Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | September 2004 | |
5.13. Geschlecht und Nation:
Narrative kollektiver Identitäten Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Szabina Bolha (Universität Debrecen/Ungarn)
Abstract
Prinz Friedrich von Homburg gehört zu den politischen Geschichtsdramen Kleists, die im Dienste der Freiheit des Vaterlandes stehen. Der Autor greift die Problematik der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft auf. Das Stück vergegenwärtigt einen Stoff aus dem 17. Jahrhundert, der für das Publikum des 19. Jahrhunderts politische Aktualität hatte. Wir können es als eine Gleichnisrede betrachten.
Homburg trägt die Züge eines widersprüchlichen Wesens. Er handelt aus ungebrochenem Gefühl mit Sicherheit. Er vertritt die Ansicht, dass die Kraft über dem Gesetz steht. Er ist kein Musterbild einer gut funktionierenden menschlichen Kampfmaschine. Der Kurfürst ist eine Vaterfigur mit göttlichen Zügen, ein idealer Landesvater, ein eindeutiger Aufklärungsmensch. Nach ihm muss über allem das Gesetz stehen. Sein Hof ist eine Art Großfamilie. Nähe, Nestwärme und Heimeligkeit bestimmen ihr Leben. Zur unmittelbaren Zeitatmosphäre gibt es aber keinen Bezug. Homburg und Friedrich Wilhelm stehen miteinander in enger Beziehung. Die Entwicklung Homburgs tendiert in positive Richtung. Diese Veränderung bewirkte die Folgerichtigkeit des Kurfürsten. Die Idealität und Größe des Kurfürsten bestehen darin, dass er fähig ist, sich selbst zu entwickeln und auch andere zu Entwicklung zu leiten.
Natalie ist eine lebensvolle, schöne Gestalt. Für Homburg ist sie nur eins von drei Wunschdingen. Ihre Berufung liegt in der Liebe; im Geschehen ist sie keine wirkliche Heldin.
Die Träume des Prinzen und die Natur werden in dem Text instrumentalisiert. Die Eiche ist für Kleist etwas Zeitbeständiges, Würdevolles, Ansehnliches.
Das Drama kann als ein Gleichnis aufgefasst werden: es stellt eine historische Utopie dar. Der Konflikt entstand innerhalb der herrschenden Schicht. Kleist verteidigt das Individuum gegen die Gesellschaft und kommt schließlich zur Erkenntnis, dass das französische Heer dem preußischen weit überlegen ist.
Im folgenden Referat wird der Versuch unternommen, den deutschen Nationalmythos am Beispiel eines konkreten Dramas ins Auge zu fassen. Der Autor heißt Heinrich von Kleist, und der Titel seines Dramas lautet: Prinz Friedrich von Homburg. Das Werk wurde also unter dem Aspekt untersucht, welche Elemente eines Nationalmythos in ihm aufzufinden sind.
Im ersten Kapitel geht es um das Thema des Dramas und um den historischen Stoff, den Kleist bearbeitete. Im zweiten wird der Charakter der Hauptfigur, von Prinz Friedrich von Homburg skizziert. Er wird unter dem Aspekt näher betrachtet, was für ein Nationalheld er ist. Im dritten geht es um die Charakterzüge des Kurfürsten. In dieser Figur wird nach den Zügen eines idealen Herrschers gesucht. Das vierte Kapitel ist den Fragen gewidmet, was für eine Wirkung der Kurfürst auf den Prinzen geübt hat und in welche Richtung die Entwicklung des Prinzen tendiert. Im fünften wird eine der Frauengestalten, Natalie, behandelt: es wird auf ihre wichtigsten Charakterzüge hingewiesen. Das sechste Kapitel stellt die Frage nach der Bedeutung eines zentralen Sinnbildes, das im Lebenswerk Kleist ein immer wiederkehrendes Motiv ist: die Frage nach der Bedeutung der Eiche. Im siebten wird erörtert, was für einen Nationalstaat sich Kleist vorstellt und worauf seine Kritik zielt. Nach der Beantwortung dieser Fragen erhalten wir ein Bild über den Nationalmythos in Prinz von Homburg.
