Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Mai 2004
 

5.9. Austrian Writers and the Unifying Aspects of Cultures
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Donald G. Daviau (Riverside)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Zur Kontinuität des kulturellen Erbes. Inge Merkels Penelope. Ein antikes Frauenschicksal gesehen aus moderner Sicht

Gerlinde Ulm Sanford (Syracuse Universität, New York)
[BIO]

 

Inge Merkel ist eine moderne österreichische Schriftstellerin, die in ihrem zuerst 1987 erschienenen Roman Odysseus und Penelope. Eine ganz gewöhnliche Ehe abermals den aus der Ilias und Odyssee vertrauten Stoff über den listenreichen Odysseus und die Langmut und Treue seiner Gattin Penelope behandelt.

Merkel ist eine moderne Schriftstellerin, als belesene Altphilologin jedoch verzerrt sie die uns aus der Antike überlieferten Elemente dieses Stoffes in keiner Weise. Sie hält sich im Gegenteil ziemlich streng und exakt an die Gegebenheiten, welche man in Homers Ilias und Odyssee, so wie auch bei Apollodorus, Hyginus, Ovid, Pausanias, Sophocles und Vergil zu dem Thema 'Odysseus und Penelope' finden kann. Das Thema aber wird von Inge Merkel so modern beleuchtet, daß wir uns in vielen Punkten mit Odysseus und Penelope identifizieren können und also deren Gefühle und Haltungen nachempfinden können.

Inge Merkels Roman Odysseus und Penelope. Eine ganz gewöhnliche Ehe(1) zeigt, wie Penelope sich in einer von Männern bestimmten Gesellschaft Anerkennung verschafft: Sie ist zuvorkommend, intelligent, sie besitzt großen Einfallsreichtum an Listen, die genau so durchtrieben sind wie die des Odysseus selbst. Inge Merkel setzt sich in diesem Roman ein für die Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen, aber nicht mit Bitterkeit und Fanatismus, sondern sie zeigt mit Humor, daß eine Frau sich nur durchsetzen kann, wenn Liebe und Intelligenz unterstützt werden durch Raffinesse und Durchtriebenheit.

Homer's Ilias und auch die Odyssee wurden von zahlreichen Schriftstellern neu interpretiert, adaptiert und neu erzählt. Aus der österreichischen Literatur unserer Zeit sei Michael Köhlmeiers Roman Telemach erwähnt. Er erzählt darin einen guten Teil der Ilias und Odyssee und speziell die Geschichte von Odysseus' und Penelopes Sohn Telemach. Köhlmeier aber versetzt die Handlung in unsere Jetztzeit, was stellenweise sehr amüsant wirkt und auch die Relevanz der Handlung sehr offensichtlich macht, doch manchmal wirkt diese Transposition auch ungeschickt und gezwungen. Inge Merkel kommt ohne modernes Zubehör aus. Sie bewahrt die antike Szenerie, beschreibt sie jedoch lebhaft und mit realistischen Details. Immer wieder stellt sie Überlegungen an zu Penelopes Gefühlen, zu Penelopes Standpunkt und beschreibt die Listen, welche Penelope erfinden muß, um sich in einer von Männern dominierten Welt durchzusetzen. Merkel beschreibt vor allem auch Penelopes Schmerz und ihre Verzweiflung über die nicht endenwollende Trennung von Odysseus. Sie schreibt von Großherzigkeit und Toleranz, von Mitleid und von der heilsamen Wirkung des Lachens.

In Köhlmeier's Telemach lesen wir etliche detaillierte Schlachtbeschreibungen und auch ausführlichste Darstellungen von abscheulichen Beispielen menschlicher Grausamkeit. Köhlmeier schockiert seine Leser mit blutrünstigen Erzählungen, speziell mit denen von Nestor und Menelaos. Bei Merkel dagegen sind sowohl die Intrigen der Götter als auch die Beschreibungen von Schlachten der griechischen Vorlage mehr oder weniger in den Hintergrund gerückt. Das Ziel beider Schriftsteller aber ist das gleiche: Merkel und auch Köhlmeier werben für Friedlichkeit, Humanität, Mitleid und eine Reihe von anderen eher sanften menschlichen Werten.

Ich fange mit dem Untertitel des Romans an: 'Eine ganz gewöhnliche Ehe'. Schon er verweist darauf, wie sehr das von Merkel Behandelte ein kulturverbindendes Thema ist: Eine ganz gewöhnliche Ehe, so wie heute, so wie zu jeder Zeit, so wie überall. Die interessante Zweideutigkeit des Titels ist offensichtlich. Bedeutet das: 'eine ganz gewöhnliche, also normale, eine ganz alltägliche Ehe'? Oder bedeutet das 'eine ganz gewöhnliche, also gemeine, vulgäre Ehe'? Ich neige stark dazu, eher das Erstere anzunehmen, doch lassen sich wohl auch Elemente in dem Roman finden, welche auf die zweite Bedeutung hinweisen; darauf nämlich, daß keine Ehe eine nur ideale Gemeinschaft sein kann, sondern daß jede Ehe auf Grund der Anforderungen des Alltags und der Schwächen der beteiligten Individuen auch triviale Aspekte entwickelt.

Auch wäre die Frage zu stellen: Ist das, was in der Antike als gewöhnliche Ehe galt, auch heute noch eine gewöhnliche Ehe? Noch komplexer wird die Sache, wenn man genauer untersucht, was in der Antike eine 'gewöhnliche' Ehe war. War denn die Ehe von Odysseus und Penelope im Sinne der Antike wirklich eine gewöhnliche Ehe?

