Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | August 2004 | |
5.3. I First Learned about
Russia from Dostoievski. Literature as an Imaginary Way of
Understanding Another Country Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Anette
Horn (Kapstadt)
[BIO]
Hume verwendet die empirische Methode, um universelle ethische Prinzipien zu finden. Diese lauten: Gerechtigkeit, Nützlichkeit und Wohlgefallen (das, was angenehm ist). Dies sind soziale Tugenden, die der Allgemeinheit nützen und deshalb als angenehm erscheinen, weil wir sie bewundern und als nachahmenswert empfinden. Hume geht dabei von den Gefühlen und Erfahrungen aus, um seine Ethik zu begründen, die bestimmte Taten billigt und andere tadelt, statt von einem rationalen System, wie die Rationalisten vor ihm. Er formuliert das wie folgt: "Gegenstand der Reflexion ist es dann nur noch, auf beiden Seiten die Umstände aufzudecken, die diesen Eigenschaften gemeinsam sind; jenes Besondere zu erkennen, worin die schätzenswerten Eigenschaften einerseits und die tadelnswerten andererseits übereinstimmen; und von da aus zu einer Grundlage der Ethik zu gelangen und jene universellen Prinzipien zu finden, von welchen letztlich jeder Tadel und jede Billigung hergeleitet wird."(1) Das heißt, daß der Vielfalt der subjektiven Eigenschaften gemeinsame, universelle Prinzipien zugrundeliegen. Diese müssen jedoch induktiv erschlossen werden, und dürfen nicht aus einem obersten, abstrakten Axiom abgeleitet werden. Bezeichnend ist jedoch, daß beide Methoden in ihrer Annahme universeller moralischer Prinzipien übereinstimmen. Es erhebt sich die Frage, ob die Rationalisten wie die Empiristen sich mit Wertsystemen in anderen Kulturen auseinandergesetzt haben, oder ob sie durch ihren Universalitätsanspruch nicht die Globalisierungstendenzen des Kolonialismus verschleiern halfen.
Die empirische Methode hängt aufs engste mit der experimentellen zusammen, die zugleich in den Naturwissenschaften angewandt wurde. Sie beruht auf der Beobachtung und dem Vergleich vieler einzelner Fälle unter denselben Umständen. Hume begründet die Anwendung dieser Methode auf die Moral, in der er mit Locke und Hartley voranging, indem er sie von der deduktiven Methode der Rationalisten abhebt und eindeutig Partei gegen sie ergreift. Die Ergebnisse der empirischen Methode mögen zwar nicht so geistreich und scharfsinning sein wie die der rationalistischen, doch sie halten der empirischen Überprüfung stand. Er beruft sich dabei auf die Naturphilosophie, die uns von abstrakten Systemen kuriert habe: "Und da dies eine Frage von Tatsachen, nicht von abstrakter Wissenschaft ist, können wir nur dann Erfolg erwarten, wenn wir der experimentellen Methode folgen und allgemeine Grundsätze aus dem Vergleich einzelner Fälle gewinnen. Die andere wissenschaftliche Methode, wonach man zuerst ein allgemeines, abstraktes Prinzip aufstellt, das sodann in eine Reihe von einzelnen Folgerungen und Schlüssen aufgegliedert wird, mag zwar an sich vollkommener sein, ist aber der Unvollkommenheit der menschlichen Natur weniger angepaßt und eine bekannte Quelle von Illusionen und Fehlern, sowohl bei diesem als auch bei anderen Themen. In der Naturphilosophie ist man nun von der Leidenschaft für Hypothesen und Systeme geheilt und will nur noch auf Argumente hören, die aus der Erfahrung gewonnen sind. Es ist hoch an der Zeit, daß bei allen moralischen Untersuchungen eine ähnliche Reform angestrebt wird und man jedes ethische System verwirft, das nicht auf Tatsachen und Beobachtung gegründet ist, mag es auch noch so scharfsinnig oder geistreich sein."(2)