Prinz Friedrich von Homburg gehört zu den Geschichtsdramen Kleists, die über einen Bezug zum öffentlichen Leben verfügen. Diese politischen Werke stehen im Dienste der Freiheit des Vaterlandes. Es ist das ausgereifteste Drama Kleists. In seinem letzten Schauspiel greift der Autor die Problematik der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft auf. Er stellt die Frage: wie können die individuelle Selbstentscheidung und die gesellschaftlich-staatliche Notwendigkeit unter den neuen Bedingungen verwirklicht werden. Nach seiner Meinung sind Mensch und Offizier, Mensch und Gesellschaft getrennt. Das Hauptthema bildet also der Konflikt zwischen Heer und Souverän. Die Notwendigkeit ewiger feudalabsolutistischer Herrschaft wurde auch vorgeführt. "Kleist dagegen ist kein Legitimist. Bei ihm hat das Herrscherhaus vorrangig der Nation zu dienen. Königtum muß sich durch Taten bewähren."(1)
Das Stück vergegenwärtigt einen Stoff aus der brandenburgischen Geschichte des 17. Jahrhunderts: die Schlacht von Fehrbellin am 28. Juni 1675. Durch den Ausgang der Schlacht von Fehrbellin wurde die Stabilität des preußischen Staates gesichert. Im Werk geht es um Preußen, das für Militarismus, Verwaltung und Bürokratismus bekannt war. Das Land war unter Friedrich II. zur europäischen Großmacht aufgestiegen, wobei das Militär eine entscheidende Rolle spielte. Damals wurde Preußen zum Vorbild für staatliche Rationalität.
Das Thema hatte auch für das Publikum des beginnenden 19. Jahrhunderts politische Aktualität. Preußen überstand Napoleon nicht. Der dynastische Impuls von 1809 ist in das Stück eingegangen. Es ist also auch als eine Gleichnisrede zu betrachten, die an den preußischen König gerichtet ist, um ihn für die Organisation und Führung eines nationalen Befreiungskrieges zu gewinnen.
Prinz Friedrich von Homburg ist in dem Sinne als ein Mythos aufzufassen, dass in dem Dramentext überlieferte Dichtungen aus der Vorzeit eines Volkes thematisiert werden, die die gegenwärtige Identität der Rezipienten zu bestimmen vermögen.
Der Prinz von Homburg ist mit recht als "eine urdeutsche Natur"(2) zu charakterisieren. Seine Eigenschaften zeigen in ihrer Gesamtheit ein sehr buntes Feld: Homburg trägt die Züge eines widersprüchlichen Wesens. Er wird als Gefühlsmensch geschildert. In ihn dringt auch Misstrauen ein. In Homburg sucht der Autor "nach konstruktiven Gemeinsamkeiten zwischen dem Einzelnen und der feudalstaatlichen Gewalt"(3).
Der junge Held ist in Siegesglanz verliebt. Er trägt im Laufe seiner Handlungen fortwährend die Spuren des Traumlebens. In seiner Traumphantasie existieren drei Wunschdinge: Lorbeerkranz, Ehrenschmuck und Natalie. Diese Symbole stehen für konkrete Wünsche: Lorbeerkranz symbolisiert Ruhm, Ehrenschmuck steht für Anerkennung, Natalie für die Liebe. Für Homburg sind Ruhm und Liebe verewigende und verklärende Werte.
Für Homburg bedeutet der Traum die Erfüllung seines persönlichen Ruhmes, seinen Glanz und seinen persönlichen Aufstieg. Die Schlacht wird aber um den Bestand einer größeren Gemeinschaft geführt. Diese größere Gemeinschaft erwähnt er jedoch nicht ein einziges Mal. Die Ichbezogenheit Homburgs wurde schon am Anfang kenntlich gemacht. Seiner gesellschaftlichen Pflicht ist er sich nicht bewusst.
Für einen traditionellen "Nationalhelden" sind eben entgegengesetzte Eigenschaften charakteristisch: ihm ist in erster Linie das kollektive Wohlbefinden seines Volkes wichtig, nicht der persönliche Heldenruhm. Das wichtigste Kriterium für einen Nationalhelden besteht zwar darin, dass er von einem Volk als sein Held verehrt wird, er kann die Erfüllung seiner eigenen Träume jedoch nicht in den Vordergrund stellen.