Die Rechte der Ehefrau waren in der Antike noch wesentlich beschränkter als in der heutigen Zeit. Ich meine hier nicht die alte Zeit, in der noch das Matriarchat herrschte. Ich meine auch nicht die Zeit der Geschwisterehe, auch nicht Polyandrie oder Polygamie, so wie sie etwa noch in den Verhältnissen der griechischen Götter reflektiert werden. Z. B. waren Zeus und seine Gattin Hera bekanntlich Geschwister. Oder in Bezug auf Polygamie könnte man an die zahlreichen Beziehungen des Zeus zu verschiedensten weiblichen (oder auch männlichen) Wesen denken. Der hier gestellte Vergleich betrifft lediglich die Einehe, so wie Homer diese darstellt. Bei den Ehen in der Ilias und Odyssee hat der Mann zwar nur eine Frau, hat aber daneben meist einige Nebenfrauen. So war die Gemahlin Agamemnons Klytämnestra, unter den bekannten Nebenfrauen aber seien Briseis und Kassandra genannt. Auch noch in historischer Zeit hat der griechische Mann wesentlich mehr Freiheiten als die Frau. Die Frau ist in erster Linie die Mutter seiner Kinder, für sexuelle Vergnügungen hat er Sklavinnen, für intellektuelle Gespräche die berühmten Hetären, deren berühmteste wohl Aspasia ist. Die Ehe zwischen Odysseus und Penelope ist auch aus antiker Sicht gesehen vielleicht keine so ganz gewöhnliche Ehe, wenn man an die zwanzigjährige Trennung denkt, aber die Beziehungen des Odysseus zu anderen Frauen liegen durchaus im Bereich des Gewöhnlichen. Die Ehe Klytemnästras und Agamemmnons dagegen darf als ungewöhnlich gelten, erstens weil beide Partner, also nicht nur der männliche, die Einehe brechen; besonders aber weil es weder jetzt noch früher als normal gelten kann, wenn eine Frau ihren Mann umbringt, und noch dazu auf so ausgesucht grausame Weise.

Annehmend daß in der Antike und wohl ebenso noch heute - wenn auch nur knapp - die Mehrzahl der Ehen Bestand hat und die geringere Anzahl der Ehen geschieden wird - wobei freilich Letzteres in unserer Zeit je nach Land sehr verschieden sein kann oder auch unter Umständen gar nicht mehr zutrifft - dies annehmend hat der Ausdruck 'eine gewöhnliche Ehe' im Sinne Merkels dann wohl auch noch die Bedeutung: 'eine Ehe, die dauert, die intakt bleibt, so wie dies meistens der Fall ist'. Inge Merkel zeigt uns nun, wie eine solche Ehe aussieht, was die Realitäten dahinter sind.

Freilich hat sich seit der Antike einiges geändert. Man kann wohl sicher sagen, daß zwar heute im Gegensatz zur Antike die sogenannte Gleichberechtigung von Mann und Frau kaum noch angefochten wird. Auch hat vieles andere sich seit der Antike sehr geändert; so etwa das Verkehrswesen, wodurch z. B. Reisen viel schneller und müheloser gestaltet werden können. Etc. Dennoch darf man behaupten, daß auch heutige Ehen noch vieles gemeinsam haben mit der Ehe von Odysseus und Penelope in Inge Merkels Roman.

Penelope liebt ihren Mann, obwohl er ihr in vieler Hinsicht nicht das gibt, was sie sich als junges Mädchen vorstellte; z. B. kein zweites Kind. Auch lastet wegen seiner langen Abwesenheit die Verwaltung des gesamten Besitztums mehr oder weniger auf ihr ganz allein. Vor allem aber kränkt sie sich, weil er ihr nie sagt, daß er sie wirklich liebt. Als er schon auf dem Sterbebett liegt, stellt sie ihm dringlich die Frage, ob er sie denn irgendeinmal so richtig geliebt habe. Er aber weicht einer Antwort aus und sagt: "Weißt du! Es war gut reden mit dir . . . trotz deines Mundwerks . . . und das mit dem Ruder war dein Meisterstück. . . langweilig war's nie mit dir" (417). Penelope aber ist mit dieser Antwort nicht zufrieden und erwidert: "Das ist es nicht, was ich wissen will. O Odysseus", flüsterte sie fast flehentlich, "daß ich gescheit bin, weiß ich. Darauf kommt's mir nicht an. Aber sag mir ein einziges Mal, jetzt wo du fortgehst, sag mir: Hast du mich, nicht immer, aber doch dann und wann!, hast du mich irgendeinmal wirklich geliebt? Du weißt, wie ich das meine!"(417). Odysseus aber spricht die von Penelope so heißersehnten Worte nicht aus. Man sieht in seinen Augen noch einmal einen Funken von seiner ehemaligen Durchtriebenheit und sie hört ihn ganz klar sagen: "Was willst du denn noch? Bohr nicht!" (417). Dann stirbt Odysseus.

Penelope denkt lange nach, warum Odysseus nie die mächtigen, fast magischen Worte: "ich liebe dich", "ich sehne mich nach dir" zu ihr gesagt hat. Zuerst kann sie nur negative Gründe finden. So vielen anderen Frauen hat er diese Worte gesagt, egal ob sie nun wahr waren oder nicht. Penelope war ihm nicht einmal eine solche Lüge wert. So quält sie sich zunächst.

"Siehst du, mein zeitlebens Geliebter, der du nun vor mir liegst mit erstarrten Lippen und nichts mehr erwidern kannst, das war es, was mich so furchtbar gequält und gekränkt hat, daß du nie eifersüchtig warst auf mich. Daß du dich auch kein einziges Mal zu der Lüge aufgerafft hast: Du, Penelope, warst die beste von allen, die ich so kennengelernt habe im Laufe meines umgetriebenen Lebens, dich allein habe ich wirklich geliebt und deinetwegen bin ich zurückgekommen aus den schimmernden Grotten, weil mich die Sehnsucht und die Begierde, weil mich die Eifersucht zerfraß. Heut bin ich alt genug, um zu wissen, daß Liebe mehr ist als die Blendung und die Begierde nach wohlgeformten Gliedern; daß es in weiter Sicht nicht ankommt auf die paar Hochschwünge im Bett oder im Gras, sondern daß es auf die Rückendeckung ankommt, die man einander gibt gegen das Leben und gegen den Tod, die die Götter verhängen; gegen ihre kindisch sinnlosen Launen" (422f.)

