Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2005
 

5.15. 'Literatur' als Schnittstelle der Kulturen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Reinhard Krüger (Universität Stuttgart)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Beiderseits der Grenzen- Nichtlineare Strukturen in Natur und Kultur

Anja Ohmer (Universität Tübingen)

 

1. Das Verbindende der Kulturen.

"Die Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild kann der Literatur nicht erspart bleiben und ein gut Teil ihrer heutigen Gegenstandslosigkeit geht darauf zurück, daß sie sich dabei verspätet hat." (Robert Musil)

In diesem Beitrag geht es um das Verbindende der geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Kultur. Dazu wird es notwendig sein, daß ich ihnen zunächst die historisch begründete Trennung der beiden Kulturen deutlich mache. In der Naturwissenschaft besitzt heute genau wie in der Literaturwissenschaft kein globales Modell mehr alleinige Gültigkeit. Wissen ist stattdessen nur noch lokal verfügbar, Modelle sind miteinander vernetzt. Folglich gewinnen die Wechselwirkungen, die Relationen zwischen den Einzelmodellen, an Bedeutung. Diese Modelle sind nicht statisch, sondern sind als flexibler Prozeß von letztlich dynamischen "Gedanken" nicht mehr wie eine Maschine, auf ein einziges Modell der Funktion oder Zusammensetzung zu reduzieren, sondern verlangen wechselnde Kombinationen derartiger Verständnismuster.

In diesem Vortrag will ich Ihnen - notwendigerweise fragmentarisch bleibend - diese Schnittstellen zwischen den getrennten Kulturen aufzeigen. Ich will ihnen zeigen, daß gerade auch die Literatur zu den nichtlinearen Systemen zählt. Dieser methodische Ansatz setzt eine konzeptionell entscheidende Veränderung der Erforschung von Literatur in Gang. Durch die Perspektive der Chaos- und Komplexitätstheorie werden einerseits die scheinbar widersprüchlichen theoretischen Beschreibungsmodelle von Literatur vereinigt, und zum anderen wird transhistorisch die dynamische Interaktion von Ordnung und Chaos, Regularität und Irregularität in komplexen literarischen Werken charakterisiert. Ich werde Ihnen zunächst wissenschaftshistorisch kurz die wesentlichen Merkmale der linearen und der nichtlinearen Wissenschaft darlegen. Dann will ich Ihnen aufzeigen, inwieweit die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme als Metatheorie für die Literaturwissenschaft brauchbar ist. Anschließend wird Literatur als ein nichtlineares System charakterisiert und die Vorteile einer solchen Sichtweise begründet.

 

2. Ein Schisma: zwei Kulturen

C.P. Snow diagnostizierte 1959 die Trennung in zwei Kulturen und seine Frage ist heute ebenso aktuell wie ungelöst. Unser Wissen nimmt zwar exponentiell zu, aber es zerfällt in zahllose Einzeldisziplinen, mit jeweils eigenen Methoden, eigenen Sprachen und einer jeweils eigenen Weltsicht. Der Graben zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften scheint unüberwindbar. Erkenntnisgewinn lässt sich meines Erachtens nur noch erreichen, wenn die Abgrenzung der Disziplinen überwunden wird, die Trennung zwischen der geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Kultur aufgehoben wird, und beide Kulturen in einen fruchtbaren Dialog kommen. Es verwundert insofern nicht, wenn sich Appelle zu mehr interdisziplinärer Zusammenarbeit und methodischer Selbstreflexivität häufen - auch wenn sie selten erhört werden. Die Relevanz Das Verbindende der Kulturen zu suchen, Dialoge und vielleicht auch Synthesen zwischen voneinander strikt getrennten Disziplinen herzustellen, ist unumstritten.

Ich sehe in den nichtlinearen Wissenschaften, d.h. in dem auf Integration bedachten Ansatz der Komplexitätsforschung insgesamt, eine Chance zu einer interdisziplinären Überwindung der Wissenschaftsgrenzen.

 

3. Paradigmenwechsel und wissenschaftliche Revolution

Das 20. Jahrhundert wird häufig aus wissenschaftlicher Sicht als Jahrhundert der Physik angesehen (Relativitätstheorie, Quantentheorie, Astrophysik). In den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich mit der rasanten Entwicklung der nichtlinearen Wissenschaften ein weiterer Umbruch - viele sprechen von einem Paradigmenwechsel - vollzogen, der eine ausgeprägte Nachhaltigkeit in Wissenschaft und Technik ebenso wie in der Gesellschaft erwarten lässt.