Der junge, draufgängerische Prinz stört den Schlachtplan, aber den Sieg schmälert er letztlich nicht. Er handelt aus ungebrochenem Gefühl mit Sicherheit. Er vertritt die Ansicht, dass die Kraft über dem Gesetz steht und der Mut keine Schranken erkennt.
Als er den Kurfürsten stürzen sieht, betrachtet er sich selbst in einer harmonisierenden, glorifizierten Rolle. Durch den Tod Friedrichs scheint ihm sein Traum in Erfüllung zu gehen. Man sieht an ihm zwar Opferbereitschaft, aber die Ambivalenz und das Gefühl der Trauer fehlen ihm. "Er kleidet seinen Traum in Bilder einer gigantischen Selbstverwirklichung."(4) Homburg: "O Caesar Divius! / Die Leiter setz ich an, an deinen Stern!"(5) Der Stern symbolisiert Tatenruhm und Liebesglück. Sein Zielbild richtet sich auf die Unsterblichkeit.
Auf dem Schlachtfeld hat er zwar den Sieg errungen, aber er hat lediglich um des eigenen Ruhmes willen gehandelt. Homburg hat aber sein Versprechen, die Entscheidung auf seine Kappe zu nehmen, nicht erfüllt. Er nimmt die Verantwortung für die Verletzung der militärischen Disziplin nicht auf sich. Er fleht um sein Leben kraftlos und haltungslos. Dieser Sprung zur feigen Todesfurcht verletzt an einem General auf das Peinlichste: ein Held sollte ja nicht nur auf dem Schlachtfeld Mut zeigen. Über Homburg können wir das nicht sagen: in der Todesfurchtszene fällt ihm das Herz in die Hosen. Diese Szene ist auch aus dem Grunde besonders wichtig, weil sich das Heldenpathos des Prinzen hier als falsch erweist. Der Anblick des offenen Grabes bedeutet für ihn die Endlichkeit seiner Existenz und raubt ihm die letzte Hoffnung. Das Grab ist das Gegenteil des Sterns. Hier wurde also eine radikale Konfrontation mit der Sterblichkeit geschaffen. Damit wurde ein Gegensatz aufgestellt: auf der einen Seite steht der Stern für den Traum von Unsterblichkeit, auf der anderen Seite steht das Grab für die Tatsache der Sterblichkeit. Sein glorifizierendes Selbstbild wurde also bedroht, und zwar durch die Gewalt des absolutistischen Souveräns und seine Gesetze. Sein Traum erweist sich in dieser Situation als eine Täuschung, als eine selbstgefällige Illusion.
"Bei Homburg besteht in der Forderung einer inneren Tat die Anerkennung der eigenen Schuld. Von ihm wird jetzt eine geistige Tat verlangt [...] Nach seinem elenden Falle wird er uns auch das Endresultat gleichsam praktisch in Fleisch und Blut darstellen."(6) Er hat erst in dem bitteren seelischen Kampf die innere Berufung erworben.
Der Prinz ist kein Musterbild einer gut funktionierenden menschlichen Kampfmaschine. Er lässt sich treiben, er ist mit Herz und Hand ergeben, kann aber durch das Gefühl allein nicht gewinnen: er ist nicht der wirkliche Sieger, weil er vom Kurfürst völlig instrumentalisiert wird, wie auch die Armee und die anderen Offiziere.
Im Stück ist der Kurfürst eine Vaterfigur mit durchaus göttlichen Zügen, er ist ein idealer und wirklicher Landesvater, der immer im Zeichen der Folgerichtigkeit handelt. Er ist ein eindeutiger Aufklärungsmensch. Durch diese Figur wird das Bild eines idealen Herrschers dargestellt. Wir können ihn als Gegenbild zu Friedrich Wilhelm III. betrachten. Der feigen franzosenfreudigen Politik Friedrich Wilhelms III. wurde der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm II. gegenübergestellt. Diese handlungsfreudige Figur wurde in einem historisch progressiven Ausnahmefall, im Abwehrkampf gegen die Schweden dargestellt. Kleist stattet ihn mit patriarchalischen Zügen aus.