Odysseus aber spricht nie die oben genannten ersehnten Worte zu Penelope und zeigt auch keinerlei Eifersucht. Eurykleia, die Amme, aber hat Penelope zu überzeugen versucht, daß Odysseus die Freier aus Eifersucht niedergemetzelt habe, daß aber ein Mann in Worten dieser Eifersucht nie Ausdruck zu geben vermöge, ja, das sei so ziemlich das Letzte, was ein Mann seiner Ehefrau gegenüber tun würde. Manisfestiert aber habe sich seine Eifersucht eben in der Niedermetzelung der Freier und auch in einer der ersten Nächte nach seiner Rückkehr, als er Penelope blind vor Wut und Eifersucht sexuell zu überwältigen suchte, was diese total mißverstand und sich empört steif wie ein Brett machte.

Penelope verlangt am Ende auch nicht, daß Odysseus ihr sage, er begehre sie, sondern sie will hören, daß er sie liebe. Er aber sagt das nie. Warum nicht? Bestimmt hat er es Calypso oft ins Ohr geflüstert.

Alles Aussprechen ist auch ein Verkleinern, ein Erniedrigen oder sogar Vernichten. Vielleicht scheut Odysseus sich deshalb, die großen Worte: "Ich liebe dich" auszusprechen? Goethes Faust hat eine vergleichbare Scheu vor dem Aussprechen und Zerreden alles Großen. Als Gretchen ihn fragt: "Glaubst du an Gott?", da weicht er einer Antwort aus mit den berühmten Worten: "Name ist Schall und Rauch, verdeckend Himmelsglut". Daß Odysseus Penelope nie sagt: "Ich liebe dich", mag damit zu tun haben, daß Worte zerstören können und auch daß die höchsten Dinge nicht in Worte zu fassen sind.

Odysseus bleibt der listenreiche Odysseus. Er weiß, daß Penelope ihn liebt, vielleicht gerade weil er ihr nie versichert: "Ich liebe dich".

Penelope findet schließlich eine angemessene Erklärung dafür, warum Odysseus gerade ihr nie sagen wollte und nie sagte: "Ich liebe dich".

"Im Morast baut sich der Kluge kein Haus. Und klug bist du gewesen, mein Odysseus", so spricht Penelope zu sich selbst. "Könnte es sein, daß eben dies auch der Grund war, warum du mir niemals sagtest, ich liebe und begehre dich, Penelope? Daß nicht Gleichgültigkeit es war, warum du mir dieses Wort so hartnäckig verweigertest, sondern Scheu? Angst? Eine Art Verhütungszauber? Wenn ich nicht ausspreche, du bist begehrenswert, dann bist du es auch nicht, und keinem fällt es ein, dich mit Räuberaugen anzusehn!" (425).

"Leb wohl, mein Odysseus", flüstert sie, "mein sehr geliebter, du Schuft, du Schürzenjäger, Lügner und Träumer. Ich war dir verfallen. Deinen meergrünen, wechselfarbenen Augen war ich verfallen, in denen ohnehin alles zu lesen stand, was du mich dann hast anschauen lassen. Trotzdem! Ich bereue nichts. Und heute noch, wo ich alles weiß, was mir blühen wird, würde ich wieder auf deinen Wagen springen und mich an deinen Schultern festhalten und keinen Blick zurückwerfen auf das Haus meines Vaters" (428).

Odysseus sagt am Ende zu Penelope: "Was will du denn noch? Bohr nicht!" (417). Das klingt grob. Aber vieleicht heißt es soviel wie: "Was willst du noch mehr? Ich bin ja hiergeblieben seit meiner langen Reise. Nichts anderes ist mir wichtiger. Nichts anderes hier in der Welt ist mir bedeutender als das. Das einzige noch zu wagende Abenteuer ist der Tod".

Eine moderne Frau muß auf vieles verzichten. Wahrscheinlich schließen starke intellektuelle Interessen eine vollkommene sexuelle Hingabe wie die der Nymphe Calypso aus. Odysseus akzeptiert Penelope als ebenbürtig. Aber das hat einen Preis. Dies trifft auch für die moderne Frau zu. Ebenbürtigkeit hat einen Preis.

Daß Odysseus Penelope liebt, zeigt sich dadurch, daß er zu ihr zurückkehrt und bei ihr bleibt. Mit seinem inzwischen fortgeschrittenen Alter allein und mit dem dadurch gesteigerten Bedürfnis nach Häuslichkeit kann man das nicht erklären.

Der Gestalt des Odysseus werden meist zwei hervorragende Attribute zugewiesen: List und Dulden. Er ist der Listige, er ist der große Dulder, den der Zorn des Gottes Poseidon immer wieder trifft. Gerd Schneider weist in seinem Nachwort(2) zur Übersetzung dieses Romans ins Englische darauf hin, daß darin nicht nur Odysseus der große Dulder ist, sondern daß viel mehr oder jedenfalls genau so stark Penelope die große Dulderin ist. Dem ist voll zuzustimmen, außerdem aber soll hier aufgezeigt werden, daß Odysseus auch das zweite Attribut mit Penelope teilt, daß nämlich diese ebenfalls zahlreiche Listen anwendet, was wesentlich ist für das Funktionieren dieser Ehe und vielleicht jeder Ehe.

Odysseus ist bekannt als der Listenreiche, so wird er immer wieder genannt im Laufe der Ilias und Odyssee. Auch in Inge Merkels Roman hat er dieses Attribut, das Hauptaugenmerk jedoch ist eher auf Penelope gerichtet. Wir erfahren mehr von ihren Listen als von den Listen des Odysseus. Bei den Erzählungen, die Odysseus im Schlafgemach seiner Gemahlin Penelope liefert, stehen nicht nur seine Listen, sondern vor allem auch die erotischen Aspekte seiner Abenteuer im Vordergrund.