Die Assoziationen, die durch die Erfahrung geweckt werden, spielen auch bei unseren ethischen Entscheidungen eine Rolle, da wir die Reaktion der Gemeinschaft richtig einschätzen können, und uns somit auf sie einstellen können: "Da es vornehmlich Erfahrung ist, die Ideenassoziationen schafft, ist es ausgeschlossen, daß eine Assoziation im direkten Widerspruch zu diesem Prinzip zustande kommen und sich durchsetzen kann."(3)
Hume geht in seiner Ethik von der Sympathie aus, d.h. von dem Gefühl des Mitleidens, das die Individuen einer Gesellschaft untereinander verbindet und sie dazu veranlaßt, diejenigen Handlungen zu vermeiden, die dem Anderen Leid und Schaden zufügen könnten. Das Motiv für diese moralische Einstellung wäre, daß das Individuum nicht der Willkür der Anderen ausgesetzt sein will, was zu einem Kampf Aller gegen Alle führen würde, wie er von Hobbes dargelegt wurde. Die Grundlage für Humes Ethik wäre somit der Egoismus des Einzelnen, der seine Existenz und sein Eigentum durch die Gesellschaft geschützt sehen will. Die Frage ist, ob das zu einer Gleichheit aller führen würde. Die Antwort, die Hume darauf gibt, lautet ´nein´, da er darin die Grundlage eines totalitären Systems erblickt. Stattdessen betrachtet er die ungleiche Verteilung des Wohlstands als durchaus verträglich mit einer demokratischen Ordnung, da sie das Eigentum jedes Einzelnen nach seiner sozialen Position anerkennt und somit soziale Beziehungen auf Grund von Sympathie überhaupt erst ermöglicht. Dagegen wäre einzuwenden, daß diese Ethik die gegebene soziale Ordnung als natürliche annimmt und eine soziale Veränderung, in dem der Reichtum gerechter verteilt würde, von vorn herein als totalitär ausschließt. Diese Ethik ist daher durch die Machtverhältnisse des aufkommenden Kapitalismus und Bürgertums bedingt.
An der Schnittstelle zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit manifestiert sich zum ersten Mal eine ähnliche Leidenschaft für die Erfahrung als das Existierende in den Texten der MystikerInnen, wie Michel de Certeau feststellt: "One last prefatory question: can we postulate, behind a document transmitted to us, the existence of a fixed referent (a fundamental experience or reality), the presence of which would be the test of a properly mystical text? All of these writings display a passion for what is, for the world as it ´exists,´ for the thing itself (das Ding)--in other words, a passion for what is its own authority and depends on no outside guarantee."(4) Exemplarisch äußert sich diese Leidenschaft für das Existierende in der Dichtung von Angelus Silesius: "Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet, Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet".(5) Es geht in der mystischen Erfahrung somit um die subjektive Kategorie der Selbstgenügsamkeit, die von einer Gruppe von MysterikerInnen jedoch als verbindlich empfunden wird. Das bedeutet, daß ein Minimum an Sympathie gegeben sein muß, damit mystische Texte überhaupt funktionieren und verstanden werden können.
Wenn man schon nicht die äußere Realität, die der mystischen Erfahrung entspräche, bestimmen kann, so kann man doch die formalen Aspekte des mystischen Diskurses, wie seinen Ort und seinen Stil, den de Certeau ein Wandern und ein Ausschweifen nennt, analysieren: "The issues immediately at hand are the formal aspects of the discourse and the tracing movement (the roaming, Wandern) of the writing: the first circumscribes a locus, and the second displays a ´style,´ a ´walk´ or gait, in Virgil´s sense when he says, ´her walk reveals the goddess.´" (de Certeau, 82) Dies ist die Gangart der Göttin, wie sie den Bereich des Christentums und damit auch den dogmatischen theologischen Diskurs verläßt. In diesem Prozeß hinterläßt sie auch alle Gewißheiten des kirchlichen Glaubens.