Der Kurfürst vertritt den Standpunkt, dass über allem das Gesetz stehen muss. Das Wohl des Staates ist ausschließlich durch das Gesetz gesichert. Die Abweichung vom Gesetz gefährdet den Bestand des Vaterlandes. Nach ihm ist die uneingeschränkte Unterordnung unter den Befehl die Grundlage aller Kriegs- und Staatskunst. Dieser Standpunkt wird als unbedingte Achtung vor dem Gesetz formuliert. Aus diesen Gründen will der Kurfürst ein Exempel statuieren, um der Heiligkeit des Gesetzes Anerkennung zu verschaffen. Die Hinrichtung des Prinzen hält er auf Grund preußischer Pflichterfüllung und Gesetzestreue für berechtigt. Die Mächte dieser reichen weiter als die Verdienste des Prinzen. Die Auffassung des Kurfürsten über die Wichtigkeit der Gesetze lautet folgenderweise:
Nach ihm ist die unbedingte Anerkennung des blinden Gehorsams eine sehr wichtige Voraussetzung bei allen Offizieren. Er lehnt subjektives, gefühlsbestimmtes Handeln ab. Seine Vorstellungen über Macht und Machtverhältnissen gehen im Stück schief, und am Ende steht er da als Held im Namen allein. Dieses ist ein typisch romantisches Merkmal: die Kritik an der Ausschließlichkeit von Verstand, Ordnung und Gefühllosigkeit. Kleists Ansichten kommen hier klar zum Ausdruck, indem er behauptet, dass man nicht nur durch das Gesetz regieren kann, wie der Kurfürst es will. In diesem Sinne übt Kleist massive Kritik an der Aufklärung und ihren Idealen.
Des Kurfürsten Hof ist eine Art Großfamilie. Die Frauen sind beim Kriegszug dabei, keiner entzieht sich. Nähe, Nestwärme und Heimeligkeit bestimmen in bedeutendem Maße ihr Leben. Zur unmittelbaren Zeitatmosphäre gibt es aber keinen Bezug. Kleist schildert keine ärmlichen Zustände, keine verinnerlichte Freudlosigkeit, kein Gezerre hinter den Kulissen. Keine der Figuren hat Furcht vor einem offenen Wort. Alles ist klar und offen, fast paradiesisch und direkt. In diesem Preußen zaubert der Fürst noch persönlich und lässt keine Schriftsätze produzieren.
Homburg und Friedrich Wilhelm stehen miteinander in enger Beziehung. Homburgs gefühlsbestimmtes Bild vom Kurfürsten verändert sich aber im Laufe der Handlung. Er hat den Kurfürsten für einen warm empfindenden väterlichen Freund gehalten. Homburg empfindet ein Gefühl des sicheren Vertrauens für ihn. Später verändert sich seine Meinung in negativer Richtung: er entdeckt in Friedrich den kalt rechnenden Vertreter der Staatsraison. Auch das Gefühl des Vertrauens wird Schritt für Schritt zerstört. Er äußert sich folgend:
Mit Hohn geißelt der Prinz die antikische Erhabenheit des Fürsten. Er stellt diesem Sittenideal das deutsche Denken gegenüber, das nach seiner Auffassung menschlicher sei:
Für Homburg ist der Erfolg der Maßstab, im Gegensatz dazu steht für den Kurfürsten das Gesetz über allem. Die beiden Auffassungen prallen hart aufeinander. Der Kurfürst vertritt die Absolutheit des Gesetzes. Der Prinz bildet den Widerpart zur absolutistischen Herrschaftswelt des Kurfürsten. Er hat kein Verständnis für dessen Gesichtspunkte. Das beweist der Vergleich mit dem Dey von Algier und mit Sardanapel:
Die Entwicklung Homburgs tendiert in positive Richtung. Am Anfang der Geschichte wird er uns als ein willkürlicher Jüngling dargestellt. Am Ende ist aus ihm ein reifer Mann geworden. Er unterstellt sich der Gemeinschaft, und das tut er aus freiem Willen. Er ist zu einem gehorsamen General erzogen worden. "Er unterwirft dem Brandenburger die Welt."(11) Er ist zu Verantwortungsbewusstsein gereift.