Aus den zahlreichen möglichen Beispielen von Penelopes Listen sei nur Folgendes angeführt: Die List mit dem Bogen, mit dem die Freier schießen sollten, die List mit der Erwähnung des Bettes als Erkennungszeichen, des Bettes, das ja nicht verschoben werden kann, weil seine Basis ein Baumstumpf ist. Auch führt Penelope während der Erzählungen des Odysseus diesen immer wieder mit listigen oder stichelnden Fragen dahin, daß er nach und nach mit der Wahrheit herausrücken muß.

Penelopes größte List aber - allerdings erkannt und sogar anerkannt von Odysseus, wie er kurz kurz vor seinem Tod bemerkt - ist die List mit dem Ruder. Gemeint ist hier die listige Art und Weise, wie Penelope der Weissagung des Sehers Teiresias Genüge tut. Odysseus hatte Penelope erzählt, was Teiresias ihm prophezeit hatte, als Odysseus ihn in der Unterwelt aufsuchte: "Ich kann Poseidon nur versöhnen, . . . wenn ich ein Land finde, wo ein Mensch wohnt, der das Meer nicht kennt und ein Ruder für eine Schaufel zum Worfeln des Getreides hält. Dort soll ich Poseidon ein schwarzes Schaf zum Opfer bringen" (398). Durch eine List, macht Penelope es möglich, daß Odysseus diese Bedingungen erfüllen kann.

In der Überlieferung wird eine derartige List Penelopes nicht spezifisch erwähnt. Das Schicksal des Odysseus nach seiner Heimkehr wird in der Überlieferung ziemlich vage und widersprüchlich dargestellt. Einige sagen, er habe mit Penelope noch zwei Söhne gezeugt, Acusiläus und Ptoliporthes. Andere behaupten, er sei von seinem mit Kirke gezeugten Sohn Telegonus getötet worden. Andere bezweifeln sogar die Treue Penelopes und behaupten, daß Odysseus sie getötet oder jedenfalls verbannt habe. Einer weiteren Version nach soll sie Telegonus den Sohn von Odysseus mit Kirke geheiratet haben und mit ihm einen Sohn, Italus, gezeugt haben. Inge Merkel hat für dieses Durcheinander eine wunderbare Lösung, nämlich ihre eigene Erfindung gemäß der Penelope die von Teiresias genannten Bedingungen, mit denen Odysseus den Zorn des Gottes Poseidon versöhnen könnte, durch einen Trick in Erfüllung bringt. Penelope erzählt Odysseus von einem Traum, in dem sie ihn einen bestimmten steilen Pfad hinein ins Innere des Landes gehen sieht, wo dann schließlich, als Odysseus daraufhin tatsächlich den Hinweisen ihres Traumes folgt, genau die Szene stattfindet, die Teiresias dem Odysseus in der Unterwelt beschrieben hatte. Penelope posiert dabei unkenntlich verkleidet als Mensch, "der das Meer nicht kennt und ein Ruder für die Schaufel zum Worfeln des Getreides hält" (398). Auch für das schwarze Schaf, das geopfert werden soll, ist gesorgt. - Ein köstlicher Einfall Inge Merkels, mit dem sie abermals illustriert, daß Penelope dem Odysseus an klugen Listen ebenbürtig ist.

Es gelingt Inge Merkel, in Penelope eine liebende und zugleich kluge Frau der Antike zu zeichnen, mit der sich aber auch eine moderne Frau in vieler Hinsicht identifizieren kann. Ohne eine aggressiv feministische Haltung einzunehmen und ohne die klassische Geschichte der Odyssee zu verfälschen oder wesentlich zu verändern weist Merkel auf zahlreiche kulturelle Werte und Eigenschaften hin, die durch eine verläßliche Dauerbeziehung gefördert werden und die offenbar so sehr im allgemein Menschlichen fundiert sind, daß sie sich im Laufe der Jahrtausende nur wenig verändert haben. Zu diesen Werten zählt die Hochschätzung eines sicheren Heims, aber noch mehr das sich Aufeinanderverlassenkönnen und vor allem auch das sich Miteinanderverständigenkönnen.

Handelt es sich also bei Odysseus und Penelope wirklich um eine ganz gewöhnliche Ehe? Oder ist das ironisch gemeint? Bestimmt ist eine zwanzig Jahre lang dauernde Abwesenheit des Ehemanns keine Gewöhnlichkeit. Aber man darf das vielleicht nicht wortwörtlich nehmen. Gewiß gibt es auch heute noch viel Ehen, in denen der Mann lange Zeitstrecken abwesend ist.

In unserer modernen Zeit hat sich so manches geändert. So manche Frau hat einen Beruf, der oft genauso zeitbeanspruchend ist wie der Beruf eines Mannes. Nicht geändert aber hat sich die Tatsache, daß die Frau auch heute noch die Kinder gebiert. Trotz aller moderner Bestrebungen, diese Aufgabe nicht nur auf den Schultern der Frau lasten zu lassen, bleibt das Austragen und die Geburt eines Kindes auch heute noch eine ernste und nicht zu ignorierende Aufgabe vor allem der Frau. Männer versuchen heutzutage, sich mehr an der Auferziehung der Kinder und auch an sonstigen im Haushalt anfallenden Aufgabe zu beteiligen. Zu Zeiten des Odysseus wäre dies undenkbar gewesen.

Moderne Feministinnen sind vielleicht auch der Ansicht, daß kein Unterschied bestehe zwischen Männern und Frauen. Stellt man Vergleiche mit der Tierwelt an, so wird es offensichtlich, daß z. B. eine trächtige Löwin sehr wohl ein ganz anderes Verhalten zeigt als ein männlicher Löwe.

Ganz andersgestaltete Ehen, die in diesem Roman auch zur Sprache kommen, sind vor allem die Ehe von Menelaus und Helena und die von Agamemnon und Klytemnästra. In beiden Fällen wird gezeigt, zu welchen Extremen eine eheliche Beziehung führen kann.