De Certeau schreibt, daß diese Richtlinien, die in den ´Vororten´ des Textes angenommen wurden, uns zeigen, wie man sich verirrt oder wie man verschwinden kann, ohne eine Spur zu hinterlassen, auch wenn es sich nur um den Verlust einer Form des Wissens handelt. Indem man dieser Spur folgt, könnte man durch das Geräusch, das in den Straßen widerhallt, in eine Stadt geführt werden, die sich in ein Meer verwandelt hat. Eine Literaturgattung hätte somit einen Teil dessen enthüllt, was sie konstruiert: die Macht einen Aufbruch herbeizuführen. (de Certeau, 83)
Dieser Aufbruch ist sozio-historisch bedingt. De Certeau weist darauf hin, daß während des 16. und 17. Jahrhunderts die MystikerInnen aus Regionen sozio-ökonomischen Abstiegs kamen, benachteiligt durch Veränderungen, durch den Fortschritt marginalisiert oder durch den Krieg zerstört. Die Erinnerung an vergangene Fülle überlebte unter diesen Bedingungen der Verarmung, aber da die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Verantwortung stark eingeschränkt waren, wurden ihre Ambitionen in die Freiräume der Utopie, des Traumes und Schreibens umgelenkt. (de Certeau, 84)
Ein Merkmal der mystischen Rede ist die merkwürdige Verbindung mit 'unreinem Blut'. De Certeau führt das auf die Position der MystikerInnen halbwegs zwischen zwei religiösen Traditionen zurück, die eine verdrängt und internalisiert, die andere öffentlich und durch den Erfolg belastet. Das erlaubte den Christen, die Initiatoren einer neuen Form des Diskurses zu werden, der von dogmatischer Redundanz befreit war. (de Certeau, 84f.) Diese Befreiung wäre der Rolle der jüdischen Intellektuellen im 19. Jahrhundert vergleichbar, die ebenfalls durch ihren Status zwischen den Kulturen, doch in der dominanten Sprache schreibend, die ihnen zugleich fremd und vertraut war, einen innovativen Einfluß auf die europäische Geistesgeschichte ausübten.
De Certeau analysiert die ambivalente Position der MystikerInnen in einer Gesellschaft, die auf einer Ideologie der Stabilität beruht. Innerhalb dieser Gesellschaftsordnung wird jede Veränderung des Status als bedrohlich angesehen, und ein Verlust an sozialem oder Familienstatus gilt als Degeneration. Ein solcher Abstieg ist eine offene Wunde in einer Gesellschaftsordnung, die als ein ständiger Kampf gegen eine Verschlechterung in Bezug auf die Familienherkunft betrachtet wird. Es stellt die Unfähigkeit dar, die Erbschaft gegen die Zeichen der Zeit zu schützen. Die Tradition verschwindet und verwandelt sich in eine vergangene Verbindung. Dies ist, was diese Gruppen, von der Gewißheit der Auslöschung heimgesucht, stärker als andere spürten. Im Extremfall schwankten sie zwischen Ekstase und Revolte--Mystizismus und Dissens. (de Certeau, 85)
Diese fundamentale Unsicherheit der MystikerInnen wurde weder durch Erwartungen einer zukünftigen Sicherheit noch eines vergangenen Besitzes (acquest) zerstreut. Die Gegenwart war die begrenzte Bühne, auf der das Drama ihres Untergangs ausagiert wurde, in Tatsachen (ein Gesetz) und die Möglichkeit eines neuen Anfangs (ein Glaube) eingeschrieben. Ihnen blieb nichts anderes übrig als das gegenwärtige Exil. (de Certeau, 85)
Dieses Nichts konnte jedoch ein neuer Ursprung sein, weil sie in einer radikalen Situation gefangen waren, auf die sie mit äußerstem Ernst reagierten. An ihren Texten läßt sich das daran ablesen, daß ihre innovativen Wahrheiten immer eine Beziehung zum Schmerz haben, aber noch expliziter in den sozialen Figuren, die ihren Diskurs dominieren--der Wahnsinnige, das Kind, der Analphabet. Die entsprechenden Figuren wären heute die Obdachlosen, Sozialrentner und Fremdarbeiter. (de Certeau, 86) Diese Sympathie für die Ohnmächtigen der Gesellschaft spiegelt ihre eigene Marginalisierung wider. Doch es geht auch um die Entdeckung eines anderen Wissens, das an den Rändern der dominanten Diskurse angesiedelt ist, denen immer auch eine Machtstruktur zugrundeliegt. Ein Wissen ohne Macht und Anspruch auf Wahrheit und das dennoch die Empirie auf seiner Seite hat.