Diese Veränderung bewirkte die Folgerichtigkeit des Kurfürsten. Er ist die Person, die den Prinzen aus der Welt der Willkürlichkeit in ein Moralsystem überführt, in dem Gehorsamkeit, Gemeinschaftsorientiertheit und Verantwortungsbewusstsein dominieren. Er formt Homburg nach seinem eigenen Bild. In diesem Sinne können wir ihn als seelischen und moralischen Erzieher des Prinzen betrachten. Wie in der Staatsführung verhält er sich auch in der Erziehung konsequent. Die Idealität und Größe des Kurfürsten bestehen darin, dass er fähig ist, sich selbst zu entwickeln und auch die Entwicklung anderer zu leiten.
Der Kurfürst reißt Homburg aus seiner Ichbezogenheit dadurch heraus, dass er ihn dazu zwingt, über sich selbst mit den Augen eines anderen zu urteilen. Homburg erkennt, dass der Kurfürst dem Gesetz gemäß handelt. Er versteht seine Schuld aus freier Einsicht. Schließlich findet der Prinz den richtigen Weg in die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft wird hier durch den Staat vertreten. Jetzt ist für ihn die Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft schon eine selbstverständliche Voraussetzung. "Ich will das heilige Gesetz des Kriegs, / Das ich verletzt' im Angesicht des Heers, / Durch einen freien Tod verherrlichen!"(12)
Da der Prinz zu Verantwortungsbewusstsein gereift ist, kann ihn der Kurfürst begnadigen. Er hat den Zusammenbruch seiner Würde, also den Tod überwunden. Er steht in der Gewissheit der Unsterblichkeit:
Das nationalistische Sieggeschrei am Ende des Werkes "In Staub mit allen Feinden Brandenburgs"(14) reißt den Prinzen zu neuen Taten im Dienste seines Fürsten mit.
Innerhalb dieses Dramas fällt scheinbar nur ein mattes Licht auf die dargestellten Frauengestalten. In Prinz von Homburg gibt es zwei bedeutende Frauengestalten: die Kurfürstin und Natalie - von den beiden wird hier nur die Prinzessin ins Auge gefasst. Natalie ist eine lebensvolle, schöne Gestalt. Ihre Funktion besteht darin, den krankhaften Zustand des Prinzen noch zu steigern. Für Homburg ist sie nur eins von drei Wunschdingen, auch ein Ziel der Ehre. "Die Liebe ist für Kleist [...] die erste und heiligste Beziehung des Ich zum Du, die Lebensatem ist für die Individuen, wie das Gemeinschaftsgefühl der Sauerstoff ist für ein Volk."(15) Natalie liebt aus reinem Gefühl, sie trägt die Liebe viel stärker und reiner in sich als der Prinz. Sie sieht der Endlichkeit ihrer Existenz mit Ruhe entgegen. Über die Begegnung mit dem Tod spricht sie aber nur im Sinne der gesellschaftlichen Konventionen.
Ihre Berufung liegt in der Liebe. Die wesentlichen Züge Natalies sind Reinheit, Zartheit und ein lebenstiefer Sinn. Für sie ist eine tiefempfundene Keuschheit charakteristisch. In diesem Punkt ist sie den weiblichen Nationalsymbolen ähnlich, deren wesentlichen Charakterzug eben die Keuschheit bildet.(16) Denken wir beispielsweise an Königin Luise von Preußen, die zum Symbol für keusche Weiblichkeit wurde. Sie war die Ehefrau König Friedrich Wilhelms II. und nahm aktiv an politischen Bemühungen teil, die Preußens schwere Last lindern sollten. Während der Freiheitskriege wurde die Königin zu einem Symbol für Preußens Wiederauferstehung.