Das Phänomen Helena wird von Inge Merkel sehr brillant beschrieben. Sie ist die absolute Schönheit mit dem Hurenblick. Göttlich und tierisch zugleich. Dieser Widerspruch treibt die Männer zum Wahnsinn. Jeder Mann möchte das Göttliche in Helena bezwingen, indem er sie auf tierische Weise unterwirft. Sie aber läßt es zu, nicht aus eigener Leidenschaft, sondern eben weil sich in ihr göttliche Gelassenheit und Gleichmut mit dem tierischen Trieb mischen. Die Ehe zwischen Helena und Menelaos funktioniert nicht.

Eine andere Ehe, von deren Versagen wir erfahren, ist die Werfen zwischen Agamemnon und Klytemnästra, welche eigentlich die Schwester Helenas ist. Von ehelicher Treue zwischen Agamemnon und Klytemnästra kann nicht die Rede sein. Agamemnon hat verschiedene Geliebte, er ist es gewöhnt, neben Klytämnestra Sklavinnen zu haben, insbesondere erfahren wir, daß er sich während des Trojanischen Krieges für Briseis interessiert, die als Beutegut zunächst dem Achilles zugesprochen worden war. Seine Frau Klytämnestra aber tröstet sich schon bald nach seinem Aufbruch nach Troja mit Agamemnons Vetter Aigistos. Klytämnestra hat freilich einigen Grund, Agamemnon zu grollen, und ihr schnelles sich Trösten wird vielleicht gut verständlich, wenn man bedenkt, daß Agamemnon seine und Klytämnestras Tochter, Iphigenie, als Opfer auf dem Altar der Göttin Artemis schlachtete (oder jedenfalls zu schlachten bereit war - je nach der Version), da ihm dafür günstiger Wind für seine nach Troja aussetzende Flotte prophezeit worden war. Dies sind freilich auch in den Augen Inge Merkels keine guten Voraussetzungen für die Dauer und das Funktionieren einer Ehe. Wir alle wissen, wie tragisch und blutig die Ehe zwischen Agamemnon und Klytämnestra endete. - Eine moderne wenn auch weniger krasse Parallele dazu wäre etwa eine Situation, in der ein Vater das Wohl seines Kindes opfert, um seine Karriere zu fördern.

Wie verläuft eine gute Ehe? Werfen wir kurz einen Blick auf Odysseus' Beziehung zur Nymphe Calypso.

(Der bekannte tschechische Schriftsteller Milan Kundera schlägt übrigens in seinem Roman Die Unwissenheit (3) vor, daß von rechtswegen Kalypso als die Gemahlin des Odysseus betrachtet werden müsse, weil dieser sieben Jahre mit ihr verbrachte, wogegen nur eine unrealistische Nostalgie ihn zu Penelope trieb, die er ja eigentlich kaum kannte, da er schon kurz nach der Heirat, als Telemachus noch ein Säugling war, in den Trojanischen Krieg zog und auch bald nach seiner endlichen Rückkehr starb und sie also nie richtig kennenlernen konnte.)

Inge Merkel zeigt durch ihre Darstellung der Beziehung zwischen Odysseus und Calypso, daß eine sexuelle Anziehung allein auf lange Sicht nicht genügt. Ehepartner müssen miteinander sprechen können. Das ist die Stärke der Beziehung zwischen Odysseus und Penelope.

In Bezug auf die Antike stellt Merkels Penelope allerdings eine Ausnahme dar. Wir hören immer wieder, daß die antike Gattin vor allem die Mutter der Kinder ist, daß der Gatte aber seine sexuellen Bedürfnisse nicht nur mit ihr, sondern vor allem auch mit Sklavinnen erfüllt. Für ein gescheites und anregendes Gespräch aber gibt es die Hetären.

Hetäre heißt eigentlich so viel wie 'Gefährtin'. Man versteht darunter in der griechischen Antike eine gebildete und gesellschaftlich respektierte Kurtisane. Zu den berühmtesten Hetären zählen Thais, Aspasia und Phryne.

Odysseus braucht bei Inge Merkel für ein gescheites Gespräch keine Hetäre aufzusuchen, sondern er hat in Penelope eine kluge Gesprächspartnerin, deren scharfer Verstand ihn anregt, aber teilweise auch nervt.

Direkt und irdirekt diskutiert Inge Merkel in ihrem Roman auch die Frage, ob Männer und Frauen verschieden sind. Sind Frauen und Männer verschieden? Stimmt es, daß die Frau die Familie und das Haus und das Geschaffene zu bewahren strebt, während der Mann Genugtuung findet, wenn er sich bewähren kann? Bewähren im mehrfachen Sinne, sei dies nun durch sexuelle Potenz, sei dies in Schlachten und Wettkämpfen im wörtlichen und im übertragenen Sinne.

Moderne Feministinnen verlangen eine Gleichsetzung von Mann und Frau. Dort wo Frauen im Beruf stehen und Vergleichbares leisten müssen, erscheint diese Forderung berechtigt. Von der Biologie her aber kann ein Unterschied zwischen Mann und Frau keineswegs vollkommen ignoriert werden. Frauen gebären Kinder oder haben jedenfalls die Anlage dazu. Daraus erklärt sich wohl die Neigung der Frau zur Bewahrung, zur Sicherung. Dies schließt nicht aus, daß manch individueller Mann und manch individuelle Frau den allgemeinen Charakteristiken nicht entsprechen.

Die Toleranzidee zieht sich durch Inge Merkels ganzes Werk. Im Jahre 1992 wurde ihr der Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln zuerkannt. - Das Ziel ist, tolerant zu sein, nicht nur gegenüber den anderen Rassen, sondern auch gegenüber dem andersgeschlechtigen Menschen. Wir sind nicht gleich, wir sind verschieden. Wir sollen Respekt haben vor dem Anderssein, auch vor dem Andersein zwischen Mann und Frau.

Die Ehe ist für Inge Merkel eine der wichtigsten Errungenschaften unserer Kultur. Gerd Schneider von der Syracuse University hat dies in einem Vortrag wunderbar formuliert, indem er sagt: "Die Ehe ist für Merkel der beste Biotop, in dem die Lebenskämpfe sich erneuern können".