Die nichtlinearen Wissenschaften werden auch als nichtlineare Dynamik, Wissenschaft komplexer Systeme oder etwas eingegrenzt als Chaostheorie bezeichnet.

Nichtlineare Strukturen werden seit einigen Jahren erfolgreich in Mathematik und Physik untersucht. Und man entdeckt sie in immer weiteren Bereichen: Die heutigen Anwendungen reichen von Chemie, Biologie, Medizin, über Gehirnforschung, Psychologie und Soziologie bis zur Ökonomie, Wissenschaftstechnik und Innovationsforschung. Das gemeinsame methodische Thema ist die fachübergreifende Modellierung komplexer Systeme, deren Dynamik durch Nichtlinearität bestimmt ist und die ein enorm komplexes Verhalten aus Simplizität generieren. Die Konsequenzen der nichtlinearen Wissenschaften für unsere Denkgewohnheiten und die Paradigmen und Konzepte der Wissenschaft insgesamt sind beträchtlich. Möglicherweise vollziehen wir damit den dritten Erkenntnissprung nach der Relativitätstheorie und der Quantenphysik.

Um diesen Entwicklungssprung deutlich zu machen, gehen wir ein wenig in die Wissenschaftsgeschichte. Ich erläutere zunächst das typische lineare Herangehen der Naturwissenschaft. Sie sehen so, wie außerordentlich stark diese Herangehensweise noch immer in unseren Köpfen verwurzelt ist.

 

4. Lineare Wissenschaften - Harmonie und Vorhersagbarkeit

Die mathematische Fundierung der linearen Betrachtungsweise verdanken wir Isaac Newton und seiner Himmelsmechanik, die eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Theorie nichtlinearer dynamischer Modelle spielt. Für ihn ist die starke Kausalität der Inbegriff der exakten Wissenschaften. Wie an dem von ihm entdeckten Gravitationsgesetz unmittelbar einzusehen, bedeutet starke Kausalität, dass nur starke Änderungen ursächlicher Kräfte starke Änderungen in den Wirkungen generieren können. Das gleichmäßig schwingende Pendel steht für regelmäßige und vorhersagbare Bewegungen.

Die Naturwissenschaften sind bis weit ins letzte Jahrhundert hinein durch das lineare Herangehen geprägt. Es basiert neben der starken Kausalität auf dem Superpositionsprinzip. Eine weitreichende Konsequenz aus starker Kausalität und Superpositionsprinzip ist, dass das zukünftige Systemverhalten langfristig aus einer speziellen Anfangssituation berechenbar, also präzise vorhersagbar ist. Die Zustandsentwicklung der Systeme ist stark determiniert, es gibt keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es gibt also keine "Geschichte". Die wissenschaftliche Arbeitsweise ist reduktionistisch: Systeme werden in verschiedenen Teilstrukturen zerlegt und einzeln analysiert. Es ist eine statische Welt des Seins ohne Wandel.

Laplace (1749-1827) hat diese Prognosemöglichkeit einprägsam formuliert:

Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennt, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen?

(P. S. Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, Hrsg. R. von Mises, Leipzig 1932, S. 1)

Die linearen Wissenschaften sind Grundlage der technischen Revolutionen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Dennoch wurden schon frühzeitig Probleme deutlich, insbesondere bei der linearen Beschreibung von Naturphänomenen. So ist auch im 21. Jahrhundert trotz hoher Computerkapazität die Vorhersagbarkeit des Wetters noch immer auf wenige Tage beschränkt. Auch die Sicherheitsrisiken komplizierter technischer Anlagen, wie Kernkraftwerke oder Flugzeuge lassen sich nur unzureichend abschätzen. Als Ausweg wurden die stark-kausalen Gesetze um Zufall und Wahrscheinlichkeit erweitert. Ganz im Sinne von Albert Einsteins Ansicht: "Gott würfelt nicht", wird Zufall dabei als Subsummierung noch nicht erkannter Gesetze benutzt und die probabilistische Beschreibung als Krücke anerkannt. Doch auch diese Erweiterung hilft nur sehr bedingt und es stellt sich die Frage, ob hier naturbedingte Grenzen der Wissenschaft sichtbar werden.