Geburt und Tod bilden die beiden Pole der evangelischen Meditationen der MystikerInnen. Deshalb suchen sie auch die Ruinen auf, nicht aus einer Vorliebe für Dekadenz, sondern weil diese desorganisierten Orte für sie den Zustand des gegenwärtigen Christentums repräsentierten, wo sie eine Wiederholung einer grundlegenden Überraschung suchten. Allgemeiner gesagt, deutet ihre Solidarität mit dem kollektiven, historisch begründeten Leiden--das durch die Umstände gefordert wurde, doch auch als ein Wahrheitstest begehrt und gesucht wurde, den Ort der mystischen ´Agonie´ an, eine ´Wunde´, die untrennbar von dem sozialen Übel ist.
´Geistliche´ Gelehrte und Theologen suchten nun Zeugnis unter Menschen weit unter ihrem sozialen Rang--Bediensteten, Kuhhirten, Dorfbewohnern usw. Ob real oder fiktional erzählten diese Geschichten von Pilgerungen zu einer anderen Art der ´Erleuchtung´. Diese ´geistlichen´ Gelehrten, die zu den ´Barbaren´ konvertierten, artikulierten die Unzulänglichkeit ihres Wissens angesichts einer Krise im Referenzsystem. Ein Wissensgebiet nimmt Abschied von seinen textuellen ´Autoritäten´, um sich der Exegese ´wilder´ Stimmen zu widmen. Unzählige Biographien von armen ´Mädchen´oder ´aufgeklärten Analphabeten´ wurden produziert und stellen einen wichtigen Teil der geistlichen Literatur der Zeit dar. In diesen Schriften empfängt und erhält eine Tradition, die, gedemütigt, nachdem sie am Hof der Vernunft regiert hat, die Gewißheiten von Seiten des Anderen, die ihr entgingen. (de Certeau, 86f.)
Das Projekt, eine Ordnung aus der Kontingenz der Geschichte (das Problem der Staatsräson) und dem Versuch, in unserer irdischen, gefallenen Sprache das nun unvernehmbare Wort Gottes (das Problem des ´geistlichen´ Subjekts) auszumachen, ging gleichzeitig aus der Dissoziation der kosmischen Sprache und des heiligen Sprechers hervor. Überdies haben diese beiden Restaurationsprojekte Rekurs auf dieselbe ´kirchliche´ Erbschaft eines vereinheitlichenden Ganzen, obwohl sie sich fortan in spezialisierten Formen äußern: einerseits die Staatsräson, andererseits die ´Gemeinde der Heiligen´. Derselbe Traum der Totalisierung lag dem enzyklopädischen Wissen, philosophischen Neoplatonismus, der metaphysischen Dichtung, den städtischen Utopien usw. zugrunde. In jedem dieser Fälle war sie auf eine bestimmte Sphäre beschränkt. (de Certeau, 87)
Die MystikerInnen reagierten somit auf den Wunsch, ´alles auf Eines zu reduzieren´; dieses Begehren lag ihren ´experimentellen´ Untersuchungen auch lange nach dem Nachlassen des Neoplatonismus zugrunde. Vielleicht noch mehr als in anderen Wissenschaften, sieht sich die ´Wissenschaft der Heiligen´ mit der Notwendigkeit konfrontiert, einen zentralen Widerspruch aufzulösen: zwischen der Besonderheit des Ortes, den sie umschreibt (das Subjekt) und der Universalität, die sie anstrebt (das Absolute). Vielleicht ist sie gerade durch diese Spannung geprägt, die sich in dem Gegensatz zwischen Allem und Nichts entspinnt, oder in dem Zwischen (welches nur das Besondere gelten läßt). Dies überdauert nicht die großen zusammenfassenden Projekte, deren letzter philosophischer Repräsentant die mathesis universalis und das ökumenische Werk von Leibniz ist--bis es außerhalb der Religion, in der deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts mit Hölderlin and Hegel wiederkehrt. Es ist die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, nachdem die Sprache zersplittert ist. Es ist die Erfindung einer ´Sprache der Engel´, da sich diejenige des Menschen verflüchtigt hat.