In ihrem den Roman einleitenden Briefwechsel "mit einem naturwissenschaftlich gesinnten Freund" sagt Inge Merkel, die Ehe sei ein Bund einander ergänzenden Zusammenstehens gegen die Leidigkeiten des Lebens, denen der Sterbliche ausgesetzt sei und die übermächtig seien, schon deshalb, weil am Ende immer der Tod stehe (11). Die Ehe erlaube dem Menschen eine Art von Rückendeckung, gebe ihm das Gefühle der Sicherheit. Nicht nur die Frau, sondern auch der Mann brauche dieses Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit, der zumindest relativen Beständigkeit und Verläßlichkeit. Angesichts des gerade gestorbenen Odysseus formuliert Penelope das so: "Diese Rückendeckung habe ich dir gegeben, darauf hast du dich verlassen und ihretwegen bist du auch zurückgekommen, als dich die gloriosen Abenteuer schon ein bißchen müde machten. Da hast du dann begriffen, daß ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit ohne alles Mirakulöse drum herum das ist, was am Leben erhält, das Eigentliche und Wesentliche. Da kamst du heim" (423).

Wann funktioniert eine Ehe heute? Welche Ehen sind gute Ehen? Man darf natürlich nicht allzusehr verallgemeinern. Aber eines ist wohl klar, eine Ehe, die nur auf sexueller Anziehung basiert, wird in den meisten Fällen nicht von Dauer sein können. Da muß noch mehr sein. Inge Merkel demonstriert uns dies sehr überzeugend. Keineswegs mangelte es bei Odysseus und Penelope im Anfang ihrer Bekanntschaft an sexueller Anziehung (vgl. z. B. Seite 427). Aber von Anfang an war da auch ein gewisses geistiges Einverständnis miteinander vorhanden, sie konnten mit einander reden. Da war auch das Gefühl, daß einer sich auf den anderen verlassen konnte. Odysseus vor allem konnte sich auf Penelope verlassen und als er nach 20 Jahren endlich wieder nach Hause kam und sie noch immer nicht mit einem anderen verheiratet war, da mußte ihm wohl Penelopes unerhörte Leistung in Bezug auf Verläßlichkeit klar sein.

Penelope andrerseits hatte allen Grund, an Odysseus' Verläßlichkeit einigermaßen zu zweifeln. Denn als nach zehn Jahren der Trojanische Krieg zu Ende war und viele Männer aus dem Krieg zurückkamen, da kam Odysseus noch lange nicht. Sei es, weil er den Gott Poseidon verärgert hatte, da er dessen Sohn den Riesen Polyphemus geblendet hatte, sei es daß er nicht zurückkam, weil zu viele weibliche Wesen und deren Grotten im weitesten Sinne ihn verlockt hatten, sei es weil er neugierig und wißbegierig auf alles Mögliche war: kurzum Odysseus kam nicht nach zehn, sondern erst nach zwanzig Jahren zurück und brachte damit Penelopes Glauben an seine Verläßlichkeit fast zum Schwanken.

Die Treue ist vielleicht ein wichtiges Element für viele Ehen, jedenfalls die Treue im weitesten Sinn. Aber in der uns hier vorgeführten Ehe scheint sie für Odysseus einen anderen Stellenwert einzunehmen als für Penelope. Jedenfalls nimmt er sich alle möglichen Freiheiten heraus, und sein Wissensdurst erstreckt sich nicht nur auf fremde Länder sondern spezifisch auch auf Erlebnisse mit fremden Frauen. Penelope vergibt und verzeiht ihm, ja, sie versteht ihn sogar. Sie für sich selbst aber ist ihm treu geblieben. Der Grund, den sie dafür anführt ist folgender: "Denn der Ort [wo, der Sex stattfindet] ist bei uns nicht nur ein Garten der Lust, sondern da empfangen wir auch die Kinder und tragen sie aus; und auch euch, die wir lieben, tragen wir immer irgendwie dort herum, und ihr sucht hier nicht nur die Freude, sondern öfter noch Zuflucht und eine tiefere Sicherheit, als feste Mauern und ein eherner Harnisch zu geben vermögen" (425). Mit anderen Worten, Inge Merkel ist der Ansicht, daß Treue für den Mann nicht das Gleiche ist wie für die Frau. Mag sein, daß nicht alle mit dieser Ansicht einverstanden sind und daß so mancher/manche eine absolute Gleichbehandlung verlangt. Zu bedenken wäre aber, daß biologische Unterschiedlichkeiten zwischen Mann und Frau nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden können, sondern daß sie vielleicht doch Konsequenzen haben könnten. Ich glaube, Inge Merke zeigt in ihrem Roman sehr deutlich, daß Penelope dem Odysseus geistig durchaus den Widerpart bieten kann, daß sie mindestens ebenso klug und listig ist wie er; sie zeigt aber auch, daß vielleicht für sie als Frau jedenfalls teilweise andere Spielregeln im Leben zutreffen als für Odysseus als Mann.

Eine gute Ehe basiert also nach Inge Merkel darauf, daß Mann und Frau sich gut miteinander verständigen können, daß sie sich gemeinsam den Widerwärtigkeiten des Lebens entgegenstellen, daß sie sich auf einander verlassen können, daß sie einander Rückendeckung geben und nicht plötzlich auf Seiten des Feindes stehen. In diesem Sinne also ist die Ehe von Odysseus und Penelope eine ganz gewöhnliche Ehe, nämlich eine Ehe, die funktioniert, wenn auch nur bedingt und nicht auf ideale Weise, genau so wie alles andere im Leben niemals identisch ist mit dem Ideal. Die Einrichtung der Ehe im Sinne einer Rückendeckung ist bestimmt eine kulturelle Errungenschaft, die zum Fortschreiten und Gedeihen der Kultur begetragen hat und noch beitragen kann.

