und Miteinander verschiedenartiger Erscheinungen zulässig macht. Im Mythos sieht sie eine vorbildhafte Einheit von Poesie und Erkenntnis. Indem sie als moderne Künstlerin nach einer Synthese der sujethaften mit der mythologischen und der kosmischen Zeit, nach einem gegenseitigen Durchdringen von Wissenschaft, Philosophie und Poesie strebt, betrachtet sie sich nicht so sehr als eine experimentierfreudige Suchende, sondern vielmehr als jemand, der die aus der Antike herüberkommende Kulturstimme auffängt und sie auf eine neue Höhe bringt. Auf diese Weise demonstriert Blaga Dimitrowa die Idee einer gegenwärtigen Mythos-Schöpfung., was einer der sicheren Wege zum vertieften und vielseitigen Erleben des Seins ist.

Die Stimme, die Urania an der Grenze zwischen Traum und Realität hört, entstammt "dem Wasser und dem Licht", aber auch das Wort, das sie nach einem langandauernden In-sich-Hineinhorchen hervorbringt, der unartikulierte Laut "Au-au-jaaa", der von ganz weit kommt, gleichsam aus der Urquelle der Zeit, unter der Zungenwurzel hervor, "aus der Zeit vor dem Verstehen", hat in der Übersetzungsversion des Professors ebenfalls die Bedeutung "Wasser". Während der Professor darüber nachdenkt, "welche anderen Unerklärbarkeiten und Unerreichbarkeiten noch in diesem Grund-Mythologem stecken", gelangt er zur Auffassung vom Wort, welches denselben Bedeutungsumfang hat - es bedeutet gleichzeitig Begierde und Entgegenkommen, Appell und Resonanz. Er hat sich die Sprachen verlorengegangener Völker auf der Erde angeeignet und lässt sich von der Überzeugung leiten, dass das Wort die dauerhafteste Emanation des menschlichen Geistes darstellt. Die Erfahrungen, die mit den verschollenen Sprachen unwiederbringlich verloren gegangen sind, sind für die Menschen besonders notwendig, gerade "in diesem Umbruchsjahrhundert, gerade heute". Die Schlussfolgerung, dass "eine Sprache, die irgendwann existiert hat, viel mehr Information enthält als viele der heute existierenden Sprachen", die den Weg der Vereinfachung und der Kürzung gehen, erweckt Besorgnis um das allgemeinmenschliche Denken, das immer einheitlicher und ärmer wird. Die Achtung vor einer jeden Sprache ist Sorge um das allgemeine Wissen: "Jede Sprache ist ein anderer Blick zur Welt. Je mehr Gesichtspunkte, desto wichtiger und mehrdeutiger ist der Anschluss an die unerreichbare Wahrheit von der Welt." Ähnlich wie Einstein, der sich um eine einheitliche Formel vom Aufbau der Welt bemüht, träumt auch der Linguist von der Schaffung einer "gemeinsamen, einheitlichen Theorie des sprachlichen Feldes, wo sich die Kraftlinien der Kulturen überschneiden."

Das ständige Objekt der Gedanken und der Dialoge der Romanhelden, das Wort in seiner konkreten künstlerischen Realisierung, zeigt die Fähigkeit, seine gegenwärtige Botschaft durch die "Tonleitern der Zeiten", durch "die Musik der Epochen" zu "vertonen" und sich selbst in eine STIMME aus dem kolossalen jahrtausendjährigen Oratorium der Sprachen und Kulturen zu verwandeln.

© Dora Koleva (Veliko Tarnovo, Bulgarien)


ANMERKUNGEN

(1) Aus meinen Privatgesprächen mit Blaga Dimitrowa.

(2) vgl. Blaga Dimitrowa, Predizvikatelstva ("Herausforderungen"), Sofia 1991, S. 54.

(3) Aristoteles, Metafisika II1, 993 B 1-5.

(4)


5.1. Die Haltung zu dem "Seinen" und zu dem "Fremden" als verbindender und trennender Faktor der Kulturen

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For quotation purposes:
T.A. Andreewa / V.V. Bondarenko (Nationale Universität Donezk): Allgemeinmenschliche Invarianten der subjektiven Zeitwahrnehmung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_01/koleva15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 25.5.2004     INST