Die Dyade Sprechen-Hören umschreibt den besonderen Ort, an dem sich das Projekt der ´Heiligen´ entfaltet. Wie kann man hören, durch Zeichen, die sich in Dinge verwandelt haben, was aus einem göttlichen Willen zu sprechen hervorgeht? Wie kann dieses Begehren auf der Suche nach einem Du die Sprache durchqueren, die die Sprache verrät, indem sie dem Adressaten eine andere Botschaft schickt, oder indem sie die Aussage einer Idee mit der Äußerung eines ´Ichs´ ersetzt? (de Certeau, 88) Das führt zu dem Versuch, eine Sprache zu erfinden, die das Innen mit dem Außen verbindet. Das impliziert einen Akt der Imagination, der zu der Produktion neuer Metaphern führt, da die alten abgenutzt sind.
Diese Spannung zwischen dem Besonderen der subjektiven, empirischen Erfahrung und dem Universalen eines ´objektiven´ Wissenssystems äußert sich wieder an der Schwelle des 18. Jahrhunderts. Die Erfahrung des Subjekts in seiner Einzigartigkeit, aber auch in seiner Spaltung in ein Bewußtes und Unbewußtes in der Romantik unterläuft den Universalitätsanspruch der Aufklärung, die noch einmal einen Versuch darstellte, vom Standpunkt der Vernunft ein totalisierendes System zu schaffen, auch wenn sie immer wieder an der Vielfalt der empirischen ´Tatsachen´ scheiterte. Das führte dazu, daß sie bestimmte Aspekte der empirischen Wirklichkeit ausklammerte, wie Kant das zum Beispiel in Bezug auf das Leib-Seele-Verhältnis tat. Er dekretierte, daß es sich nicht lohne, darüber nachzudenken, da sich nichts darüber sagen ließ. Damit schuf er wiederum ein philosophisches System, das zwar in sich stimmig war, aber an der Empirie nicht überprüfbar war.
Diesen Widerspruch versucht Jean Paul durch die Metapher zu überbrücken, die eine imaginative Verbindung zwischen dem Innen und Außen herstellt. Das setzt voraus, daß wir uns des metaphorischen Charakters unseres Denkens und Handelns wieder bewußt werden, da jede Situation, in die wir eingebunden sind, auch eine sprachliche Relation darstellt, die metaphorisch artikuliert wird. Somit sind wir durch die Metaphern, die wir verwenden, in unserem Handeln bestimmt. Die Disjunktion zwischen uns und unserer Umwelt macht uns oft erst auf diesen Zusammenhang aufmerksam und erfordert eine Denkweise, die andere metaphorische Relationen und Situationen schafft. Jean Paul macht dieses Verhältnis am Beispiel der Freundschaft deutlich, das sich vom gesellschaftlichen Vertrag unterscheidet, das die ´normalen´ zwischenmenschlichen Beziehungen strukturiert, die auf den Eigennutz bedacht sind. Die Freundschaft wäre somit die der Mystik entsprechende Erfahrung der Romantik. Sie geht von dem intensiven Wunsch nach dem Anderen des Ichs aus, ohne daß es dadurch zu einer neuen Einheit käme. Es geht eher um die elliptische Bewegung um zwei Brennpunkte, in der die Einzigartigkeit des Anderen anerkannt wird, ohne getilgt zu werden: "Nur ein Mensch, der nach einem Freunde gerade so wie nach einer Freundin schmachtet, verdienet beide. Aber es gibt Menschen, die aus der Erde gehen, ohne je darüber betrübt oder besorgt gewesen zu sein, daß sie niemand darin geliebt hatte. Derjenige, der nach dem Kommerzientraktat des Eigennutzes, nach dem gesellschaftlichen Vertrag der Höflichkeit, sogar nach dem Grenz- und Tauschvertrag der Liebe nichts Höheres kennt, ein solcher - ich wollt' aber, er hätte mich gar nicht vom Verleger verschrieben -, dessen fahles Herz nichts weiß von der Brüderunität befreundeter Menschen, vom Ineinanderverzweigen ihrer edlern Gefäße und von ihrer Eidgenossenschaft in Streit und Schmerz - - ich seh' aber nicht, weswegen ich von diesem Tropfe so lange rede, da er nicht einmal in Flamins Sehnen sich hineinzufühlen weiß, der ein liebendes, achtendes Auge begehrte, weil seine Fehler und seine Tugenden in gleichem Maße abstießen; denn bei andern Menschen machen wenigstens entweder die Flecken die Strahlen gut, oder die Strahlen die Flecken. - -"(6)