In der Übersetzung ins Englische wurde diese Einleitung Inge Merkels weggelassen, weil die Übersetzerin Renate Latimer fürchtete, mit darin vorkommenden Ausdrücken wie 'Emanzen' und 'einseifen' die Feministinnen zu verärgern. Sie und der Verleger waren der Ansicht, daß dieser einleitende Briefwechsel, eher Anstoß als Applaus erregen würde. Keinen Zweifel aber hatten sie an dem Erfolg des Romans selbst. Meiner Ansicht nach aber ist auch das Vorwort durchaus modern und akzeptabel. Freilich handelt es sich dabei um ein eben teilweise absichtlich aggressiv und auch humorvoll formuliertes Wortgeplänkel, wenn auch mit durchaus ernsten Anliegen im Hintergrund.

Ich habe mich in meinen Überlegungen darauf konzentriert zu zeigen, daß die Ehe einen bedeutenden Einfluß hat auf die Entwicklung und Erhaltung kultureller Werte. Gemäß meiner Interpretation zeigt Inge Merkel mit diesem Roman, wie eine dauerhafte Ehe, trotz vorhandener Schwierigkeiten und trotz vieler Probleme, letzten Endes eine Einrichtung darstellt, deren Bedeutung sowohl in der Antike als auch noch in unserer Zeit nicht zu bezweifeln ist.

Ein großer Unterschied zwischen Odsysseus und Penelope ist, daß Odysseus auf Abenteuer geht und sich dabei auch verschiedenste Erlebnisse mit anderen Frauen erlaubt, während Penelope zu Hause bleibt, das Haus hütet und sogar den Werbungen der zahlreichen Freier nicht stattgibt. Merkel weist in ihrer Einleitung darauf hin, daß Penelope durchaus nicht so sehr extrem tugendhaft ist. Der Unterschied aber ist, daß bei ihr erotische Wünsche nur in ihrer Phantasie erfüllt werden. Dies ist Inge Merkels sehr geniale Interpretation der Bedeutung des bekannten Gewebes, an dem Penelope jahrelang arbeitet und das sie dann immer wieder auftrennt. Sie webt Bilder, Phantasiebilder, in denen sie sich auslebt und Erfüllung ihrer Wünsche findet. In der Wirklichkeit aber wird sie immer wieder durch die Erinnerung an Odysseus gehindert, eine wahre Untreue zu begehen.

Von großem Interesse ist auch die Einleitung zu dem Roman. Eine wohl fingierter Briefwechsel zwischen Inge Merkel und einem 'naturwissenschaftlich gesinnten Freund". Letzterer vertritt denn auch, wie man gleich vermutet, einen rationalistischen Standpunkt. Außerdem scheint er auch nicht viel von Emanzipation zu halten. Nachdem Inge Merkel ironisch darauf aufmerksam gemacht hat, daß "[e]inschlägige Forscher [bekanntlich herausbekommen haben], was man bislang Mann und Frau nannte, seien, abgesehen von antatomischen Kleinigkeiten [nur] 'Rollen', je nach Epoche und Kulturkreis dem einen Geschlecht vom anderen aufoktroyiert zwecks Unterdrückung und Ausbeutung", empfiehlt sie ihrem Briefpartner, sein Mannskostüm abzuwerfen und sich endlich selbst zu entwickeln. Er aber, wie gesagt, scheint von derartiger Gleichberechtigung nicht viel zu halten und schreibt ihr: "Sehe ich einen Mann nach absolviertem Säuglingskurs, gewissenhaft sein Baby wickelnd, im Park sitzen, während die dazugehörige Gattin an ihrer Selbstverwirklichung arbeitet, macht mich das zutiefst ängstlich. Ich habe dann immer die Vision vor Augen, daß die Menschheit - einer seltsamen Nostalgie nach Urzuständen aufsitzend - sich Milliarden von Jahren der Evolution zurück in die Ursuppe stürzt" (6f). Er beschreibt daraufhin eine Vision, bei der sich im brodelnden Urschleim ein Kern immer in zwei ganz gleiche Teile spaltet, wobei es natürlich zu keinerlei Höherentwicklung kommen kann.(4)

Ohne hier weiter auf Details eingehen zu können, möchte ich nur das Endresultat dieses sehr amüsanten Briefwechsels erwähnen. Nicht Gleichberechtigung und Gleichheit erscheinen hier letzten Endes erstrebenswert, sondern erscheinen im Gegenteil langweilig und einer kulturellen Aufwärtsentwicklung entgegenstehend. Wogegen die Anerkennung biologischer Unterschiede und deren Konsequenzen einer ehelichen Beziehung förderlich erscheinen und dann auch ihm größeren Rahmen dann eine kulturelle Vorwärts- und Aufwärtsentwicklung begünstigen. Inge Merkel schreibt dann Folgendes: In der Beziehung von Odysseus und Penelope "da rankt und schlingt freilich allerhand Historisches um den biologischen Bodensatz". Mit dem "biologischen Bodensatz" meint sie den Hang aller Lebewesen sich vermehren zu wollen. Sie fährt dann fort: "Ich aber will von der Ehe schreiben, einer Beziehung, in welcher Mann und Frau zwar auch dem Bodensatz huldigen" [das heißt auch Sex betreiben], "vor allem aber gemeinsam und unter Einsatz ihrer geschlechtlichen Andersartigkeit, Rücken an Rücken, sich dem Dasein stellen, der Übermächtigkeit der Welt, nennen Sie es Schicksal, Notwendigkeit, Zufall oder Götterlaune: sie [das ist die Ehe] gibt einem wahrhaftig mehr aufzulösen als eine noch so romantische Liebesgeschichte. Jeder der beiden bringt seine spezifischen Anlagen zur Bewältigung dieses Daseins ins Spiel und zusammen haben sie eine - wenn auch geringfügige - Chance, sich in der Brandung des Übermächtigen einigermaßen zu halten" (7f.) Des weiteren kommt dann zur Sprache, daß der Mann traditionellerweise im weiteren Umkreis zu bewähren versucht, wogegen die Frau eher dazu neige sich im näheren Umfeld zu betätigen, im Nest sozusagen.