Im Geschehen ist sie keine wirkliche Heldin. "Abseits steht sie im Schatten, nur ganz selten fällt ein Lichtstrahl auf ihre Gestalt. Aber wenn Natalie vom Licht übergossen auf uns schaut, dann ahnen wir den Glanz von Kleists Seele, der aus ihren Augen leuchtet."(17) Sie ist in diesem Sinne als ein Ideal der Sehnsucht des Autors zu betrachten: "Sie ist in jeder Beziehung ein Geschöpf der Kleistschen Liebe."(18)
Ähnlich wie die Träume des Prinzen wird hier auch die Natur instrumentalisiert: wir sehen am Anfang den Prinzen unter einem Baum sitzen. Die Geschichte dieses zentralen Sinnbildes führt zurück ins Jahr 1800. Es war für Kleist eine Epoche des Glaubens an ein Glück, das durch Tugend und Vernunft erreichbar ist. In einem Brief an seine Braut liest man: "Ein Frühlingssonnenstrahl reift die Orangenblüte, aber ein Jahrhundert die Eiche. [...] und das Gute bedarf Zeit, es zu bilden. Das Schnellgebildete stirbt schnell dahin. Zwei Frühlingstage - und die Orangenblüte ist verwelkt, aber die Eiche durchlebt ein Jahrtausend."(19)
Die Eiche ist der heilige Baum der Deutschen. Für Kleist ist sie etwas Zeitbeständiges, Würdevolles, Ansehnliches. Gleich am Anfang sitzt der Prinz also unter dem heiligen Baum. Er wurde somit zum Teil dieses Bildes, er geht in der Gesamtansicht auf und wird damit eins. Man hat das Gefühl, als wäre auch er mit den Eigenschaften bekleidet, die die Eiche und der Kranz haben. Nach den ersten Zeilen des ersten Auftrittes hat der Leser die folgende Assoziation: ein Prinz unter der Eiche, mit Kranz in der Hand muss würdevoll, ansehnlich, weise und ruhmreich sein. Hebbel meint, dass "diese Tragödie wohl mit einer deutschen Eiche verglichen werden darf, an welcher jeder Zweig üppig grünt und deren Gipfel am Himmel näher ist, als der Erde."(20)
Die Kritik des Autors
In seinem letzten Drama stellt Kleist das Bild einer Gesellschaft dar, das er sich erträumt hat. Zur Darstellung benutzt er ein historisches Beispiel. Vom historischen Stoff weicht er aber in mehreren Punkten ab, er schafft somit eine Legende und unterstützt "die nationale Mission dieses Fürsten."(21) Homburg und der Kurfürst sind nicht vom h storischen Geschehen bestimmt. Somit wird das Drama zu einem Gleichnis. Er stellt ein Gegenbild zum real existierenden Preußen, "eine historische Utopie"(22) dar.
Der Konflikt entstand innerhalb der herrschenden Schicht. Kleist verteidigt das Individuum gegen die Gesellschaft und übt auf diese Weise auch Kritik am Staat und am bestehenden Gesellschaftssystem. Er versucht, die Beziehung zwischen Individuum und Staat positiv zu lösen. Er übt auch an der Seelenlosigkeit der preußischen Armee offen Kritik. Er versucht, die Mängel der Gesellschaftsordnung durch die Erziehung der Individuen zu beseitigen. "Kleist verherrlicht damit [...] den besonders reaktionären preußischen Staat und einen besonders negativen Herrscher, den Stammvater des preußischen Militarismus."(23)
Wer vertritt dann schließlich die triumphierenden Ideen? Der Gefühlsmensch, also der Prinz kann es keineswegs sein. Auch der Kurfürst gewinnt mit seiner Auffassung nicht. Die Vertreterin der ewigen Liebe, Natalie, ist auch keine Siegerin. Wer dann? Siegfried Streller beantwortet die Frage folgenderweise: "Letztlich triumphieren mit dem Beschluß der Begnadigung Kottwitzens Ideen. Es triumphieren damit auch die Ideen der Reformer, die ein Heer anstreben, in dem nicht blind gehorcht, sondern selbstverantwortlich gehandelt wird."(24)
Schließlich muss noch eine Frage beantwortet werden: Welche Schlussfolgerungen zieht Kleist aus den Scheitern der verschiedenen Ideen und Auffassungen? Er kam zu der Erkenntnis, dass das französische Heer dem preußischen weit überlegen ist. Der Grund dafür besteht darin, dass der Einzelne im preußischen Heer über weniger Entschlusskraft und über kleineren Unternehmungsgeist verfügt als im französischen Heer. Daraus folgt, dass die Überlegenheit der Franzosen "auf einem glühenden Patriotismus beruht. Allerdings ist er davon nicht überzeugt, daß dieser Patriotismus aus materiellen Voraussetzungen erwächst."(25)
Als Zusammenfassung der behandelten Themen ist festzustellen, dass der gewählte historische Stoff als eine gute Grundlage für einen Nationalmythos betrachtet werden kann. Der Prinz von Homburg ist am Anfang der Geschichte noch kein Nationalheld, aber am Ende steht er im Dienste der Gemeinschaft. Der Kurfürst trägt zwar oberflächlich die Züge eines idealen Herrschers, jedoch gewinnt er am Ende mit seiner Auffassung nicht. Im Grunde genommen geht es also im Drama um die Entwicklung dieser beiden Figuren. Der idealisierte Hof ist nur als Instrument wichtig. In Natalie sind die Charakterzüge der weiblichen Nationalsymbole zu entdecken, sie passt völlig ins Bild eines Nationalmythos. Die Eiche ist auch ein Teil dieses Bildes, sie ist ein wichtiges Nationalsymbol. Sie wird auch instrumentalisiert, aber sie trägt auch dazu bei, die Stimmung zu verstärken.