Deutlich geworden sind aber lediglich die Grenzen der linearen Wissenschaften. Es wurde der Weg geöffnet für die neuen Paradigmen und Konzepte der Wissenschaft des Nichtlinearen. Das Doppelpendel zeigt uns, daß es unmöglich ist, die Trajektorien dreier sich gegenseitig beeinflussender Körper so zu beschreiben, daß immer eine deterministische Aussage über das künftige Verhalten möglich ist. Dies führt uns in den Bereich der nichtlinearen Wissenschaft.

 

5. Nichtlineare Systeme

Die Wissenschaft des Nichtlinearen befasst sich mit komplexen, scheinbar regellosen Phänomenen. Das Prinzip der starken Kausalität ist hier zumindest partiell außer Kraft gesetzt. Mit dieser Öffnung begibt sich die Naturwissenschaft auf neue Wege.

Die Theorie nichtlinearer dynamischer Modelle beschäftigt sich mit der Erforschung der Phänomene, die ein Ungleichgewicht herbeiführen

Nichtlineare Systeme können folgendermaßen charakterisiert werden:

 

6. Die Theorie komplexer nichtlinearer Systeme in der Literaturwissenschaft

Ist die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme als Metatheorie geeignet, kann sie ein übergeordneter Referenzrahmen sein?

Ich meine ja, weil sie einen inter- bzw. transdisziplinären Anspruch hat, der sich nicht nur auf den engeren Bereich der Naturwissenschaft , sondern auch dezidiert an die Geisteswissenschaft richtet, die eine sehr lange Tradition im Umgang mit komplexen und unberechenbaren Strukturen haben. Diese Tradition gibt es so nicht in der Naturwissenschaft. Die bedeutsame Leistung der Theorie nichtlinearer dynamischer Modelle liegt darin, daß sie Gegensätze aufhebt und diese zusammenführt. Sie bündelt Dimensionen, die zuvor strikt separiert betrachtet wurden und eröffnet so neben einer neuen, veränderten Sichtweise auf die Natur und ihre Phänomene auch einen neuen Anspruch die gemeinsame Welt zu erfassen. Sie zeigt uns, daß ein natürliches System als Folge von einfachen, nichtlinearen Koppelungen zwischen nur wenigen seiner Teile bereits ein komplexes Verhalten erzeugen kann. Damit kann eine auf reduzierende und isolierte Betrachtung der Teile gerichtete Untersuchungsmethode zur Erklärung des Gesamtsystems nicht mehr ausreichen (gegen Reduktionismus). Der einschränkende Charakter aller wissenschaftlicher Modelle, die zur Erklärung der Welt erdacht wurden, wird hierbei offengelegt. Die Wirklichkeit folgt eben nicht nur einem Modell, sondern mehreren, sie ist konflikthaft und dramatisch strukturiert, sie zeigt Einheitlichkeit nur in spezifischen Dimensionen, nicht im Ganzen. So aktualisiert sie zugleich die Grundsatzfrage nach der Existenz einer Erkenntnislimitierung, die Kant bereits in der "Kritik der reinen Vernunft" 1781 zu den Kernproblemen der Philosophie gerechnet hat.

Aber es ist nicht nur die Tatsache, daß viele Phänomene trotz der Möglichkeit einer strengen und umfassenden deterministischen Modellierung grundsätzlich langfristig nicht prognostizierbar sind. Es ist mehr noch die Tatsache, daß diese nicht prognostizierbaren Systeme, die gegen unsere am mechanistischen Weltbild geschulten Intuition laufen, offenkundig die Regel und nicht die Ausnahme sind. Die Komplexität manifestiert sich an den fragilen Rändern zwischen Ordnung und Chaos. Hier ist eine Überstruktur existent, die wie ein Palindrom lesbar ist: Die Transformation zwischen Ordnung und Chaos ist in beide Richtungen möglich. Die Zufälligkeit von Chaos und Ordnung ist folglich untrennbar miteinander verwoben, das Einfache umfaßt das Komplexe, die Komplexität wieder das Einfache, schließlich können sich Gesetzmäßigkeiten und Chaos auf immer kleineren Skalen abwechseln, also fraktale Eigenschaften besitzen.