Der Freund weist dann allerdings süffisant darauf hin, daß Odysseus sich bekannterweise nicht nur auf dem Schlachtfeld bewährte, sondern auch in diversen Grotten bei diversen Nymphen etc. Darauf antwortet Inge Merkel, dies sei eben der typische Wesenszug der Männer, der den Frauen zwar meist unangenehm ist und über den sie auch normalerweise entsprechend keifen, aber daß der Mann auch von dieser Art von Erforschungsabenteuern meist doch sehr gerne zurück ins Nest kehre. Hier kommt dann bald die Stelle, in der Inge Merkel darauf hinweist, daß Penelope durchaus auch nicht ganz leidenschaftslos durchs Leben geht, sondern zwar dem Werben der Freier in der Wirklichkeit nicht nachgibt, wohl aber sich erotischen Fantasieträumen hingibt, indem sie Bilder von möglichen anderen Verhaltensweisen und nicht erlebten Erlebnissen in ihr Gewebe webt. Warum die Frau in ihren sexuellen Erlebnissen mehr auf die Fantasie beschränkt ist und ihren Wünschen und Sehnsüchten nicht so nachgibt oder nachgeben kann wie Odysseus oder wie jeder Mann, begründet Inge Merkel damit, daß die biologischen Gegebenheiten einer Frau eben anders sind als die des Mannes. Der Ort der Lust ist zugleich auch der Ort, an dem Kinder entstehen und geboren werden. Dieser Unterschied hat, jedenfalls für Inge Merkel, ernsthafte Konsequenzen für die Verhaltensmöglichkeiten von Mann und Frau.

© Gerlinde Ulm Sanford (Syracuse Universität, New York)


ANMERKUNGEN

(1) Die Zahlen in Klammern nach den zitierten Textstellen beziehen sich auf Inge Merkel, Odysseus und Penelope. Eine ganz gewöhnlich Ehe, Frankfurt am Main; Fischer Taschenbuch Verlag, 1989.

(2) Odysseus and Penelope. An ordinary marriage. Inge Merkel. Translated by Renate Latimer. Afterword by Gerd K. Schneider. Studies in Austrian Literature, Culture, and Thought. Riverside, California: Ariadne, 2000.

(3) Milan Kundera. Die Unwissenheit, franz. L'Ignorance. München: Hanser, 2001.

(4) Anton Krättli schreibt in seinem ausgezeichneten Essay "Aus Penelopes Sicht" über den Roman Inge Merkels und insbesondere über die Einleitung: "Was soll uns eine Geschichte wie diese? Anstelle einer Einführung veröffentlicht die Verfasserin einen Briefwechsel, den sie mit einem naturwissenschaftlich gesinnten Freund geführt haben will. Ihr Thema, die Ehe, meint dieser Freund, sei gewiss unerschöpflich. Aber warum in aller Welt dazu Homer bemühen? da sei doch alles 'zusätzlich durchzittert von Schultremor'. Sie habe ihre Gründe, erwidert sie. Homers Gestalten nämlich seien Musterbilder der Menschheit und keiner Zeitmode unterworfen. Damit hat sie gewiss recht; aber es so offen zu sagen, braucht allerdings Mut. Den hat Inge Merkel. Die Form des Zusammengehörens, die man Ehe nennt, fügt sie noch bei, sei keine Modelaune. Man wechsle Geschlecht und Geschlechterbeziehung nicht saisonbedingt. Sie wolle nicht hoffen, der Freund sei ein Opfer jener neuerdings verbreiteten Mode, die das Wort 'Ehe' nur noch hämisch ausspreche, lieber von 'Zweierbeziehungen' rede und dabei betone, sie dürfe nicht auf Kosten der 'Selbstfindung' gehen. Man habe ja tatsächlich in neuerer Zeit herausgefunden, was man bislang Mann und Frau genannt habe, seien - abgesehen von antatomischen Kleinigkeiten - lediglich 'Rollen', je nach Kulturkreis 'dem einen Geschlecht vom anderen aufoktroyiert zwecks Unterdrückung und Ausbeutung'. Das Vergnügen an diesem einleitenden Briefwechsel geht von der höchst ironischen Apostrophierung gängiger Meinungen aus. Der Freund etwa schreibt: 'Sehe ich einen Mann nach absolviertem Säuglingskurs, gewissenhaft sein Baby wickelnd, im Park sitzen, während die dazugehörige Gattin an ihrer Selbstverwirklichung arbeitet, macht mich das zutiefst ängstlich. Ich habe dann immer die Vision vor Augen, daß die Menschheit - einer seltsamen Nostalgie nach Urzuständen aufsitzend - sich Milliarden von Jahren der Evolution zurück in die Ursuppe stürzt'. So geht es da zu, vergnüglich und vielleicht ein wenig an der Frage vorbei, warum Homer bemüht werde. Eine Antwort gibt es nicht. Es sei denn, man nimmt den Roma als geglückten Versuch, die Odyssee als ganz gewöhnliche Ehegeschichte zu erzählen. Es springen dabei überraschende Erkenntnisse heraus. Der veränderte Blick auf eine uralte Sage erweist sich als ergiebig". Dann schließt Krättli sehr ironisch mit den folgenden Worten: "Eine sensationelle Neuerscheinung, für die man den zeitgemässen Werbespruch leicht finden könnte, ist dieser Roman nicht. an der Buchmesse könnte er leicht übersehen werden, überhört auch im Lärm der Aktualitäten. Aber er wird Jahre danach noch da sein und seine Leser finden".


5.9. Austrian Writers and the Unifying Aspects of Cultures

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For quotation purposes:
Gerlinde Ulm Sanford (New York): Zur Kontinuität des kulturellen Erbes. Inge Merkels Penelope. Ein antikes Frauenschicksal gesehen aus moderner Sicht. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_09/sanford15.htm

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