Dieses Lob der Freundschaft ist in eine rauschhafte Naturbeschreibung eingebettet, die die gleiche aufwärtssteigende Linie wie die Sehnsucht nach dem Anderen vollzieht. Jean Paul wählt dafür den Frühlingsanfang, der mit einem Nebelschleier beginnt, der sich später lichtet, um den Geist der Freundschaft zu verkörpern, der sich in einem kosmischen Gefühl äußert, das jedoch die dunklen Seiten des Lebens nicht ausspart. Die geistige Klarheit wird nur als blaue Mündung über den 'schmutzigen' Nebelschwaden angedeutet: "Der erste Mai fing sich, wie der Mensch und seine Weltgeschichte, mit einem Nebel an. Der Frühling, der Raffael der Norderde, stand schon draußen und überdeckte alle Gemächer unsers Vatikans mit seinen Gemälden. Ich hab' einen Nebel lieb, sobald er wie ein Schleier vom Angesicht eines schönen Tages abgleitet, und sobald ihn größere als die vier Fakultäten machen. Wenn er (der am 1. Mai war so) wie ein Zugnetz Gipfel und Bäche überflicht - wenn die herabgedrückten Wolken auf unsern Auen und durch nasse Stauden kriechen - wenn er auf der einen Weltgegend den Himmel mit einem Pech-Brodem besudelt und den Wald mit einer unreinen schweren Nebelbank bestreift, indes er auf der andern, abgewischt vom nassen Saphir des Himmels, in Tropfen verkleinert, die Blumen erleuchtet; und wenn dieser blaue Glanz und jene schmutzige Nacht nahe aneinander vorüberziehen und die Plätze tauschen: wem ist alsdann nicht, als säh' er Länder und Völker vor sich liegen, auf denen giftige und stinkende Nebel in Gruppen herumziehen, die bald kommen, bald gehen? - Und wenn ferner diese weiße Nacht mein schwermütiges Auge mit dahinfliegenden Dunstströmen, mit irrenden zitternden Duftstäubchen umzingelt: so erblick' ich trübe in dem Dunst das Menschenleben abgefärbt, mit seinen zwei großen Wolken an unserm Auf- und Untergange, mit seinem scheinbar lichten Raume um uns, mit seiner blauen Mündung über uns...."(7)
Der mystische Diskurs hinterläßt somit seine Spuren sowohl in der empirischen Ethik Humes, die von der Sympathie ausgeht, als auch in dem Freundschaftskult der Romantik. Während der mystische Diskurs aber noch von einer wenn auch noch so fragwürdigen Existenz Gottes spricht, ist das Geistige in der empiristischen Ethik und in der Romantik im Zwischenmenschlichen angesiedelt, bei Hume in der Gesellschaft, bei Jean Paul in der Freundschaft. Allen drei Diskursen ist jedoch die Betonung der Einbildungskraft und des Einfühlungsvermögens gemeinsam, das sich besonders in der Sympathie für die sozial Marginalisierten ausdrückt, in denen sich ein anderes, nicht-autorisiertes Wissen offenbart, welches den Begriff des christlich-theologischen sowie des aufgeklärten Humanismus in Frage und herausfordert. Diese andere Humanität, die auf der Anerkennung des Anderen als das von dem Ich Ausgeschlossene beruht, fordert die Imagination heraus, eine neue Relation zwischen dem Ich und dem Anderen herzustellen. Es geht um die Differenz im Herzen der Repräsentation, die nur durch die metaphorische Rede überbrückt, aber nicht aufgehoben werden kann.
© Anette Horn (Kapstadt)
ANMERKUNGEN
(1) David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1984, 1996, S. 93.
(2) David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1984, 1996, S. 93.
(3) David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, S. 139.
(4) Michel de Certeau, ´Mystic Speech´. In: Ders., Heterologies. Discourse on the Other. Translated by Brian Massumi. University of Minnesota 1986 (Manchester University Press), S. 81.
(5) Zit. nach Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher. München: Wilhelm Fink Verlag 1986, S. 258.
(6) Jean Paul: Hesperus, S. 40. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 98534 (vgl. Jean Paul-W, 1. Abt. Bd. 1, S. 499)
(7) Jean Paul: Hesperus, S. 41. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 98535 (vgl. Jean Paul-W, 1. Abt. Bd. 1, S. 499-500)
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