Die integrative Leistung der Theorie nichtlinearer Dynamik ist aber nicht auf das Zusammendenken des vormaligen Gegensatzpaares von Chaos und Ordnung beschränkt. Es wird auch methodisch neu formuliert. Der angenommene Widerspruch zwischen der deterministischen Methode und dem unbestimmbaren Chaos wird so überwunden. Gesetzmäßigkeit und Irregularität stehen sich in chaostheoretischer Perspektive nicht gegenüber, sondern existieren in einem. Die Theorie nichtlinearer Systeme fordert darüber hinaus die Integration von Wissen verschiedener Disziplinen. Es geht als also wirklich darum Grenzen zu überschreiten. Und zwar Grenzen, die zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftseinrichtungen bestehen und auch Grenzen, die die Anteilsdisziplinen einer Einzelwissenschaft voneinander trennen. Dieses dichte Zusammenrücken der Wissenschaft spricht für die Eignung der Chaos- und Komplexitätstheorie und verwandter Ansätze (Selbstorganisation etc.) als Metatheorie, deren Erklärungsrelevanz nicht vor Disziplingrenzen haltmacht.

Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass eine Theorie nichtlinearer komplexer Systeme, die sich aus physikalischen Fragestellungen heraus entwickelt hat, sich ohne weiteres ohne Modifikationen auf andere Wissenschaftsdisziplinen übertragen lässt. Um das ganz deutlich zu betonen: Es geht keinesfalls um eine ‚eins zu eins‘ Übertragung, es geht darum, die "Wahlverwandschaften" zwischen der Wissenschaft der Nichtlinearität und einer pluralistischen oder den Pluralismus vertretenden Literatur aufzuzeigen und zu konkretisieren. Mein zentrales Anliegen ist es folglich, die engen Verbindungen zwischen den beiden oberflächlich unterschiedlichen Gebieten unter der Kennzeichnung der strukturellen und motivlichen Analogie sichtbar zu machen.

 

7. Die Literatur als komplexes nichtlineares System

Inwiefern ist die Literatur ein System im oben beschriebenen Sinn? Was für ein System ist die Literatur, welche Grenzen hat sie, wie ist ihre Strukturierung? Welche Merkmale hat sie, welche Elemente weist sie, wie ist ihre Zusammensetzung und Funktionsweise?

Das Literatursystem ist ein Feld vielfältiger Beziehungen, an dem Texte von Autoren, Literaturwissenschaftlern und Kritikern teilhaben. Es ist komplex in unserem Sinn, weil es alle Eigenschaften eines nichtlinearen dynamischen Systems vereinigt:

Ich gehe also von der Behauptung aus, daß Literatur ein dynamisches, nichtlineares dissipatives chaotisch- komplexes und adaptives System ist, sowohl auf der Ebene der Struktur, als auch auf der Ebene des Einzelwerks.

Zweifellos ist Literatur ist ein offenes System. Es nimmt Eindrücke von der Außenwelt auf und verarbeitet sie. Wenn Literatur ein offenes System ist, dann ist Literatur auch ein System fern vom Gleichgewicht; wird also durch einen stationären Zustand, bzw. ein Fließgleichgewicht charakterisiert. Es muß Schwankungen bzw. Instabilitäten, Selbstorganisation und steigende Ordnung aufweisen, es muß ein dissipatives System sein.

Es ist allgemein nachvollziehbar, daß die Literatur sich nicht in einem Gleichgewichtszustand befindet. Ein Gleichgewichtszustand ist ein Zustand, in dem keine Prozesse mehr ablaufen, sondern jedes Element des Systems die gleichen Parameter aufweist, in dem die Verteilung der Elemente homogen ist und keine Konzentrationen auftreten; d.h. ein Zustand, in dem die Entropie ihren höchsten Stand erreicht hat. Gegen eine solche Auffassung von Literatur spricht die Beobachtung, daß hier dynamische Prozesse ablaufen, es eine komplexe Interaktion zwischen Autor- Text- Rezipient, auch zwischen Texten selbst und zwischen Texten und der Kultur als übergeordnetes System gibt. Zudem gibt es verschiedene Ausprägungen von Parametern, die Verteilung der Elemente ist nicht homogen. Es treten Klumpungen und Konzentrationen auf, wie beispielsweise neu auftretende Strömungen (Expressionismus) oder neu auftretende Gattungen (Hyperroman). In einem bestimmten Bereich kann die Konzentration der Parameter steigen, wenn beispielsweise eine Gruppe Texte produziert, die nicht in das bestehende System hineinpassen oder zumindest bis dahin nicht vorhanden waren (Vormärz, konkrete Poesie). Dadurch tritt eine Instabilität auf. Das System kommt in eine Schwankung/Fluktuation, was ein konstitutives Merkmal von offenen Systemen ist. Das Anwachsen dieser Schwankung kann solche Ausmaße erreichen, dass es das Gesamtsystem verändert und zu einem neuen Zustand hin entwickelt. Beispiele hierfür könnten Revolutionen und ihre Auswirkung auf Literatur sein oder ein Wechsel wissenschaftlicher Paradigmen wie in der Aufklärung. Vorstellbar wären auch neue Technologien, wie der Buchdruck oder der Einsatz von Computern. Es gibt Phasen, die relativ stabil sind und dann wieder Phasen, in denen die Geschwindigkeit steigt und beispielsweise viele literarische Texte erscheinen.