Kurz und gut: in diesem Drama sind zwar Elemente des Nationalmythos zu entdecken, aber im Ganzen genommen geht es hier keinesfalls um einen Nationalmythos. Ich würde das Werk vielmehr als ein "Entwicklungsdrama" bezeichnen.
© Szabina Bolha (Universität Debrecen/Ungarn)
ANMERKUNGEN
(1) Loch, Rudolf: Heinrich von Kleist, Leipzig: Reclam, 1978, S. 226.
(2) Sembdner, Helmut: Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1977, S. 544.
(3) Loch: Heinrich von Kleist, S. 226.
(4) Gönner, Gerhard: Von "zerspaltenen Herzen" und der "gebrechlichen Einrichtung der Welt". Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist, Stuttgart: Metzler, 1989, S. 168.
(5) Kleist, Heinrich von: Werke und Briefe, Berlin - Weimar: Aufbau, 1977, S. 442.
(6) Sembdner: Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 545.
(7) Kleist: Werke und Briefe, S. 449.
(8) a.a.O. 452.
(9) ebd.
(10) a.a.O. 457.
(11) Gönner: Von "zerspaltenen Herzen" und der "gebrechlichen Einrichtung der Welt", S. 168.
(12) Kleist: Werke und Briefe, S. 492.
(13) a.a.O. 496.
(14) a.a.O. 497.
(15) Semela, Kurt: Frauen-Erleben und Frauen-Gestalten bei Heinrich von Kleist, Berlin: P. Brandel, 1934, S. 74.
(16) Vgl. zum Thema Mosse, George L.: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen. Reinbek: Rowohlt, 1987.
(17) a.a.O. 75.
(18) ebd.
(19) Kleist: Werke und Briefe, Bd. 2., S. 564.
(20) Sembdner: Heinrich von Kleists Nachruhm, S. 536.
(21) Streller, Siegfried: Das dramatische Werk Heinrich von Kleists, Berlin: Rütten & Loening,1966, S. 223.
(22) a.a.O. 221.
(23) a.a.O. 222.
(24) a.a.O. 224.
(25) ebd.
LITERATURVERZEICHNIS
1. Gönner, Gerhard: Von "zerspaltenen Herzen" und der "gebrechlichen Einrichtung der Welt". Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist, Stuttgart: Metzler, 1989
2. Kleist, Heinrich von: Werke und Briefe, Berlin - Weimar: Aufbau, 1977
3. Loch, Rudolf: Heinrich von Kleist, Leipzig: Reclam, 1978
4. Sembdner, Helmut: Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1977
5. Semela, Kurt: Frauen-Erleben und Frauen-Gestalten bei Heinrich von Kleist, Berlin: P. Brandel, 1934
6. Streller, Siegfried: Das dramatische Werk Heinrich von Kleists, Berlin: Rütten & Loening, 1966
5.13. Geschlecht und Nation: Narrative kollektiver Identitäten
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For quotation purposes:
Szabina Bolha (Universität Debrecen/Ungarn): Der deutsche
Nationalmythos in Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von
Homburg. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_13/bolha15.htm