Erst wenn die Schwankungen durch innere oder äußere Einflüsse so kulminieren, daß sie in einen kritischen Bereich kommen und nicht mehr ausgeglichen werden können, ändert sich das System. Die Richtung der Veränderung ist dabei nicht absehbar. Wird beispielsweise von seiten der Politik ein Postulat an das literarische System herangetragen, zum Beispiel das Literatur so und nicht anders beschaffen sein darf (Nationalsozialismus, Mäzenatentum, Zensur), wird dies zunächst eine Schwankung/Fluktuation auslösen die dann, wenn es an einen kritischen Punkt kommt, zu einer Systemveränderung führen kann. Die Entwicklung des Systems ist dabei immer rückgekoppelt.

Das literarische System hat aber auch eine Eigendynamik, es ist nicht restlos mit den Gesetzen der Umwelt charakterisiert. Der innere Mechanismus des literarischen Systems ist die Selbstorganisation. Es ist die Art, wie das System sich selbst erhält, seine Elemente und Bestandteile organisiert, um funktionieren zu können. Denkbar sind hier die Gesetzmäßigkeiten, die die Dynamik bestimmter literarischer Gattungen regulieren. Als interessantes Phänomen wäre in diesem Zusammenhang die Trivialliteratur zu nennen. Sie wird in fast jeder Kultur an die Peripherie verdrängt, immer wieder bekämpft, entsteht aber immer wieder neu. Offensichtlich basiert sie auf Regeln, die das System selbst erzeugt und die auch durch normative Poetiken nicht wegzudiskutieren sind. Ein weiteres Beispiel ist die innere Gliederung der Literatur. Sie legt Gattungen fest. Obwohl das Gattungsraster, die Differenzierungen und Kriterien immer wechseln, hat die Literatur die Eigenschaft sich in Subsysteme zu gliedern. Diese Gliederungen werden nicht nur vom Beobachter vorgenommen, sondern existieren in der Tat; z.B. in der Tatsache, daß Literatur verschiedene Ausprägungen hat, die sich vom Aufbau her unterscheiden, also eine Variationsbreite vorhanden ist.

Zusammenfassend betrachtet ist Literatur insgesamt ein System aus vielen einzelnen Individuen, Texten und Organisationen, deren Aktionen prädestiniert sind für die Modellierung eines komplexen nichtlinearen Systems.

 

8. Was unterscheidet die neue Sicht von der alten?

 

9. Ausblick und Diskussion

Vielleicht können die interessantesten Fragen überhaupt vielleicht irgendwann mit der Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme beantwortet werden:

Woher kommt intellektueller Fortschritt? Entsteht Kreativität aus einem chaotischen Prozess, der selektiv kleine Fluktuationen durch inhärente Selbstverstärkung aufschaukelt und so als Gedanken zum Ausdruck kommen lässt? Könnten diese Gedanken auch Ausdruck des Willens sein? Wäre das so, kann man dann mit chaotisch- komplexen Prozessen jenen Mechanismus erklären, der einen freien Willen in einer Welt zuläßt? Ist die Zukunft prinzipiell vorhersagbar?

© Anja Ohmer (Universität Tübingen)


5.15. 'Literatur' als Schnittstelle der Kulturen

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For quotation purposes:
Anja Ohmer (Universität Tübingen): Beiderseits der Grenzen- Nichtlineare Strukturen in Natur und Kultur. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_15/ohmer15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 19.9.2005      INST